Zwischen den Welten zu leben, scheint im Familienbuch der Filmemacherin Weina Zhaos festgeschrieben zu sein. Dass ihre Eltern
trotz völlig konträrer Herkunft einander im China nach der Kulturrevolution kennenlernten, grenzt an ein Wunder und ist dennoch
nicht der einzige Spannungsbogen in ihrer Biografie. Sie selbst ist in Wien aufgewachsen, mit oder zwischen zwei Sprachen
und Kulturen, zwischen zwei Ländern, die beide ihre Identität bestimmen. In Weiyena – Ein Heimatfilm begibt sie sich gemeinsam mit Ko-Regisseurin Judith Benedikt auf eine Reise nach China, um verschwiegene Erinnerungen in der
Familie und die schwindende Geschichte ihres Landes in einer Momentaufnahme festzuhalten.
In China geboren, in Österreich aufgewachsen, in den Sommerferien in China: das ergibt für Sie, Weina Zhao, ein erstes Spannungsfeld
in Ihrer Biografie, das auch Thema von WEIYENA – EIN HEIMATFILM – ist; darüber hinaus gibt es aber noch ein weiteres, viel
größeres, nämlich den völlig konträren sozialen Hintergrund in den Herkunftsfamilien Ihrer Eltern. Können Sie uns zum Einstieg
eine kurze Einführung in Ihre Familienkonstellation geben?
WEINA ZHAO: Ich bin im Alter von vier Jahren mit meiner Mutter nach Wien gekommen, nachdem mein Vater schon zuvor hier in Österreich
gelebt hatte. Er ist dann sehr früh wieder nach China zurück, um dort eine Firma aufbauen, meine Mutter und ich sind hier
geblieben und haben immer wieder die Sommerferien in China verbracht. Der chinesischen Tradition gemäß gehört man zur Familie
des Vaters, ich habe mich aber immer der Familie meiner Mutter näher gefühlt, weil wir mehr Zeit mit ihr verbracht haben und
in dieser Familie auch mehr erzählt wurde. In der Familie meines Vaters wurde über Smalltalk hinaus kaum irgendetwas beredet.
Ich wusste, dass die Familie meiner Mutter eine intellektuelle Vergangenheit hatte. Das Bewusstsein für diese Gegensätze ist
erst durch mein Sinologie-Studium gewachsen, wie ungewöhnlich ist, dass so ein Paar zueinander gefunden hat, wo ein Partner
dem Arbeiter-/Bauernmilieu entstammt, die Partnerin einen intellektuellen Hintergrund hat. An der Familiengeschichte meiner
Mutter war ich immer sehr interessiert, das Interesse für die meines Vaters entstand erst im Zuge des Films, als ich erkannte,
wie wenig ich wusste, weil niemand geredet hat.
Sie haben sich fünf Jahre mit dem Thema auseinandergesetzt. Wie früh ist der Film zu einem gemeinsamen Projekt mit Judith
Benedikt geworden?
WEINA ZHAO: Ich habe für Judith Benedikts Film China Reverse als Regieassistentin gearbeitet und habe sie nach der Fertigstellung gefragt,
ob sie nicht mit mir einen Film über meine Familienmitglieder machen wollte. Ich hatte mich schon viel früher mit dem Gedanken
getragen, die Erzählungen meines Großvaters mütterlicherseits aufzuzeichnen, wusste aber nicht, in welchem Rahmen.
JUDITH BENEDIKT: Weina hatte mir ihre Familiengeschichte schon viel früher einmal erzählt. Mein erster spontaner Gedanke war damals, dass
das ein Stoff für einen Film sei. Ausgesprochen wurde dieser Gedanke aber erst sehr viel später. Ich war dadurch sehr früh
eingebunden. Wir waren uns einig, dass wir bald zu drehen beginnen sollten, da die Protagonist*innen schon sehr alt waren.
Wir reichten für Projektentwicklung ein und sind in der Hoffnung, das Geld zu bekommen, anlässlich des chinesischen Neujahrsfests
nach China gereist. Mit der Förderung ist es dann leider nichts geworden und wir mussten die erste Reise selber finanzieren.
Ich war sehr stark involviert und hatte sehr intensiven Kontakt mit Weinas Familie. Immerhin arbeiten wir beide schon seit
2014 an diesem Film.
Wie haben Sie ihre Rolle als einzige Außenstehende im filmischen Kontext erlebt, während ja Ihre Ko-Regisseurin zugleich Protagonistin,
noch dazu eines Films mit und über die eigene Familie war?
