INTERVIEW

Sebastian Meise & Thomas Reider im Gespräch über OUTING

 

«Sven leidet darunter, dass die Menschen ihn nicht kennen und nichts von ihm wissen. Durch sein Geheimnis bleibt er immer ein Außenseiter, ganz gleich, wen er kennenlernt.» Ein Gespräch mit Sebastian Meise (Regie) und Thomas Reider (Drehbuch).


Seid ihr in der Recherche für Stillleben so tief ins Thema hineingeraten, dass sich die Überlegung auftat, daraus ein weiteres Projekt zu entwickeln und einen Dokumentarfilm zu machen. Wie habt ihr euren Protagonisten gefunden?
Sebastian Meise: Ausgangspunkt unserer Recherche war ein Therapieprojekt der Berliner Charité für Menschen mit pädophiler Neigung, die diese nicht ausleben wollen. Das Projekt gab zunächst den Anstoß zu unserem Spielfilm Stillleben, in dem es ebenfalls um einen Menschen geht, der ein Leben lang diese Obsession zu kontrollieren versucht. Über weiterführende Recherchen konnten wir pädophile Männer kontaktieren, von denen drei sofort bereit waren, mit uns über ihr Problem zu sprechen. Und relativ bald haben wir dann begonnen, die Recherchegespräche mitzufilmen.

Thomas Reider: Nach jedem Dreh kamen wir mit noch mehr Fragen zurück, weil wir noch nie zuvor Gelegenheit hatten, mit einem Betroffenen über dieses Thema so intensiv zu sprechen. So fuhren wir immer wieder zu unserem Protagonisten Sven, bis sich unsere Zusammenarbeit schließlich über vier Jahre erstreckte. Diese rechercheartige Vorgangsweise wollten wir im fertigen Film als eine Bestandsaufnahme nachvollziehen. Daher ist auch viel von Svens eigenem Material dabei – seine Camcorder-Aufnahmen, seine Kurzgeschichten und Video-Tagebücher.


War unter den drei Personen, die sich zurückgemeldet hatten, gleich klar, dass Sven der Protagonist für den Film sein würde?
Thomas Reider: Ja, weil er der eloquenteste und offenste Gesprächspartner war, weil er über viele Jahre das Thema reflektiert hat und ein großes Bedürfnis zeigte, sich mitzuteilen.

Hattet ihr Zweifel, ob man diese Bilder für eine Öffentlichkeit freigeben kann?
Sebastian Meise: Diesbezüglich haben wir natürlich über all die Jahre hinweg sehr viele Diskussionen geführt. Untereinander und auch mit Sven. Das Verunsichernde ist, dass wir uns die Inhalte seiner Fantasien gar nicht vorstellen wollen. Das macht es auch so schwer damit umzugehen und darin liegt vielleicht auch der Grund warum wir Menschen wie Sven stigmatisieren. Dabei sollte man aber versuchen, sich der Problematik im ersten Schritt wertneutral zu nähern, um einen persönlichen, oder auch gesellschaftlichen Diskurs überhaupt zu erlauben.

Thomas Reider: Für uns war Svens Intention ausschlaggebend, dass er in der Öffentlichkeit als der Mensch wahrgenommen werden möchte, der er ist. Es war für uns auch nicht immer leicht, mit diesen Inhalten umzugehen: wie die Realitäten während seiner letzten zehn Lebensjahre ausgesehen haben, welche Alternativ- und Kompensationshandlungen möglich sind, welch obsessiven Charakter das annehmen kann. Dennoch überlagerte die Wichtigkeit der Informationen unsere Zweifel.
 

War es schwierig, eine filmische Dramaturgie, um diesen Protagonisten aufzubauen?
Sebastian Meise: Als die Entscheidung gefallen war, dass wir einen Film mit Sven machen würden, war klar, dass wir keinen Themenfilm machen wollten, sondern ein Portrait. Wir wollten das Thema über Sven und seine persönliche Geschichte transportieren. In dieser ist die Chronologie der Ereignisse ein entscheidender Bestandteil und somit hat sein Leben im Grunde die Dramaturgie vorgegeben.

