INTERVIEW

«Beirut kann man nicht in einem Satz zusammenfassen.»

Lange vor dem Beirut Blast im August 2020 war ihre Verbindung zum Libanon tief verankert: Nicola von Leffern und Jakob Carl Sauer warteten nach der gigantischen Explosion mehrere Monate ab, ehe sie ins Land übersiedelten, um sich ohne, später mit der Kamera ein Bild davon zu machen, wie es für eine krisengeschüttelte Gesellschaft nach einem so traumatischen Ereignis weitergehen kann. Drei Jahre lange haben sie mehrere Protagonist:innen in ihren Versuchen nach individueller Heilung begleitet und TO CLOSE YOUR EYES AND SEE FIRE just zu einem Zeitpunkt fertiggestellt, wo die Menschen im Libanon erneut in einen täglichen Taumel der Zerstörung gerissen werden.
 
 
 
Besteht Ihre Verbindung zum Libanon und zu Beirut bereits seit längerer Zeit?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Ich habe 2011 für eine NGO gearbeitet und wurde für ein Friedensprojekt in den Südlibanon geschickt, ohne dass ich das Land vorher kannte. Es hat mich umgehauen, wie falsch mein Bild dieses Ortes durch die mediale Filterung war. Wir erfahren von vielen Gebieten immer nur dann, wenn etwas Schlimmes passiert. Ich habe mich in den Libanon verliebt und fand das Spannungsverhältnis zwischen medialer Darstellung und Realität sehr spannend. Später haben Jakob und ich uns an der Filmakademie kennengelernt und 2015 gemeinsam einen Kurzfilm im Libanon gedreht.
 
JAKOB CARL SAUER: Der Kurzfilm heißt Mafi Kahraba (Blackout). Es geht um die Energiekriese im Libanon. Eine Situation, die sich seitdem noch einmal verschlechtert hat. Der Strom muss rationiert und jeden Tag über viele Stunden abgeschaltet werden, tageweise gibt es gar keine staatliche Versorgung. Generatoren dienen zur Überbrückung, aber auch nur dann, wenn genug Diesel im Land ist.
 
 
In welchem Kontext haben Sie von der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 gehört?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Ich habe das Geschehen über Social Media verfolgt, so gut ich konnte. Ich erinnere mich noch, dass ich die ganze Nacht vor Sorge wach war und versucht habe zu recherchieren und Leute zu erreichen, weil ja auch die Handy-Netze nicht funktionierten.
 
 
Sehr beeindruckend sind in TO CLOSE YOUR EYES AND SEE FIRE die kurzen Handyvideos, wo für Bruchteile von Sekunde die unfassbare Wucht spürbar wird. Haben Sie das Gefühl, dass in westlichen Medien die Intensität dieser Explosion angemessen vermittelt wurde?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Die Explosion ist medial ausgeschlachtet worden. Was im Vakuum danach geschieht, ist selten in den Nachrichten sichtbar. Uns hat bewegt, wie Menschen nach traumatischen Erlebnissen überhaupt weiterleben. Über Jahre haben wir versucht, das nachzuempfinden. Ein Stückweit bleibt es unvorstellbar. Es muss viel Zeit vergehen, damit sich eine Gesellschaft mit ihrem kollektiven Trauma auseinandersetzen kann. Dieser Prozess könnte jetzt einsetzen, wären da nicht schon die nächsten Herausforderungen. Wir haben versucht einzufangen, dass nie wirklich genug Ruhe und Raum da ist, sich mit der Verarbeitung auseinanderzusetzen.
 
 
Welche Fragestellungen haben Sie an die Filmidee herangeführt?
 
JAKOB CARL SAUER:
Unser vordergründiges Anliegen war zunächst zu schauen, wie es den Leuten geht. Dann ist das Bedürfnis in uns gewachsen, als Filmemacher einen Prozess zu begleiten und der Frage nach Heilung nachzugehen – dieses unsichtbare Innenleben spürbar zu machen. Wie kann Heilung aussehen? Und wie steht es um die hochgepriesene Resilienz der Libanesen? Ist das ein lobenswerter Zustand oder nur ein aufgezwungener Überlebensmodus, positiv verpackt. Wir wollten der Situation ohne vorgefertigte Schablonen im Kopf begegnen.
 