JUDITH BENEDIKT: Die Außenrolle hat sich auch nochmals verstärkt durch den Umstand, dass ich die Sprache nicht oder gegen Ende hin bestenfalls
in leichten Ansätzen verstanden habe. Wenn man selbst mit der Familie stark verbunden ist, dann sieht man gewisse Dinge nicht
mit der nötigen Distanz. Als Zuschauerin von außen hab‘ ich mich sehr viel leichter getan, Beobachtungen zu formulieren. Und
wir haben immer sehr, sehr viele Gespräche geführt. Für Weina sind ja im Laufe dieser Jahre viele Entwicklungen spürbar geworden
und Veränderungsprozesse haben sich bis in den Schnitt weitergezogen und werden noch weitergehen, wenn der Film dann rauskommt.
Es wird Weina noch länger begleiten. Ich hatte die angenehmere Position, weil es sich nicht um meine Familie handelt. Das
Tolle an unserer Zusammenarbeit war, dass es immer möglich war, beide Seiten und Blickwinkel zu diskutieren.
Wie wichtig war es Ihnen, Weina, diesen Gegenpol zu haben?
WEINA ZHAO: Ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass Judith die Antriebskraft des Ganzen war, einfach dadurch, dass wir so intensiv
im Dialog waren. Unsere Gespräche haben den Film vorwärtsgetragen. Er wäre nie das geworden, was er jetzt ist, wenn ich alleine
gearbeitet hätte. Ich hätte wahrscheinlich nicht die Energie gehabt, mich den wirklich schwierigen Themen zu nähern, wie es
z.B. für meine Mutter war, als Kind alleine zu leben oder wie es war, wie sie meine Großmutter im Gefängnis besucht hat. Mit
der Perspektive, dass der Film wahrscheinlich vorwiegend ein nicht-chinesisches Publikum haben würde, war es besonders wichtig,
Judiths Außenblick zu haben, der mir immer wieder auch Rückmeldung darüber gab, wie gut Dinge für jemanden ohne Bezug zu China
verständlich waren. Das war für mich gut und schwierig zugleich. Als jemand mit Migrationshintergrund hat es mich sehr beschäftigt,
dass man in dem Land, wo man lebt, die Kultur, die man mitträgt, immer wieder erklären muss.
Da ja das Schweigen in den Familien ein großes Thema zu sein scheint, muss neben der Suche nach Bildern und Situationen für
den Dreh auch eine großes Aufgabe gewesen sein, die Familienmitglieder zum Reden zu bringen?
WEINA ZHAO: In der ersten Phase hat es sehr viel Übung und Überwindung gebraucht, dass ich mich traute, Fragen zu stellen. Es hat sich
bewährt, über einfache Alltagsfragen zu Themen vorzudringen, die dann tiefer gingen; ich konnte so Bedeutsameres in Erfahrung
bringen. Sobald die anfängliche Blockade überwunden war, wollten alle gerne und viel reden. Meist konnte man sie dann kaum
mehr stoppen. Ich glaube, wir haben hundertmal mehr Gesprächsmaterial, als wir letztendlich im Film vorkommen lassen. Das
war natürlich schade, dass wir uns den Zwängen des Formats unterordnen mussten. Es ist viel verloren gegangen, was zwischen
den Zeilen miterzählt wird.
JUDITH BENEDIKT: Dazu fehlt oft das Hintergrundwissen. Man muss davon ausgehen, dass westliche Zuschauer*innen kaum eine Ahnung von der chinesischen
Geschichte haben. Darin lag auch eine große Herausforderung, den Film so zu erzählen, dass man gerade so viel Information
wie notwendig eingebaut hat, auch wenn man nicht die chinesische Geschichte im Blick hat.
Wie sind Sie mit dem Thema Raum umgegangen? Einerseits wird viel innen gedreht, was vielleicht auch mit dem Alter der Großeltern
zu tun hat. Andererseits fällt auf, wie Sie über Architektur auch den Wandel in China spürbar machen?
JUDITH BENEDIKT: Wir wollten auf alle Fälle über die raschen Veränderungen in der Architektur im heutigen China einen Hintergrund schaffen.