Thomas Reider: Wir wollten den Alltag eines solchen Menschen zeigen, wie schwierig der auch sein mag. Wir haben auch festgestellt, dass die Expertenmeinung mit ganz unterschiedlichen Standpunkten vertreten ist. Es gibt verschiedene Auffassungen darüber, ob es sich um eine Krankheit handelt oder nicht. Relativ neu ist das Bemühen, die Neigung oder die Störung von der Tat zu unterscheiden. Erst seit kurzem existieren Statistiken, wonach es in Deutschland 250.000 Menschen mit einer pädophilen Neigung gibt, die diese jedoch nicht ausleben wollen. Aus diesen Umständen rührt die Idee, den Fokus auf einen Menschen zu richten, der so verwirrend ist wie die Thematik selbst.


Wie hat sich euer Verhältnis zum Protagonisten zwischen Sympathie und zwangsläufiger Ablehnung eines Teiles seiner Persönlichkeit entwickelt?
Sebastian Meise: Uns ist es auf einer privaten, menschlichen Ebene gut mit ihm gegangen.  Für die Tatsache, dass sich seine Neigung in der Jugend aus nicht erklärbaren Gründen entwickelt hat, kann man ihn natürlich nicht verurteilen. Außerdem ist Sven aufrichtig bemüht und sucht die Außenperspektive, um nicht Gefahr zu laufen sich seine Probleme schön zu reden.
Trotzdem ertappten wir uns immer wieder dabei, ihn zu hinterfragen, seine Aussagen zu analysieren. Das hat uns verunsichert, denn da ist ein Mensch bereit, sein ganzes Innenleben offenzulegen, ist fast beinahe zwanghaft ehrlich und im Gegenzug bleiben wir dennoch skeptisch. An solchen Punkten merkt man natürlich, dass man teilweise an die eigenen Grenzen stößt.

Thomas Reider: Wir waren lange irritiert, dass Sven so reflektiert über sich und seine Fantasien sprechen kann. Uns ist aber im Lauf der Zeit klar geworden, dass er sich seit 15 Jahren permanent damit auseinandersetzt und deshalb sehr prägnant formulieren kann. Was er uns erzählte, waren keine einmaligen Gedanken, sondern Gedanken, die ihn ständig verfolgen.
Er hat uns nie eine Frage verweigert, hat uns in alles Einblick gewährt und hat auch immer den Dialog gesucht. Svens ureigenes Konfrontationsbedürfnis erleichterte diesbezüglich den Umgang mit jenen Facetten seiner Persönlichkeit.
 

Die Homevideo-Sequenz zu Beginn ist eine Art Prolog, wo auch die Frage nach dem Schutz und Recht auf das eigene Bild angesprochen wird. Oft sind Leute seines Umfeldes auf Fotos oder Filmsequenzen anonymisiert, was gleichzeitig auch Svens Isolation im Umfeld noch mehr betont.
Thomas Reider: Sven leidet darunter, dass die Menschen ihn nicht kennen und nichts von ihm wissen. Durch sein Geheimnis bleibt er immer ein Außenseiter, ganz gleich, wen er kennenlernt. Dadurch, dass er über einen so wichtigen innerlichen Konflikt nicht sprechen kann, kann er eine grundsätzliche, zwischenmenschliche Kommunikationsebene nicht erreichen. Insofern hängt seine Isolation auch mit seiner Neigung zusammen. In unserem Film versucht Sven etwas auszudrücken, von dem er meinte, er müsse es ein Leben lang ausklammern.

Sebastian Meise: Seine permanente Konfrontation mit sich und seinen Bedürfnissen ist die lebenslange Aufgabe, der er sich stellen muss, um Menschen zu finden, die bereit sind, da mitzugehen, ihn anzuerkennen und sich mit ihm auch auseinander zu setzen. Seien es Therapeuten, Familie oder Freunde.


Wie fühlt man sich als Interviewer, der Fragen stellt, die in die Intimsphäre dringen. Habt ihr euch einen Rahmen abgesteckt im Sinne von – Was kann ich, darf ich, muss ich fragen. Was will ich nicht fragen?
Thomas Reider: Wir wollten Sven mit einem neugierigen und unbefangenen Interesse begegnen, wollten wissen, wie der sein Alltag aussieht, weil Sexualität ein großer Teil jedes Menschen ist, den man nicht einfach ablegen kann. Es war oft schwierig, weil es intime Fragen waren, die aber zum Verständnis der Problematik wichtig sind. Sven gehört zu den Menschen, die die Realität grundsätzlich anders aufgeladen haben. Da wird der Fragenkatalog natürlich recht umfangreich.

