Als ich zu recherchieren begann, faszinierte mich der Umstand, wie so junge Leute versuchen, zusammen zu sein wie die Großen und sich ganz instinktiv oder intuitiv in das Spiel begeben, ein Paar zu sein. Sie finden es so aufregend, da plötzlich teilhaben zu können und begeben sich mit einer unheimlichen Ernsthaftigkeit da hinein. Valeska Grisebach über Mein Stern
Mein Stern erzählt von einem Alter, in das es eher schwierig ist, sich wieder hineinzuversetzen. Wie haben Sie Zugang zu den 15-jährigen
gefunden?
VALESKA GRISEBACH: Als ich zu recherchieren begann, faszinierte mich der Umstand, wie so junge Leute versuchen, zusammen zu sein wie die "Großen"
und sich ganz instinktiv oder intuitiv in das Spiel begeben, ein Paar zu sein. Sie finden es so aufregend, da plötzlich teilhaben
zu können und begeben sich mit einer unheimlichen Ernsthaftigkeit da hinein. Am Beginn der Recherche hatte ich das Gefühl
das ist ja gar nicht weit weg. Ich bin da so ganz jugendlich hin und dachte ich bin ja auch irgendwie so und hab plötzlich
gesehen, wie alt die mich wahrnehmen auf den ersten Blick und ich auch selber merkte, da ist ja doch eine ganze Menge Zeit
vergangen. Auf der anderen Seite war diese Zeit dann plötzlich wieder ganz nahe.
Wie sah die Recherche für das Drehbuch aus?
VALESKA GRISEBACH: Ich machte anfangs eine Mischung aus Casting und Recherche mit Jungen und Mädchen, zunächst in ganz Berlin, dann hat sich
das sehr auf meinen Bezirk konzentriert. Nach zwei, drei Monaten hab ich in wenigen Wochen so eine Mischung aus Drehbuch und
Treatment geschrieben, wo sich manche Dinge wieder fanden, die ich erzählt bekommen hatte, manche Dinge, die auch wirklich
mit den beiden Hauptdarstellern zu tun hatten.
Wie gingen Sie beim Casting selbst vor?
VALESKA GRISEBACH: Wir haben ein halbes Jahr dafür auf der Straße Leute angesprochen, auch für die erwachsenen Rollen. Am Anfang gab es so etwas
wie eine Casting-Sucht, da haben wir wie die Verrückten drei, vier Tage die Woche die Leute zum Casting eingeladen. Es war
zunächst so, dass wir gar nicht aufhören konnten. Die Reihenfolge war so: erst war das Interview, wo wir unseren Fragenkatalog
abgefragt haben, bei manchen war das ganz kurz, bei manchen ergaben sich relativ lange Gespräche. Interessant war, dass ein
prinzipielles Bedürfnis vorhanden war, die meisten haben sehr offen über sich gesprochen. Dann gab es eine zweite Runde, wo
wir kleine Situationen ausprobierten, eine Mischung aus Improvisation und sehr konkreter Vorgabe. Dann formierten sich ja
auch schon Gruppen, es gab ja auch wirkliche Schwestern, wirkliche Freunde. Mit denen begannen wir dann immer mehr zu probieren.
Worum ging es in den Interviews?
VALESKA GRISEBACH: Ich fand es gut, sie alle mehr oder weniger dasselbe zu fragen, um einen allgemeinen Nenner herzustellen. Es ging um Alltag,
um Vorstellungen von Glück und Zukunft und um diese Überschriften. Die sind ja in einem Alter, wo Menschen Überschriften für
ihr Leben finden müssen: Was will ich werden, wer will ich sein, wo will ich wohnen. Allein die Berufswahl mit 16 find ich
immer so erschütternd. Gerade mit dem Berufsverständnis, das in Deutschland oder in Europa existiert. Wenn man einmal gesagt
hat, ich werde Tischler, dann muss man ein Leben lang Tischler bleiben. Und es ging auch um Liebe, einfach um Vorstellungen
von der Liebe, ob die Liebe bis jetzt in ihrem Leben diesen Vorstellungen entsprach. Es hat mich verblüfft, wie stark und
felsenfest ihre Ideen davon, wie und was die Liebe sein muss, sind. Sie waren sehr verbunden durch eine kollektive Vorstellung
von Liebe, die sehr stark und unverblümt war.
Junge Leute, die so offensichtlich in Konventionen und "Normalität" drängen, die es eilig haben, es den "Großen" gleich zu
tun und auch resignierte Einstellungen zum Thema Partnerschaft von sich geben, all das klingt ziemlich pessimistisch?
VALESKA GRISEBACH: Pessimistisch könnte ich nicht sagen. Es berührt mich einfach, wie sich in den Sehnsüchten der "Kleinen" schon Dinge abspielen,
die einen ein Leben lang begleiten. Viele haben diese Vorstellung Mutter, Vater, Kind mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer.