 
Wie schnell war Ihnen bewusst, dass es ein Langzeitprojekt sein würde?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Jakob und ich haben erahnt, dass dem großen Knall eine große Leere folgen würde. Die erste der fünf Trauerphasen – Verleugnung haben wir in Beirut vorgefunden. Der Wiederaufbau war im vollen Gange, es schien, als wollte man möglichst schnell vergessen. Beim ersten Jahrestag haben wir intensiv miterlebt, wie Phase 2, der Zorn, hochkocht. Im darauffolgenden Jahr ging dann die Phase des Verhandelns los. Unsere Protagonist:innen haben individuell versucht, ihre Situation zu verändern, den Libanon zu verlassen, demonstrieren zu gehen oder über künstlerische Auseinandersetzung Kontrolle zurückzugewinnen. Das alles konnte nur als Langzeitbeobachtung funktionieren. Nicht ahnen konnten wir, wie sehr die multiplen Krisen das Leben und auch den Filmprozess erschweren würden: die Pandemie, eine der schwersten Wirtschaftskrisen weltweit, der vollständige Ausfall der staatlichen Stromversorgung, alles ging nahtlos ineinander über. Die 2019 begonnene Revolution hatte sich nochmals aufgebäumt, nur, um von den Konsequenzen der Explosion vollends ausgelöscht zu werden. Es gab keine Kraft mehr, an Veränderung zu glauben. Es herrschte Stillstand. Oft saßen wir in dunklen Räumen, im Sommer waren sie unerträglich heiß, im Winter auch sehr kalt, manchmal mit Lebensmittelvergiftung und haben uns gefragt, ob wir uns auf etwas Unmögliches eingelassen hatten.
 
 
Ihre Protagonist:innen bilden auch ein gesellschaftliches Spektrum ab. Können Sie sie kurz beschreiben?
 
JAKOB CARL SAUER:
Wir wollten die große gesellschaftliche Vielfalt von Beirut mit seiner Glaubenspluralität, uns seinem sozialen Gefälle abbilden. Letztlich haben Zufall und Sympathie mitentschieden, wen wir über die drei Jahre begleiten würden. Einer der Protagonist:innen ist Künstler und Aktivist, Selim. Wir haben ihn kennengelernt, weil wir im selben Haus wohnten wie er. Wenn man Selim beim Malen filmt, dann sind das Momente, in denen er sehr zerbrechlich wirkt, weil er endlich seine Gefühle zulassen kann. Dann gibt es Familie Aladdin, die mit Mohammed einen Bruder und Sohn verloren hat. Diese Familie haben wir an einem Gedenktag kennengelernt und es hat sich sofort eine tiefe gegenseitige Sympathie eingestellt. Sie waren unheimlich großzügig zu uns und bei ihnen waren der familiäre Zusammenhalt und ihr gemeinsamer Glaube im Umgang mit der Situation sehr stark spürbar.
 
NICOLA VON LEFFERN:
Andrea haben wir über Freunde kennengelernt. Sie ist eine beeindruckende junge Frau, die in der Revolution ein ganzes Jahr lang auf der Straße für Veränderung gekämpft hat. Die Explosion war für sie der Auslöser, mehr Energie auf ihr psychisches Wohlergehen zu richten. Wir begleiten sie in ihrer Tanztherapie und auf dem Weg, ein zentrales Mitglied der Beiruter Performance-Szene zu werden. Aya, das achtjährige Mädchen, habe ich kennengelernt, als ich einen Ausblick auf den Ground Zero finden wollte. Ich suchte nach einem Hochhaus direkt am Hafen. Aya lebt mit ihren fünf Geschwistern und ihren Eltern in der Tiefgarage dieses Hauses. Sie sind aus Syrien geflohen, nur um sich in Beirut in der nächsten Katastrophe wieder zu finden. Aya lässt mit ihrem Bruder Papierflieger über dem Hafen steigen, während sich ihre Eltern nach einem Leben in Europa sehnen.
 
 
Wie unmittelbar nach der Explosion sind Sie nach Beirut gezogen?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Es war länger in Schwebe, weil wir einerseits den Wunsch verspürten und gleichzeitig eine Scheu davor hatten, in einer journalistischen Geste an den Ort einer Katastrophe zu fahren, nur um sich ein eigenes Bild zu machen. Es hätte sich falsch angefühlt, an einem Ort, wo viele Menschen obdachlos geworden sind, eine Wohnung zu beziehen. Wir sind erst ein gutes halbes Jahr danach hingefahren, ohne zu wissen, ob es ein treffender Zeitpunkt war. Wir wollen auf keinen Fall „eventbezogen“ arbeiten. Wir haben es auf die langsame und leise Art probiert.
 