Sebastian Meise: Hier war die gegenseitige Annäherung sehr vorsichtig. Sven hat uns aber klar gemacht, dass es kein Thema gibt, über das man nicht sprechen kann. Wir haben ihm immer wieder Schnittversionen gezeigt und viel mit ihm Rücksprache gehalten. Er hat dann oft auch selbst etwas vorgeschlagen, wo er das Gefühl hatte, man müsste noch etwas hinzufügen. Es gab Höhen und Tiefen in der Qualität der Gespräche, denn dieser intensive Austausch über die Thematik war auch für ihn neu.

 

Welchen Raum nimmt diese Problematik de facto in seinem Leben ein? Ist er ständig mit diesen Gedanken beschäftigt oder ist es nur ein Aspekt neben einem anderen erfüllten Leben?
Thomas Reider: Sven hat immer wieder betont er sei mehr als nur diese Neigung. Wir haben ihn auch bei allen möglichen Dingen begleitet – in der Bibliothek, auf der Uni, bei seinen Hobbys – merkten aber, dass seine Neigung omnipräsent in seinem Leben ist und einen Großteil seiner Aufmerksamkeit einnimmt.

Sebastian Meise: Er ist ein kreativer und vielseitiger Menschen. Dennoch hat es drei Jahre gedauert, bis er uns ein verfallenes Haus gezeigt hat, das er gerne renovieren würde. Sven hat also natürlich auch andere Wünsche im Leben – eine normale Beziehung, ein Haus – so, wie wir, die wir an unseren Leben bauen und arbeiten. Trotzdem: sein Geheimnis begleitet ihn überall hin.

 
Habt ihr euch Sven gegenüber als Regulativ gefühlt?
Sebastian Meise: Als Filmemacher nicht, als Privatpersonen teilweise schon – und das lässt sich in diesem Fall manchmal schwer auseinander halten. Man lernt ja einen Menschen nicht nur in seiner Rolle als Filmemacher kennen und lichtet ihn in einem Portrait ab. Es kommt da auch eine persönliche Ebene zum Tragen und da war es schon so, dass er unsere Meinung eingefordert hat, die wir als Filmemacher versucht haben, draußen zu halten.

Thomas Reider: Bis zu einem Punkt, an dem er die Schwierigkeit, die wir im Umgang mit seinem Verhalten bekamen, auch spürte und dann zu seinen Eltern fahren wollte, um ihnen das Filmmaterial zu zeigen. Sven sucht Meinungen aus dem Umfeld und spürt aus diesen Reaktionen die Notwendigkeit sich Dinge genauer anzuschauen, seine Entwicklung immer wieder zu überprüfen und nach Lösungen zu suchen. So gesehen ist vielleicht jeder Mensch, der bereit ist, sich mit seinem Gegenüber auseinander zu setzen, in der einen oder anderen Art ein Regulativ.

 

Hat er im Kamera-Off von euch auch Feedback bekommen?
Sebastian Meise: Ja. Deshalb haben wir uns schließlich entschieden, die Skype-Gespräche mit in den Film aufzunehmen, weil sie auch unsere Überforderung zeigen. Sven erzählt plötzlich Dinge, die wir zumindest im Moment, als gefährlich oder fragwürdig eingestuft haben. Man bewegt sich da grundsätzlich im Dokumentarfilm auf einem sehr schmalen Weg. Wo ist man neutral draußen? Wo legt man die Kamera weg und soll oder darf eingreifen?

 

Ist Sven beim Psychiater, der im Film mit ihm spricht, in therapeutischer Behandlung?
Sebastian Meise: Nein, den Psychiater haben wir in Wien kennen gelernt. Wir haben lange keinen Therapeuten gefunden, der vor der Kamera über die Thematik sprechen wollte, weil die Wissenschaft zu keinem Konsens kommt und sich vielleicht viele in ihrer Position als leicht kritisierbar empfinden.

Thomas Reider: Wir wollten einen Experten einbinden, um nicht nur auf uns zurückgeworfen zu sein. Sven selbst hat über die Jahre Therapeuten gesucht und wurde auch immer wieder abgelehnt, weil die Thematik zu komplex und heikel war.
 

Hat das Gespräch mit dem Psychiater Sven beängstigt?
Thomas Reider: Es hat ihm zu denken gegeben. Kurze Zeit später hat er sich in einer Beziehung versucht, vielleicht auch um jemanden zu haben, der ihm zu seiner Person und allem was dazu gehört, Feedback gibt, weil ihm bewusst geworden ist, dass man alleine viel stärker Gefahr laufen könnte, seine Vorsätze über Bord zu werfen.

