INTERVIEW

Ulrich Seidl über PARADIES: LIEBE

 

«Dass wir dort hinfahren, um das zu suchen, was wir in unserer Gesellschaft nicht finden können, dass wir, die Reichen, das mit Geld kaufen können, während die anderen, die Armen, diese Suche nutzen, um damit selbst Geld zu verdienen, beschreibt auch insgesamt unsere Welt. » Ulrich Seidl über den ersten Teil seiner Paradies-Trilogie.


Ich habe nun nur den ersten Teil der PARADIES-Trilogie gesehen. Ich nehme nun mal an, dass es in allen drei Teilen um diesseitige und jenseitige Vorstellungen vom Paradies als dem Ort eines erstrebenswerten und gleichzeitig unerreichbaren Glücks geht. Geht es Ihnen in Ihren filmischen Beobachtungen diesmal weniger um einen Ist-Zustand der Lebensverhältnisse, als viel mehr um die Suche, um die Sehnsüchte, ums (vergebliche) Streben der Figuren?
Ulrich Seidl: Es geht um beides. Es geht mir immer um eine Bestandsaufnahme, um einen Spiegel der Lebensverhältnisse und der Gesellschaft, weil das eine das andere bedingt. Weil das eine so ist, sucht man das andere. Es ist der Ist-Zustand, der das unerfüllte Verlangen begründet. Teresa geht ja deshalb nach Kenia, weil sie etwas sucht, was sie in ihrem Lebensumfeld nicht finden kann. Die PARADIES-Trilogie enthält drei Sehnsuchtsgeschichten von drei Menschen, die auf dem Weg und der Suche nach ihren unerfüllten Träumen sind, die wiederum etwas mit unserer Gesellschaft zu tun haben. Teresa ist in einem Alter, wo sie es auch aufgrund ihres Alters schwer hat, einen Mann zu finden, weil sie einfach nicht mehr den gängigen Schönheitsvorstellungen entspricht. Der Film erzählt auch über den Marktwert der Schönheitsnormen, die uns täglich vorgebetet werden.

Ergab es sich im Laufe der Stoffentwicklung, dass mehrere Frauenfiguren ins Zentrum der Erzählung rückten?
Ulrich Seidl: Ein Drehbuch hat ja immer eine unbestimmbare Genesis. Ich beginne irgendwann damit – im Fall von PARADIES tat ich es gemeinsam mit Veronika Franz, meiner Frau –, ohne genau zu wissen, wohin dieses Schreiben führen wird. Es stand nicht das Vorhaben im Vordergrund, einen Film über drei Frauen zu schreiben, im Vordergrund, sondern ein Drehbuch zum Thema Tourismus, für das ich viele Episodengeschichten hatte. Darunter befand sich eine Geschichte, in der eine Frau nach Kenia fährt.

Mit welcher Bedeutung kann man heute noch christlich belegte Begriffe von Glaube, Liebe, Hoffnung assoziieren?
Ulrich Seidl: Sie spielen eine große Rolle in unserem Leben, ob man nun religiös ist oder nicht. Die Liebe sucht jeder. Die Hoffnung haben auch alle. Den Glauben müsste man differenzierter betrachten und den Begriff etwas weiter sehen. Denn glauben will auch jeder an etwas, auch wenn sich kaum jemand für gläubig hält. Die Wandermuttergottes ist eine Missionsgeschichte, wo es um den kirchlichen Glauben an Gott geht. Das junge Mädchen steht für die Hoffnung. Auch wenn sie mit ihrer ersten Liebe enttäuscht wird, ist da noch viel Zeit für Hoffnung.

Inwiefern hat sich bei der Recherche zum Tourismus Kenia als besonders geeignete Destination für die Geschichte erwiesen, haben Sie auch andere „Urlaubsparadiese“ unter die Lupe genommen?
Ulrich Seidl: Im Drehbuch ist das bei mir nie so genau definiert, natürlich hab ich mir verschiedene Orte angeschaut, auch in der Karibik recherchiert, wo es Ähnliches zu finden gibt. Ich hab mich schließlich für Afrika entschieden, weil ich dort mehr Spannung fand und auch den Eindruck hatte, dass es durch den Kolonialismus und auch durch die Nähe zu Europa mehr mit uns zu tun hat.