JAKOB CARL SAUER: Wir waren insgesamt zweieinhalb Jahre dort, wobei es in dieser Zeit Momente gab, in denen wir zurück nach Wien gereist sind. Auch weil wir emotional an unsere Grenzen gestoßen sind.
 
 
Immer wieder sieht man Szenen eines Telefon-Notdiensts zur Selbstmord-Prävention. Wie verbreitet sind solche Hilfseinrichtungen? Auf welche Fakten sind Sie in diesem Zusammenhang gestoßen?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Diese Telefonseelsorge ist die einzige Hotline im Land; die dazugehörige Mental Health-Klinik ist im Nachhall der Explosion eingerichtet worden. Als es rund um den ersten Gedenktag nicht nur keine staatliche Elektrizität, sondern weder Diesel noch Benzin gab, um die privaten Generatoren zu betreiben, musste selbst diese Not-Hotline offline gehen. Als es einige Tage später wieder Strom gab, wurde die ansteigende Suizid-Rate veröffentlicht. So kam diese Hotline in die Medien und wir erfuhren davon. Embrace, das ist der Name der Organisation, leistet unglaublich wichtige Arbeit.
 
JAKOB CARL SAUER: Die Leute, die dort arbeiten, haben eine beeindruckende Kraft. Sie leisten nachhaltige Betreuung für Menschen in einem emotionalen Notzustand, obwohl sie selbst von den herrschenden Belastungen betroffen sind.
 
NICOLA VON LEFFERN: Jeder, der Zugriff hat, nimmt angsthemmende Medikamente. Wenn es keine Knappheit gäbe, wäre das ganze Land auf Psychopharmaka. Oder man coped mit Zigaretten, Alkohol,... In den ersten anderthalb Jahren begann jedes Gespräch auf der Straße mit der Frage – Wo warst du zum Zeitpunkt der Explosion? Diese Frage hat quasi das „Hallo, wie geht’s?“ ersetzt. Absurderweise macht es dort das soziale Geflecht aus, immer wieder Schlimmes zu erleben und dadurch auch einen starken Zusammenhalt zu finden.
 
 
Wofür steht Beirut im Größeren? Wie sehr steht diese Stadt auch symbolisch für einen Ort, wo sich die Machthaber völlig aus der Verantwortung gelöst haben?
 
JAKOB CARL SAUER:
Ich war noch nie in einem Land, wo es eine stärker ausgeprägte Gastfreundschaft gibt. Man geht dorthin und wird wie in die eigene Familie aufgenommen. Ein schöner Umgang. Man fühlt sich in menschlicher Hinsicht nie unwohl. Nachbarn, Familie, Freunde, kümmern sich umeinander, auch um zu kompensieren, was die Regierung verabsäumt. Durch das Versagen der Regierung, die große Korruption und die daraus resultierenden gravierenden Einschränkungen im Lebensalltag sind die Menschen gezwungen, sich meist mit täglichen Problemen wie Strom-, Wasser- oder Benzinknappheit herumzuschlagen. Niemand kann wirklich Pläne für die Zukunft schmieden.
 
NICOLA VON LEFFERN: Die Diskrepanz zwischen Zivilbevölkerung und Regierung bzw. nicht existenter Führung ist enorm. Es herrscht komplette Eigenverantwortung; es gibt viele Grassroot-Organisationen, NGOs von außen, aber auch sehr viele von innen. Die Leute lieben diesen Ort und wollen, dass er besser wird. Es ist schmerzhaft zuzuschauen, wie diese Hoffnung immer wieder zerschlagen wird. Es kommt eine junge Generation nach, für die auch Andrea exemplarisch steht, die wieder Hoffnung hat. Sie geht auf die Straße und muss dann einsehen, dass es in absehbarer Zeit nicht besser werden wird. Beirut kann man nicht in einem Satz zusammenfassen. Es ist der schönste Ort der Welt und ein schrecklicher Ort. Der Film hat den Versuch gestartet, nicht die ewig gleiche Elendsgeschichte zu erzählen, sondern auch zu zeigen, dass es Kunst und Theater gibt, eine lebendige Party-Szene, einen starken Wunsch nach Ausdruck und Lebendigkeit. Die Leute flüchten sich ins Nightlife. Weil man nie weiß, was morgen kommt, sind die Feiern von heute so überschwänglich, wie sie es bei uns nie sein würden. Es gibt das Meer, die Berge, die Sonne, den Schnee, das Elend, den Dreck, Ruinen und direkt daneben modernste Gebäude mit den teuersten Autos, die ich je gesehen habe. Es koexistiert alles.
 