Wir sind seit 2014 jedes Jahr einmal nach China gereist, manchmal nur zu Recherchezwecken mit einer kleinen Kamera. Auch davon
ist manchmal ungeplanterweise Material in den Film eingeflossen, weil sich China so rasant weiterentwickelt. Gewisse Dinge
hält man in der Recherche fest, wenn man nach einem Jahr wiederkommt, ist es schon wieder weg. Für den Schnitt war es gewiss
auch ein Vorteil, dass wir aus dem Material aus den letzten sechs Jahren schöpfen konnten. Was die vielen Innenaufnahmen betrifft,
der Großvater mütterlicherseits ist in der Tat nicht mehr aus dem Haus gegangen, aber mit den anderen Großeltern haben wir
z.B. noch die Morgengymnastik im Freien gedreht. Es lag aber nicht in erster Linie am Alter der Großeltern, sondern vielmehr
daran, dass es in China immer schwieriger geworden ist, zu drehen. Für das Drehen in den Höfen, wo die Großeltern väterlicherseits
leben, haben wir keine Drehgenehmigung mehr bekommen. Beim letzten Dreh im April 2019 durften wir gar nicht mehr draußen drehen,
obwohl wir alles offiziell mit Genehmigungen abgewickelt haben. Man hat, wenn man draußen filmt, wirklich nur ganz wenig Zeit,
denn das nächste Sicherheitsorgan ist gewiss nicht mehr als eine Minute entfernt. Wie dicht dieses Überwachungsnetz ist, ist
mir erst beim letzten Mal aufgefallen. Ich habe in Shanghai Autofahrten gefilmt und dabei bemerkt, dass praktisch an jeder
Straßenlaterne eine Kamera angebracht ist. Man wird dann immer wachsamer, die Situation hat sich im Laufe dieser sechs Jahre
ganz gewiss verschärft.
Es gibt zu Beginn eine Szene mit Ihrer Mutter, in der sie während des Drehs Instruktionen gibt und im Laufe des Films sprechen
Sie es auch an, dass es Momente gegeben hat, wo Sie nicht so sicher waren, wer jetzt die Regisseurin sei. Hat die Entscheidung
per Voice-Over zu erzählen auch vielleicht damit zu tun, dass sie damit noch eine Ebene einziehen, wo sie allein einen Faden
durch die filmische Geschichte ziehen. Was war Ihnen in diesem Text wichtig?
WEINA ZHAO: Ich hatte mir das noch nie so überlegt. Ich habe es auf keinen Fall bewusst so entschieden, mich auf diese Weise von den
Einwirkungen meiner Familie, insbesondere meiner Mutter zu befreien, aber eigentlich ist es das. Wenn ich mit meiner Familie
bin, dann bin ich nie in meinem Erwachsenen-Selbst, sondern immer in der Kinderrolle. Durch das Voice-Over, ist ein Weg gegeben,
meine eigenen Gedanken zu teilen. Wichtig dabei war eine poetische und fragende Reflektion, die es dem Publikum einerseits
ermöglicht meiner persönlichen Auseinandersetzung zu folgen und andererseits auch gewisse Ecksteine der chinesischen Geschichte
zu ergänzen, damit der Kontext der Erzählungen verständlicher wird.
Der Bezug zum Filmemachen hat in Ihrer Familie eine lange Tradition. Wann haben Sie herausgefunden, welch wichtige Figur Ihr
Urgroßvater Ying Yunwei in der chinesischen Filmgeschichte war? Er hat ja u.a. 1934 den ersten Tonfilm der chinesischen Filmgeschichte
gemacht.
WEINA ZHAO: Mir ist erst im Laufe meines Sinologiestudiums bewusst geworden, dass hinter vielen Namen, mit denen ich aufgewachsen bin,
weil es sich um Freunde und Freundinnen meiner Großeltern gehandelt hat, Stars des intellektuellen und kulturellen Lebens
im China der 1930er Jahre standen, darunter auch Persönlichkeiten, die dann wichtige Positionen in der Kommunistischen Partei
eingenommen haben. Erst im Zuge dessen habe ich meinen Urgroßvater wahrscheinlich 2003/4 erstmals gegoogelt. Man fand damals
noch sehr wenig, es gab ihn aber auf IMDB. Es sind dann immer mehr Filme im Internet aufgetaucht.
Auch von der Arbeit meiner Großmutter habe ich leider viel zu wenig mitbekommen. Sie ist gestorben, als ich 18 war und hatte
nach ihrer Rückkehr aus der Haft als Editorin und auch Regisseurin gearbeitet. 1986, als ich zur Welt kam, war meine Großmutter
in Shenzhen, einer Stadt in der Nähe von Hong Kong und hat dort den Fernsehsender mit aufgebaut. Ich habe erst spät erfahren,
dass meine Mutter ihre Eltern vor der Kulturrevolution kaum zu Gesicht bekommen hat, weil sie beide so sehr mit Film- und
Theaterarbeit beschäftigt waren. Ich bedaure es heute, dass ich mich zu ihren Lebzeiten nicht schon damit beschäftigt habe.