Sebastian Meise: Jeder Mensch sucht natürlich nach Liebe und Anerkennung. Sven aber weiß, dass er mit dem, was er ist und fühlt, nicht geliebt werden kann und das schafft das große Dilemma, in dem er steckt. In jenem Moment mit dem Psychiater kommt das sehr stark heraus. Sven lebt mit dem Bewusstsein, dass er die Zuneigung, die er gerne hätte, nie wird erleben können.

 
Wie lange habt ihr mit Sven für dieses Projekt gearbeitet?
Thomas Reider: Vier Jahre in regelmäßigen Abständen. Er war 26, als wir begannen, heute ist er 30. Wir erkannten, dass es wichtig war, ihn über einen längeren Zeitraum zu begleiten. Die im Film dargestellten zyklischen Bewegungen von Höhen und Tiefen wird es in seinem Leben wahrscheinlich immer wieder geben. Wir haben die Dreharbeiten beendet, als wir glaubten, jene Komponenten, die sein Dasein und die Beschaffenheit der Thematik wechselwirkend bestimmten, umrissen zu haben.
 

Erstaunlich für mich als Zuschauer war seine Art, mit einer lächelnden Distanziertheit diesen offensichtlich enormen Leidensdruck zu artikulieren.
Sebastian Meise: Ich denke, viele kennen das, dass wir oftmals versuchen Scham und Unsicherheit bezüglich intimer und persönlicher Inhalte durch die Irritation des Lächeln zu überdecken. Außerdem stellen Svens Gedanken ein Bedürfnis und eine starke Sehnsucht dar, die, in die Tat umgesetzt, allerdings moralisch verurteilenswert sind. Dessen ist sich Sven bewusst und diese schwierige Diskrepanz spiegelt sich in seinem Ausdruck wider.

Thomas Reider: Man muss auch bedenken, dass er sich durch seine Pubertät hindurch über viele Jahre für seine Gedanken, sein Wesen gehasst hat und das schließlich in einem Suizidversuch geendet hat. Seine Akzeptanz dieser Gedanken war also eine zwangsläufige Schlussfolgerung, die für uns irritierend scheint. Er aber hat keine andere Wahl, als mit seinen Gedanken zu leben und zu wissen, was er machen kann – sie nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Was sind die Alternativen? Die Gedanken verschwinden nicht, selbst wenn er sich kastrieren ließe. Das ist eine dunkle Aussicht, unter deren Berücksichtigung aber vielleicht gesellschaftlich Hilfestellung geleistet werden könnte. In welcher Form auch immer.
 

Hat sich Outing als Titel sofort angeboten oder gab es auch andere Ideen?
Sebastian Meise: Wir hatten sehr lange gar keinen Titel. Irgendwann ist es Outing geworden, weil es auch Svens Outing ist. Wie sich die Dramaturgie an ihm entlang entwickelt hat, hat sich auch der Titel aus Sven heraus ergeben.
 

Der Titel Outing transportiert aber auch eine Meta-Ebene: der Film wirft die Frage nach inhaltlichen Grenzen des Outings auf. Mit welchen Dingen bleibt man vielleicht doch aus Selbstschutz lieber hinterm Berg. Hier bewegt sich der Film an einer grundsätzlichen Grenze?
Thomas Reider: Wir veröffentlichen keine Stills von unserem Protagonisten, er ist nicht am Plakat, wir haben seinen Namen geändert, sein Wohnort ist nicht bekannt. Trotzdem vollzieht er in seinem öffentlichen Auftritt natürlich eine riskante Aufklärungsarbeit, der er sich allerdings voll bewusst ist. Einerseits ist ihm also diese Mündigkeit nicht abzusprechen und andererseits ist es bezeichnend für die Thematik, dass er diesen Film unter anderem machen will, um mit seinen Eltern überhaupt erst über ein Problem kommunizieren zu können.
 

Mit welchem Gefühl geht ihr in die Veröffentlichung dieser Bilder?
Sebastian Meise: Grundsätzlich glaube ich, man kann unsere Gesellschaft mit allem konfrontieren, was aus ihr hervorgeht. Entscheidend kann vielleicht die Art und Weise dieser Konfrontation sein. Doch letztlich ist Sven Teil unserer Gesellschaft und wir sollten ihm helfen seine Fantasien nicht in die Tat umzusetzen. Nicht nur seinetwegen, sondern vor allem der Kinder wegen. Wenn wir ihn verurteilen, für das was er ist, erzielen wir genau das Gegenteil. Sein Ausschluss aus der Gesellschaft würde bedeuten, dass er tatsächlich nichts mehr zu verlieren hat. Das ist, meines Erachtens, viel gefährlicher.
 