 
Was bei allen Protagonist:innen auffällt, ist der Konsum westlicher, jedenfalls englischsprachiger Medien. Hat das mit der politischen Situation und der Medienlandschaft zu tun?
 
JAKOB CARL SAUER:
Es werden westliche Medien konsumiert, es gibt aber auch viele wichtige arabischsprachige lokale Medien. Dieser Eindruck entsteht, weil im Libanon viel Englisch gesprochen wird – was viele nicht wissen. Die offiziellen Landesprachen sind zwar Arabisch und Französisch, aber meistens wird in drei Sprachen kommuniziert.
 
NICOLA VON LEFFERN: Dass wir die Präsenz von Medien in unsere Filmbilder aufnehmen, hat damit zu tun, dass dort der Medienkonsum so extrem hoch ist. Man kann dort nicht sagen, jetzt verfolge ich mal zwei Tage lang das aktuelle Geschehen nicht. Dein ganzer Tag ist davon abhängig, ob du weißt, was los ist: Wird es Strom geben? Gibt es Proteste? Sind die Straßen gesperrt? Gibt es Luftangriffe? Man wacht morgens auf und schaut nach, um zu erfahren, was die Herausforderung des heutigen Tages ist. Der Medienkonsum ist exorbitant und das ist auch ungesund. In Europa habe ich das Gefühl, man konsumiert Medien, um informiert zu sein, weil einen die Welt interessiert. Dort muss man Medien abrufen, um zu wissen, was einen ganz persönlich erwartet.
 
 
Man erfährt in TO CLOSE YOUR EYES AND SEE FIRE wie sehr die Menschen am Wiederaufbau aktiv mitwirken wollen. Andererseits wird auch deutlich, dass es eine massive Auswanderung gibt.
 
JAKOB
CARL SAUER: Die Leute kämpfen. Es gibt die Sehnsucht nach einem Heimatort, der sich auch wie ein solcher anfühlt, im Sinne der Geborgenheit, für die man kämpft und immer wieder enttäuscht wird. Irgendwann werden die Rückschläge zu viel und jene, die die Mittel besitzen, gehen. Zurzeit herrscht Massenabwanderung. Sie gehen, doch die Verbindung zum Heimatort bleibt bestehen, viele leiden unter Schuldgefühlen ihre Leute im Stich gelassen zu haben und vermissen eigenen Traditionen. Auch sogenannter „brain drain“ ist ein großes Problem im Libanon, denn die, die gehen, sind zumeist sehr qualifizierte Personen, die das Land gut brauchen könnte.
 
NICOLA VON LEFFERN: Menschen, die vor dem Beirut Blast das Land verlassen hatten, sprechen absurderweise von „survivor’s guilt“ und „fear of missing out“, weil sie nicht dabei waren; sie fühlen das Leid, glauben aber, die Berechtigung nicht zu haben. Es ist sehr komplex.
 
 
Diese Zerstörungskraft der Explosion scheint paradoxerweise auch etwas Verbindendes erzeugt zu haben.
 
NICOLA VON LEFFERN:
Absolut. Es gab im Schlimmen oft viel Schönes. Eine libanesische Regiekollegin hat gesagt The explosion was also an explosion of goodness in the people. Was der Staat nicht tut, das haben die Menschen gemacht. Sie haben die Scherben aufgekehrt und all die Unterschiedlichkeit für kurze Zeit vergessen. Das war auch ein verbindendes Element in der Revolution, die Menschen sind einander jenseits der Trennlinien von Klasse und Religion begegnet. Sie haben das Gefühl erlebt: Wir fühlen uns alle unterdrückt und von unseren Machthabern in die Irre geleitet. Nach der Explosion entstand erneut so ein Gefühl und sie sind noch einmal, wenn auch mit wenig Erfolg, gemeinsam auf die Straße gegangen.
 
 
Welche Ereignisse und Entwicklungen gehören zur Revolution?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Die sogennante Oktoberrevolution waren eine Reihe von landesweiten Protesten der Zivilbevölkerung. In den Medien hat man ein bisschen süffisant von der „Whatsapp-Revolution“ gesprochen. Aber die Proteste richteten sich gegen tiefere, strukturelle Probleme im Land. Die permanente Stromnot, der Mangel an sauberem Fließwasser und die vorherrschende Korruption sorgten für breite Unzufriedenheit. Dann wollte die Regierung noch eine Whatsapp-Steuer einführen und das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Aufstand ging ein Jahr. Aus der umfassenden Widerstandsbewegung wurde auch eine politische Opposition gegründet.
 