Was hat sie schon für die frühere Arbeit am Phänomen Tourismus interessiert?
Ulrich Seidl: Der Massentourismus ist ein weltweites, enormes Geschäft Die meisten von uns machen mit. ich glaube, es ist jener Wirtschaftszweig, der seit Jahrzehnten die größten Gewinne einfährt. Wenn man sich das in Afrika ansieht, ist man entsetzt, aber natürlich hat dieser Kontinent auch andere Seiten. Es ist dort ebenso schön wie schrecklich. Dass wir dort hinfahren, um das zu suchen, was wir in unserer Gesellschaft nicht finden können, dass wir, die Reichen, das mit Geld kaufen können, während die anderen, die Armen, diese Suche nutzen, um damit selbst Geld zu verdienen, beschreibt auch insgesamt unsere Welt, die Ausbeuterei beschreibt das Gefälle zwischen Reich und Arm, zwischen westlicher Gesellschaft und Afrika.

Der Film führt hierarchische, von der Kaufkraft bestimmte Verhältnisse vor Augen und macht gleichzeitig auch deutlich, dass Menschen hier einander zum gegenseitigen Objekt der Begierde werden – sexuell, emotional oder monetär – und es letztendlich auf keiner Seite Gewinner gibt.
Ulrich Seidl: Kurzfristig vielleicht. Beziehungen zwischen den europäischen Frauen und den Beachboys dort gibt es ja in allen Ausformungen: Es gibt schnelle, kurze Beziehungen, über Jahre andauernde Beziehungen, es gibt Frauen, die versuchen, ihren Liebhaber nach Europa zu bekommen, was immer scheitert. Es gibt Frauen, die sich in Kenia mit ihrem Liebhaber ein Haus bauen. Irgendwann scheitert alles. Die Hoffnung ist da, aber es ist meist ein kurzes Glück. Die Schwarzen wandern oft von einer Frau zur anderen. Sie gewinnen immer etwas und verlieren es dann auch wieder. Die Mentalität der Kenianer und der Afrikaner ist eine ganz andere als unsere. Die Beachboys, die ich kennengelernt habe, können sich beispielsweise Geld nicht gut einteilen. Sie leben für den Tag. Wenn sie Geld bekommen, dann wird es gemeinsam mit anderen ausgegeben und am übernächsten Tag ist nichts mehr davon da. Es ist eine andere Form, das Leben zu begreifen. Man muss auch sehen, dass sich dort in der Region, wo die Touristen sind, diese Situation besonders zuspitzt. Dort zieht es auch alle hin, die dort Geld machen wollen. Dort sind nicht nur die einheimischen Küstenbewohner, sondern alle, die mit dem Sexgeschäft Geld machen wollen.

Heißt das, dass das Geschäft mit dem Sex dort nicht nur in einer klassischen Form von Prostitution abläuft, sondern beziehungsmäßige Formen annimmt.
Ulrich Seidl: Bei den Beachboys geht es gewissermaßen ein bisschen charmanter zu. Sie geben Frauen das Gefühl, sich zu verlieben, sie sind zuvorkommend, zärtlich. Ältere Frauen bekommen dabei etwas, was sie bei uns schon schwer bekommen. Die Männer kümmern sich wirklich um sie, Alter und Aussehen spielen tatsächlich keine Rolle. Welche Frau möchte das nicht erleben? Und dafür sind die Frauen im Gegenzug gerne bereit, ihnen Geld zu geben, da die Beachboys in sehr armen Verhältnissen leben. Sukzessive müssen sie immer mehr zahlen und auch die Familien erhalten.