Der Film thematisiert nicht nur den Umgang mit Erinnerung innerhalb der Familie, sondern auch den der chinesischen Gesellschaft
mit ihrer Geschichte. Die Frage gipfelt wohl in den Bildern vom Themenrestaurant zur Kulturrevolution und Sie werfen auch
die Frage auf, was mit einer Gesellschaft passiert, in der historisches Erinnern zum Entertainment wird.
WEINA ZHAO: Diese Thematik ist für uns besonders bei den letzten beiden Reisen in den Vordergrund gelangt, weil wir eine immer stärkere
Kontrolle verspürt haben. Mit einem prägenden Erlebnis in Shanghai wurde auch meiner Mutter mit einem Schlag so richtig der
Hintergrund meines Projekts klar, nämlich dass es auch um die Aufarbeitung von Erinnerung geht. Wir wollten in Shanghai beim
Filmbüro drehen, wo mein Urgroßvater einst gearbeitet hat und wo er auch gestorben ist. Mittlerweile ist dieser Ort zum Uhrengeschäft
geworden. Wir haben den Security Guard gefragt, ob es möglich wäre, kurz im Hof zu filmen. Er hat verneint mit der Begründung,
dass es dieses Filmbüro ja schon lange nicht mehr gibt. Auf unseren Einwand, dass es ja um Geschichte gehe, hat er geantwortet:
„Geschichte ist schon längst tot. Die gibt es nicht mehr.“ Meiner Mutter und meiner Großtante, die auch mit war, hat dieser
Satz das Herz gebrochen. Die offizielle Haltung zur Geschichte war ihnen bis dahin nicht so bewusst gewesen, und besonders
auch die der jüngeren Generation, die nicht so sehr wie sie unter dem politischen Regime gelitten hat.
Haben Sie das Gefühl, dass es auch ein Bedürfnis der jungen Generation nach einer Auseinandersetzung mit der Geschichte gibt?
WEINA ZHAO: Das kann man so nicht sagen. Die jungen Leute wissen sehr wenig; gerade weil sich die Zensur in den letzten Jahren extrem
verschärft hat, hat diese Generation kaum Gelegenheit Dinge zu erfahren. Und je unmöglicher es geworden ist, etwas über die
Geschichte zu erfahren, umso mehr haben sie das Interesse verloren. Es ist einfach zu mühsam, sich mit Dingen zu beschäftigen,
bei denen einem Hindernisse in den Weg gelegt werden. In meiner Generation kenne ich nur sehr wenige Menschen in China, die
sich mit dieser Zeit auseinandersetzen wollen. Man wird nicht nur von seinem Umfeld schief angeschaut, eine aktive Auseinandersetzung
mit der chinesischen Geschichte kann auch die eigene Karriere gefährden.
Ihr Film versucht sehr klar die Bedeutung von Erinnerung und dem offenen Umgang damit zu veranschaulichen, andererseits stellen
Sie gegen Ende eine sehr provokante Frage in den Raum: Geht es mir jetzt eigentlich besser, weil ich das alles weiß? Sie werfen
zumindest auf einer familiären Ebene durchaus auch ihre Zweifel an dieser Suche auf. Warum?
WEINA ZHAO: Für mich hat sich die Arbeit am Film wie ein Kreis angefühlt. In meiner Kommunikation mit meinen Eltern hat sich nichts grundlegend
verändert, seit wir mit dem Film fertig sind. Während der Dreharbeiten ist so viel aufgebrochen und zum Teil auch rausgekotzt
worden. Ich habe gesehen, wie sehr meine Mutter nach dieser Erfahrung in Shanghai gelitten hat. Da habe ich mir z.B. die Frage
gestellt, wie gut oder wichtig es war, so Vieles aufgebrochen und besprochen zu haben. Es fühlt sich manchmal so an, dass
sich nicht wirklich etwas verändert hat. Daher stelle ich diese Frage. Es geht mir auch darum, dass wir in den westlichen
Ländern glauben, die beste und einzig richtige Form der Aufarbeitung von Vergangenheit zu haben. Man vergisst dabei, dass
es nicht die einzig wahre Variante ist, mit Erinnerung umzugehen.