Zum Teil denken sie auch unheimlich materialistisch, das fand ich sehr erstaunlich: Freund, Wohnung, Auto und was sich da
alles dranhängt. Mich haben auch ihre Träume sehr bewegt, auch wenn sie manchmal so sind, dass man denkt, wieso wünscht man
sich denn so was. Pessimistisch nein, aber ich glaube, es kann schon ein fast physischer Schock sein, gerade, wenn die Vorstellungen
davon, wie ein Liebespaar sein muss, so stark sind und man das erste Mal erleben muss, dass alles ganz anders kommen kann,
dass Liebe gefährlich ist, dass Liebe weh tun kann, dass Liebe unlogisch ist. Es gibt auch diese Sätze, die sie z.T. aufsagen
"ich will dich nie verlieren" und "für immer" und "nie wieder", all diese Ewigkeitsversprechungen, die auch dazu gehören.
Mit diesem Gefühl sind die ganz schnell konfrontiert, dass man einerseits sagen kann, "ich liebe dich" und im selben Augenblick
etwas macht, das dem widerspricht. Das hat mich auch interessiert, weil sich dahinter etwas sehr Prototypisches verbirgt.
Es gibt im Film sehr lange Kameraeinstellungen, die dem Film etwas Dokumentarisches verleihen.
Ist es ein Spielfilm, der die Geschichte von Nicole und Schöps erzählt oder war es auch Ihre Absicht, die beiden repräsentativ
für ein Lebensgefühl mit 15 oder 16 zu sehen?
VALESKA GRISEBACH: Was mir sehr wichtig ist, ich wollte keinesfalls ein Lebensgefühl "Wie sind Jugendliche im Jahr 2001" vermitteln. Ich fand
diesen Aspekt im Zuge der Recherche zwar spannend, ich denke er schwingt mit, soll aber nicht vordergründig sein. Ich wollte,
dass sich in diesem Film etwas Zeitloses verbirgt. Die Geschichte von Nicole und Schöps heißt in dem Sinn - ein Junge und
ein Mädchen - und damit stehen sie für mich für eine gewisse Zeit, die mit 16 zu tun hat, dann aber auch für etwas, was unabhängig
von diesem Alter ist. Es gibt einen dokumentarischen Einschlag da ich Arbeitsweisen benutzt habe, die mir vorher aus dem Dokumentarfilm
vertraut waren, dokumentarische Situationen sind hier aber spielerisch aufbereitet oder inszeniert. Grundsätzlich ist es aber
für mich ein Spielfilm und eine fiktive Geschichte. In der Rezeption des Films ist es natürlich verführerisch, das Dokumentarische
wahrzunehmen. Ich sehe das auch in den Gesprächen mit dem Publikum, wo es ganz wichtig ist, zu verdeutlichen, dass Nicole
und Christopher, auch wenn die Namen übernommen wurden, dennoch fiktive Figuren sind.
War die Handlung durch das Buch bereits präzis festgelegt oder haben Sie viel mit Ihren Protagonisten erarbeitet?
VALESKA GRISEBACH: Das ist schwierig zu sagen, da es kein Patentrezept gab, was gut funktionierte. Das Buch hab ich immer versteckt. Ich wollte
nie, dass die beiden dieses Buch in die Hände kriegen, weil ich nicht wollte, dass sie anfangen, Text auswendig zu lernen.
Die Information zum Film, die sie von mir bekamen, beruhte auf dem Prinzip der mündlichen Übertragung. Es gab Szenen, die
kannten die schon seit einem halben Jahr. Das waren Szenen, da haben sie Text gelernt, ohne es mitzukriegen. Manchmal war
es so, dass ich ihnen Textpassagen vorgesprochen habe, manchmal war es so, dass sie Sachen improvisierten, die wir transkribierten.
Ich erzählte ihnen das wieder, dann haben sie weiter gemacht und wieder etwas dazu gegeben. So ist das entstanden. Auch im
Drehbuch gab es Szenen, die waren ausgeschrieben, dann gab es wieder Szenen, die waren reine Absichtserklärungen. Manchmal
haben wir z.T. Monate oder Wochen vorher probiert, manchmal auch nur eine Viertelstunde vorher. Dann hat es jemand schnell
mitgeschrieben, ich hab umgeschrieben oder gekürzt, sie haben einen Text vor die Nase gekriegt und auch schon gespielt. Es
gibt auch Szenen, wie die im Fotoladen oder das Bewerbungsgespräch, die auf eine relativ dokumentarische Art und Weise entstanden
sind. Ich besprach mit denen, was sie normalerweise tun, ich sagte, was sie weglassen sollten und dann filmten wir relativ
zügig.