Wie darf man sich produktionstechnisch die Arbeit in Kenia vorstellen? Haben sprachliche, kulturelle Unterschiede die Anforderungen an die Rollen und somit ans Casting noch einmal schwieriger als sonst gestaltet?
Ulrich Seidl: Man lernt die Beachboys natürlich sehr leicht kennen. Man braucht nur auf den Strand zu gehen und wird umringt. So, wie es der Film zeigt, so ist es tatsächlich. Als Weißer ist man jemand, mit dem man Geschäfte machen muss und aus dem man Geld herausholen muss, dem kann man sich als Weißer nicht entziehen. Ein Filmdreh ist natürlich nochmal etwas anderes. Auch ein Casting kann man dort etwa nur machen, wenn man den Leuten etwas dafür zahlt. Das würde man bei uns nie machen. Es war dann tatsächlich schwierig, Darsteller zu finden, die alle Anforderungen abdecken konnten: die vor der Kamera authentisch waren, denen man vertrauen konnte, die bereit waren, eine Liebesbeziehung vor der Kamera darzustellen ? da gibt es nicht nur Schamgrenzen, die Beachboys stehen auch unter einem kollektiven Druck. Als Filmteam waren wir am Strand nicht gerne gesehen, weil man auch dort schlechte Erfahrungen mit Negativ-Berichten gemacht hat. Ein weiteres Problem für uns war die Unbeständigkeit. Wir haben Männer gecastet und wenn wir einige Monate später wiederkamen, dann war der Betreffende nicht mehr da, weil er woanders hingezogen war. Das Leben in Kenia ist unbeständiger als hier. Ich habe zwei Jahre vor dem Dreh mit dem Casting begonnen und diejenigen, die dann feststanden, kannte ich schon einige Zeit lang, dennoch konnte ich ihnen nicht hundertprozentig vertrauen. Sie sind immer der Meinung, zu kurz zu kommen. Das ist durch die Ausbeutung der Kolonialzeit in ihnen verankert. Sie vertreten den Standpunkt, dass wir Europäer an ihrer schlechten Lage schuld sind und das wieder gut zu machen haben, indem wir ordentlich zahlen. Der Standpunkt ist prinzipiell nicht unrichtig, aber wenn man selber davon in seinem Arbeiten beeinträchtigt wird, kann es die Sache schwierig machen.

Wieviel Reisetätigkeit hat dieses Projekt von ihnen gefordert?
Ulrich Seidl: Wenn ich alles zusammen zähle, war ich gewiss ein halbes Jahr in Kenia. Den Dreh selbst haben wir in einem Block durchgezogen, was für mich eher unüblich ist. Das waren an die dreißig Drehtage. Die Bedingungen erschweren sich natürlich aufgrund der Hitze, die sehr belastend ist und sämtliche Prozesse verlangsamt. Es geht pro Drehtag einfach weniger weiter und man braucht viel mehr Menschen dazu als hier.

Wie ließen sich Authentizität, Spontaneität und der Witz in den Dialogen trotz des englisch-deutschen Sprachgemischs erhalten?
Ulrich Seidl: Wir haben das geübt. Margarethe Thiesel ist eine großartige Besetzung, sie ist unheimlich begabt im Improvisieren, Peter, ihr Hauptliebhaber im Film, konnte viel besser Deutsch als er es im Film spricht, er musste sein Deutsch sozusagen herabstufen, da es sonst unglaubhaft gewesen wäre. Faktum ist, dass die Beachboys meist mehrere Sprachen sprechen, sonst würde ihr Geschäft ja nicht funktionieren.