Sie sprechen am Ende des Films auch die Geister an, mit denen zu reden, man Ihnen nicht beigebracht hat und an die Sie vielleicht
nie gedacht haben. Fließt hier auch ein spiritueller Aspekt ein, der möglicherweise lange ein Tabu gewesen ist, den Sie erst
durch Ihre Arbeit entdeckt haben?
WEINA ZHAO: Ich glaube nicht, dass die chinesische Gesellschaft eine unreligiöse Gesellschaft ist. Unter Mao wurde da sehr viel zerstört,
im heutigen China hingegen gibt es sehr viele Menschen, die sich dem Buddhismus oder auch der christlichen Religion zuwenden.
Aber in meiner Familie war das nie ein Thema. Ich habe nur aus englischsprachigen Medien erfahren, dass die chinesische bzw.
asiatische Kultur diesen Umgang mit den Geistern pflegt und ich frage mich, ob ich mich meinen Vorfahren verbundener fühlen
würde, wenn mir diese Tradition weitergeben worden wäre. Also ich vermisse weniger den religiösen Aspekt, finde es aber sehr
traurig, dass es keine Rituale gibt.
Sie haben beide nun mit China Reverse und WEIYENA – EIN HEIMATFILM zu Filmen den Anstoß geliefert und dann gemeinsam realisiert,
die sich mit der Wechselwirkung zweier Kulturen auseinandersetzen. Was hat Sie bewegt im Verfolgen dieser Spannungsfelder
und welche Erkenntnisse haben sie gebracht?
JUDITH BENEDIKT: Es fällt mir jetzt schwer, kurz und knapp zu artikulieren, was in einem jahrelangen Prozess, in dem man auf so vielen Ebenen
immer wieder dazu lernt, entstanden ist. Sehr simpel gesagt, führt es dazu, die Welt besser zu verstehen. Es geht in beiden
Filmen um etwas wie Heimat und auch Menschlichkeit. Der Wunsch und die Suche nach Zugehörigkeit und Heimat ist ja allen Menschen
ein Bedürfnis.
WEINA ZHAO: Es geht in beiden Filmen um das Zwischen-den-Welten-Leben. In China Reverse geht es um die erste Generation von Menschen,
die aus China nach Österreich gekommen sind. Ihre Auseinandersetzung mit ihrer Identität ist heute nochmals eine andere ist
als meine bzw. der zweiten Generation, die hier in Österreich aufgewachsen sind. Ich habe mich in den letzten Jahren sehr
stark mit der Repräsentation oder vielmehr Nicht-Repräsentation von asiatischen Menschen im deutschsprachigen Raum auseinander
gesetzt und erlebe immer wieder das Gefühl der Frustration, dass man häufig missverstanden und dass man als jemand gelesen
wird, der man nicht ist; gleichzeitig wird von einem verlangt, dass man als Individuum gleich die ganze Gruppe repräsentiert.
Mir ist es ein großes Anliegen, dass Zuschauer*innen jeden Menschen im Film als Individuum betrachten und nicht als stereotype
Figur.
Was hat Sie zum Begriff „Heimatfilm“ im Filmtitel veranlasst?
WEINA ZHAO: „Heimatfilm“ war eigentlich lange ein Witz zwischen uns. Wir hatten mehrere andere Ideen für den Titel, von denen wir uns
leider trennen mussten, so wie vieles auch im Film, dass wie schon erwähnt, ohne Vorwissen der Zuschauer*innen nicht verständlich
wäre. Dazu zählt z.B. der Umstand, dass mein Urgroßvater später verfolgt worden ist, weil er in den 1930er Jahren mit Jiang
Qing, der späteren Frau von Mao, im selben Filmstudio zusammengearbeitet hat. Sie war Schauspielerin und Untergrund-Kommunistin.
Das Haus meines Urgroßvaters war damals eine Art Umschlagzentrale der kommunistischen Untergrundpartei in Shanghai. Sie hat
bei ihm Geld, Information, Ausstattung bekommen, um sich dann auf den Langen Marsch zu begeben. Dieser Zusammenhang war später
der Grund, dass sie meinen Urgroßvater während der Kulturrevolution hat verfolgen lassen, weil sie ihre Karriere als Filmschauspielerin
verschweigen wollte. Diesen spannenden Teil der Geschichte mussten wir leider weglassen, um es zu vereinfachen.
JUDITH BENEDIKT: Dieses Detail zeigt auch, wie nahe die gesamte Familie am politischen Geschehen dran war. Aber das wird vielleicht der nächste
Film.
Interview: Karin Schiefer
April 2020