Warum ist der Film im Anfangs- wie im Schlussbild mit Bildern aus Svens Kindheit eingerahmt?
Thomas Reider: Das Home-Video vom Anfang unseres Films hat uns sofort gepackt. Es hat eine dramatische Kraft, ein glückliches Kind zu sehen, von dem man nicht ahnt, wie es sich entwickeln wird. Und als Zuschauer unseres Films weiß man, es wird ein pädophiler Sohn. Das Bild am Ende zeigt für uns die Blase, in der dieser Mensch lebt, von der man hofft, dass sie nie platzen wird.

Sebastian Meise: Bei Sven spürt man die ständige Sehnsucht nach Vergangenheit und Ordnung. Mich machen diese Kindheitsaufnahmen auch traurig. Man schaut sie an und denkt: Sven hätte sich auch woanders hin entwickeln können. Einerseits macht mich sein Schicksal also betroffen, andererseits führt es diese Unbeschwertheit der Kindheit vor Augen und die Unfassbarkeit, dass Kindern sexuelle Gewalt angetan wird.

Thomas Reider: Sven sagt ja auch in einem Gespräch, dass er sich als Kind sehr schön findet. Und man muss sich bewusst sein, dass er diesen Jungen, den wir als nettes Kind wahrnehmen, als sexuelles, begehrenswertes Wesen sieht. Diese Bilder tragen viel von einer ausweglosen Fatalität und einer seltsamen Zweischneidigkeit. Gepaart mit seiner heutigen Sicht schließt sich da in diesen Kindheitsbildern ein Kreis.

Interview: Karin Schiefer
März 2012

 

 

Welchen Raum nimmt diese Problematik de facto in seinem Leben ein? Ist er ständig mit diesen Gedanken beschäftigt oder ist es nur ein Aspekt neben einem anderen erfüllten Leben?
Thomas Reider: Sven hat immer wieder betont er sei mehr als nur diese Neigung. Wir haben ihn auch bei allen möglichen Dingen begleitet – in der Bibliothek, auf der Uni, bei seinen Hobbys – merkten aber, dass seine Neigung omnipräsent in seinem Leben ist und einen Großteil seiner Aufmerksamkeit einnimmt.

Sebastian Meise: Er ist ein kreativer und vielseitiger Menschen. Dennoch hat es drei Jahre gedauert, bis er uns ein verfallenes Haus gezeigt hat, das er gerne renovieren würde. Sven hat also natürlich auch andere Wünsche im Leben – eine normale Beziehung, ein Haus – so, wie wir, die wir an unseren Leben bauen und arbeiten. Trotzdem: sein Geheimnis begleitet ihn überall hin.

 

Habt ihr euch Sven gegenüber als Regulativ gefühlt?
Sebastian Meise: Als Filmemacher nicht, als Privatpersonen teilweise schon – und das lässt sich in diesem Fall manchmal schwer auseinander halten. Man lernt ja einen Menschen nicht nur in seiner Rolle als Filmemacher kennen und lichtet ihn in einem Portrait ab. Es kommt da auch eine persönliche Ebene zum Tragen und da war es schon so, dass er unsere Meinung eingefordert hat, die wir als Filmemacher versucht haben, draußen zu halten.

Thomas Reider: Bis zu einem Punkt, an dem er die Schwierigkeit, die wir im Umgang mit seinem Verhalten bekamen, auch spürte und dann zu seinen Eltern fahren wollte, um ihnen das Filmmaterial zu zeigen. Sven sucht Meinungen aus dem Umfeld und spürt aus diesen Reaktionen die Notwendigkeit sich Dinge genauer anzuschauen, seine Entwicklung immer wieder zu überprüfen und nach Lösungen zu suchen. So gesehen ist vielleicht jeder Mensch, der bereit ist, sich mit seinem Gegenüber auseinander zu setzen, in der einen oder anderen Art ein Regulativ.