Wenn es Erfahrungen mit Negativ-Berichterstattung gegeben hat, haben die Hotels das Filmteam wohl auch nicht mit offenen Armen begrüßt?
Ulrich Seidl: Ich hab mein Lieblingsmotiv bekommen. Ich habe am Küstenstreifen zwischen Mombasa und Malindi mehr als gründlich recherchiert. Die Anlage, wo wir gedreht haben, war meine erste Wahl und da hat auch das Glück ein bisschen mitgespielt, weil das Unternehmen kurz vor der Insolvenz stand und wir als zahlende Gäste willkommen waren. Als ich mit der Arbeit am Projekt begonnen habe, herrschten beinahe bürgerkriegsähnliche Zustände in Kenia und es ist in der Folge auch zu einem Einbruch im Tourismus-Geschäft gekommen.

Der Film hat viele sehr komische Momente, wo Sie einmal mehr den Zuschauer ins Zweifeln bringen, was wohl auf fiktive Regieeinfälle oder was schlicht auf Ihre Beobachtungen während der Recherche zurückgeht.
Ulrich Seidl: Ich würde sagen, man sieht dort sehr viel, was man lieber nicht glauben will. Natürlich sind auch unsere eigenen Ideen eingeflossen, aber wir haben auch sehr viel recherchiert, was Animateure in Hotelklubs so alles machen. Ich bin sehr froh, dass es den Humor und das Skurrile gibt, sodass der Film sowohl für das Komische als auch das Traurige offen ist. Betroffenheit wird es auf alle Fälle auslösen. Irgendwann muss man darüber auch lachen können.

In Hundstage gab es mehrere Protagonisten, in Import/Export zwei und nun gibt es in der PARADIES-Trilogie für jeden Teil nur jeweils eine Protagonistin. Es kommt zu einer fortschreitenden Reduzierung und Verdichtung und sie haben sich diesmal nicht für ein verschränktes, sondern ein lineares Erzählen entschieden. Warum?
Ulrich Seidl: Das ist neu und ich gestehe, es hat mich auch gereizt. Jeder der drei Filme ist nur mehr eine Geschichte. Ich hatte im Vorfeld, bei der Disposition des Drehs schon die Frage im Kopf - Was ist, wenn sich die drei Geschichten nicht zu einem Film zusammenfügen? Ich weiß im Vorhinein nicht, wie der Film ausschauen wird. Daher nahm ich mir vor, jede Geschichte so zu drehen, dass sie ihre Vollständigkeit hat, damit man sie alleine erzählen kann. Wir haben zunächst einen Film geschnitten, der sieben Stunden gedauert hat und haben verschiedenste Arten von Vernetzungen ausprobiert. Wir sahen, dass aus drei Geschichten einen Film zu machen, zwar machbar, aber eine große und problematische Aufgabe war, weil ich feststellte, dass die Geschichten anstatt einander zu stärken, einander schwächten. Trotz der starken Intensität der einzelnen Szenen geht durch den Wechsel von einer Geschichte zur anderen die Aufmerksamkeit verloren. Ich habe auch versucht, nur die Mutter-Tochter-Geschichte miteinander zu vernetzen und die Wandermuttergottes als einzelnen Film zu erzählen usw. Eines Tages war uns aber klar, dass mit dem Material, das wir zur Verfügung hatten, das beste künstlerische Ergebnis mit drei einzelnen Filmen zu erzielen war.

Zur Zeit bereiten Sie mit Böse Buben - Fiese Männer auch eine Arbeit fürs Theater vor, die bei den Wiener Festwochen gezeigt wird. Eine Art Gegen- oder Parallelgeschichte zu den drei Frauengeschichten?
Ulrich Seidl: Es ist in der Tat Stück über Männer, für das ich mit sieben Darstellern arbeite – fünf davon sind professionelle Schauspieler. Grundlage sind die Kurzgeschichten von David Foster Wallace Kurze Interviews mit fiesen Männern. Ich sehe sie als Geständnisse, die diese Männer über ihre inneren Befindlichkeiten, Ängste, Abgründe immer im Bezug zu Frauen, Sexualität und ihren Erlebnissen abliefern. Auf der Bühne entwickeln sich natürlich noch andere Ebenen, die gerade in der aktuellen Probenarbeit entstehen.

 

Interview: Karin Schiefer

Mai 2012