Das klingt nach einer sehr intensiven Arbeit für die Schauspieler.
VALESKA GRISEBACH: Die haben das ja nicht immer so gezeigt, sie haben ja so etwas unheimlich Cooles und Kaltschnäuziges, eine pubertäre Härte,
wo man gar nicht so genau weiß, wieso machen die eigentlich mit, warum stehen sie monatelang bereit und ziehen das mit einer
solchen Intensität und Disziplin durch. Das hab ich sehr bewundert, denn die haben ein spannendes Leben, wo noch eine ganze
Menge anderes passiert. Sie haben sich auch auf eine sehr intuitive Art darauf eingelassen, das fand ich toll. Es gibt eine
Reihe von Szenen, die in diesem Alter besonderes mit Unbehagen verbunden sind.
Wie schwierig war hier die Arbeit mit den Jugendlichen?
VALESKA GRISEBACH: Ich muss dazu sagen, die beiden waren mal ein Paar. Ein Umstand für mich, der eher dagegen sprach, die beiden zu besetzen,
da ich das Gefühl hatte, in eine Sphäre einzugreifen, wo ich nicht wusste, ob ich das verantworten kann. Es gab aber viele
gemeinsame Gespräche, bis ich das Gefühl hatte, es geht. Wir haben das dann zu dritt mit Handschlag beschlossen, die Eltern
waren dabei. Es gab schon Startschwierigkeiten, die ich auch gut verstehen konnte. Ich glaube letztlich hat es die beiden
eher beschützt, dass es so einen autoritären Moment gab, wo wir gesagt haben, es ist verabredet worden und das machen wir
jetzt so. Bei allen Dingen, die mit Körperlichkeit zu tun hatten, bei Sex oder Küssen, war mir sehr wichtig, dass es total
durchchoreografiert ist, dass es nicht diesen Moment gab "und jetzt macht mal, jetzt improvisiert mal ein bisschen". Das war
teilweise auch sehr sportlich. Bei der Liebesszene muss man sich auch vorstellen, dass die Regieassistentin auf denen drauf
saß, sie waren wirklich umzingelt und dadurch wurde letztlich auch die Peinlichkeit aufgehoben. Die konnten das dann eher
wie Turnen behandeln. Diese Sachen wurden wirklich sehr technisch hergestellt. Mein Stern ist Ihr Abschlussfilm an der Wiener
Filmakademie. Der Film entstand zur Gänze in Berlin. Der Film lässt sich aber sehr leicht in einen Stil einordnen, den man
in den letzten Jahren mit der Wiener Filmakademie verbindet.
Wo sehen Sie Ihre künstlerische Heimat?
VALESKA GRISEBACH: Ich wusste, ich wollte meinen Abschlussfilm zu Hause in Berlin drehen. Es war spannend, einerseits nach Hause zu kommen und
gleichzeitig ganz fremd zu sein in dieser ganzen Filmszene und da quasi niemanden mehr zu kennen, in einer Stadt, wo sich
alles wildwest-mäßig verändert. Das war aber auch der Moment, wo mir bewusst wurde , was in Wien zu studieren für mich bedeutete,
mit wem ich studiert habe, mit wem ich über Film gesprochen habe. Das war für mich noch mal ein doppelt größeres Geschenk.
Es hat mir in Berlin das Gefühl vermittelt, in Wien gut aufgehoben zu sein. Ich merkte, ich hab da etwas sehr Positives mit
auf den Weg bekommen. Zum Teil hab ich einen Blick aus der Fremde, ich komme mit einem anderen Blick nach Berlin und es gibt
auch so eine Gruppendynamik aus Gesprächen, das hat mit Freundschaften, mit Gesprächen über Film zu tun und wie man sich auch
gegenseitig beeinflusst. Das ist etwas, das ich als sehr besonders empfinde.
Was ist so besonders faszinierend an Berlin?
VALESKA GRISEBACH: Die Dynamik des Wechsels hält noch immer an. Es ist zwar rein optisch durch die Architektur jetzt präsent, aber der Schwung
der Veränderung ist noch da. Es löst ja auch sehr widersprüchliche Gefühle aus, die Deutschen stecken da noch mitten drinnen,
auch wenn es vielleicht nicht mehr ganz so sichtbar ist. Ich lebe jetzt in Mitte, ich komme aus Westberlin und es war komisch,
in meine Heimatstadt und gleichzeitig in eine fremde Stadt zurückzukommen. Vielleicht wäre ich sonst gar nicht nach Berlin
zurückgegangen. Da und dort fremd zu sein ist einfach spannend und mir geht das ganz einfach nahe, was da passiert. Das Faszinierende
an Berlin ist, dass da so viele Biografien und Sehnsüchte dranhängen, und dass auch so viel schief geht.
Interview: Karin Schiefer
2001