 

Hat er im Kamera-Off von euch auch Feedback bekommen?
Sebastian Meise: Ja. Deshalb haben wir uns schließlich entschieden, die Skype-Gespräche mit in den Film aufzunehmen, weil sie auch unsere Überforderung zeigen. Sven erzählt plötzlich Dinge, die wir zumindest im Moment, als gefährlich oder fragwürdig eingestuft haben. Man bewegt sich da grundsätzlich im Dokumentarfilm auf einem sehr schmalen Weg. Wo ist man neutral draußen? Wo legt man die Kamera weg und soll oder darf eingreifen?

 

Ist Sven beim Psychiater, der im Film mit ihm spricht, in therapeutischer Behandlung?
Sebastian Meise: Nein, den Psychiater haben wir in Wien kennen gelernt. Wir haben lange keinen Therapeuten gefunden, der vor der Kamera über die Thematik sprechen wollte, weil die Wissenschaft zu keinem Konsens kommt und sich vielleicht viele in ihrer Position als leicht kritisierbar empfinden.

Thomas Reider: Wir wollten einen Experten einbinden, um nicht nur auf uns zurückgeworfen zu sein. Sven selbst hat über die Jahre Therapeuten gesucht und wurde auch immer wieder abgelehnt, weil die Thematik zu komplex und heikel war.

Hat das Gespräch mit dem Psychiater Sven beängstigt?
Thomas Reider: Es hat ihm zu denken gegeben. Kurze Zeit später hat er sich in einer Beziehung versucht, vielleicht auch um jemanden zu haben, der ihm zu seiner Person und allem was dazu gehört, Feedback gibt, weil ihm bewusst geworden ist, dass man alleine viel stärker Gefahr laufen könnte, seine Vorsätze über Bord zu werfen.

Sebastian Meise: Jeder Mensch sucht natürlich nach Liebe und Anerkennung. Sven aber weiß, dass er mit dem, was er ist und fühlt, nicht geliebt werden kann und das schafft das große Dilemma, in dem er steckt. In jenem Moment mit dem Psychiater kommt das sehr stark heraus. Sven lebt mit dem Bewusstsein, dass er die Zuneigung, die er gerne hätte, nie wird erleben können.

 

Wie lange habt ihr mit Sven für dieses Projekt gearbeitet?
Thomas Reider: Vier Jahre in regelmäßigen Abständen. Er war 26, als wir begannen, heute ist er 30. Wir erkannten, dass es wichtig war, ihn über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
Die im Film dargestellten zyklischen Bewegungen von Höhen und Tiefen wird es in seinem Leben wahrscheinlich immer wieder geben. Wir haben die Dreharbeiten beendet, als wir glaubten, jene Komponenten, die sein Dasein und die Beschaffenheit der Thematik wechselwirkend bestimmten, umrissen zu haben.

Erstaunlich für mich als Zuschauer war seine Art, mit einer lächelnden Distanziertheit diesen offensichtlich enormen Leidensdruck zu artikulieren.
Sebastian Meise: Ich denke, viele kennen das, dass wir oftmals versuchen Scham und Unsicherheit bezüglich intimer und persönlicher Inhalte durch die Irritation des Lächeln zu überdecken. Außerdem stellen Svens Gedanken ein Bedürfnis und eine starke Sehnsucht dar, die, in die Tat umgesetzt, allerdings moralisch verurteilenswert sind. Dessen ist sich Sven bewusst und diese schwierige Diskrepanz spiegelt sich in seinem Ausdruck wider.

Thomas Reider: Man muss auch bedenken, dass er sich durch seine Pubertät hindurch über viele Jahre für seine Gedanken, sein Wesen gehasst hat und das schließlich in einem Suizidversuch geendet hat. Seine Akzeptanz dieser Gedanken war also eine zwangsläufige Schlussfolgerung, die für uns irritierend scheint. Er aber hat keine andere Wahl, als mit seinen Gedanken zu leben und zu wissen, was er machen kann – sie nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Was sind die Alternativen? Die Gedanken verschwinden nicht, selbst wenn er sich kastrieren ließe. Das ist eine dunkle Aussicht, unter deren Berücksichtigung aber vielleicht gesellschaftlich Hilfestellung geleistet werden könnte. In welcher Form auch immer.

Hat sich Outing als Titel sofort angeboten oder gab es auch andere Ideen?
Sebastian Meise: Wir hatten sehr lange gar keinen Titel. Irgendwann ist es Outing geworden, weil es auch Svens Outing ist. Wie sich die Dramaturgie an ihm entlang entwickelt hat, hat sich auch der Titel aus Sven heraus ergeben.