JAKOB CARL SAUER: Religionsgemeinschaften wurden in der Vergangenheit von der Regierung oft gegeneinander ausgespielt, da waren sie erstmals zusammen auf der Straße und konnten ihre Gemeinsamkeiten erkennen, dass alle unter korrupter Führung leiden. Es gab sehr berührende Bilder, wie z.B. die längste Menschenkette der Welt, die bis nach Tripoli in den Nordlibanon reichte, oder Soldaten, denen inmitten einer Straßenblockade Tränen übers Gesicht liefen, weil ihre Herzen gleichzeitig auch für die andere Seite – die eigenen Leute – schlugen.
 
 
Wie haben Sie sich in diesem Kontext als Dokumentarfilmemacher positioniert und hinterfragt?
 
JAKOB CARL SAUER:
Natürlich hat man bestimmte Vorstellungen, nur ist es wenig bereichernd, die Wirklichkeit mit starrem Blick so lange zu durchforsten, bis sich das eigene Bild bestätigt. Es war uns wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um uns auf den Ort und seinen Rhythmus einzulassen. Der Film hat sich in unseren Köpfen laufend adaptiert.
 
NICOLA VON LEFFERN:
Es war auch wichtig, immer wieder zu fragen, wie und warum wir auf Dinge schauen. Was davon ist ein valider und wichtiger Blick? Wo bringen wir einen Mehrwert, weil wir keine Libanesen sind? Z.B. konnten wir religionsübergreifend mit Leuten in Kontakt kommen, weil wir ohnehin nirgendwo dazu gehörten. Dadurch, dass wir die Explosion nicht selbst erlebt hatten, konnten wir viel Raum zum Zuhören anbieten. Wir konnten viel aushalten, ohne selbst getriggert zu sein. Parallel mussten wir uns aber immer selbst überprüfen, um keinen Film mit westlicher Brille zu machen. Wir wollten keinesfalls die nächsten sein, die glauben, den Nahen Osten erklären zu können. Fazit war: so viel wie möglich zu beobachten, ohne einzugreifen. Es gibt keine Interviews im Film. Unser Ansatz war, denen eine Bühne zu bieten die mit Autorität und Emotionalität bereit sind, ihren Heilungsprozess zu teilen. Hinterher sagt man im besten Fall: „Das ist nicht nur ein Film über Beirut, ein Film über eine Explosion, sondern ein universal gültiges Stück Kino.“
 
JAKOB CARL SAUER:
Wenn man Menschen in ihrer Ambivalenz begegnet, kann Raum für Empathie entstehen.
 
 
Sind Sie auch auf Widerstand gestoßen?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Das sind wir. In der Folge der Revolution und dann der Explosion wurde durch internationale Medien sehr viel verbrannte Erde hinterlassen. Die kommen, um schnell das Trauma der Menschen abzucashen. Als wir hinkamen, mussten wir uns sehr behutsam Vertrauen erarbeiten, um zu vermitteln, dass wir anders arbeiten wollen. Wir wollten bleiben, zuhören, außerhalb des Drehs ernsthafte Beziehungen aufbauen, die weit über die zeitliche Relevanz des Films hinausreichen.
 

Filmemachen als eine Lebensform?
 
NICOLA VON LEFFERN:
Ja. Die Regisseurinnen und Regisseure, die wir verehren, die arbeiten alle so. Man kann sich nur maximal persönlich involvieren, ohne Anfang, ohne Endpunkt. Sich Eins-machen mit dem Thema des Films. Jakob und ich sind ein kleines Team, nur wir beide. Wir sind auch sehr eng miteinander, wir waren dort extrem privat. Wir sind nicht als Filmemacher nach Beirut gegangen, sondern als Jakob und Nicola, und manchmal war eben die Kamera dabei. Privat musste ich mich ständig in meiner Rolle, mich als Person hinterfragen. Wie funktioniert Freundschaft? Wie funktioniert Arbeit? Wie funktioniert Beziehung?
 
 
Das Eröffnungs- und das Schlussbild ist ein Blick auf die Weite des Meeres, wo Meer und Wolkenhimmel ineinander verschwimmen. Mit welchen Assoziationen haben Sie diese beiden Bilder gesetzt?
 
JAKOB CARL SAUER:
Für mich bringt es die Sehnsucht nach einem geborgenen und friedlichen Zuhause zum Ausdruck. Es spielt aber mit der Ambivalenz, dass das Meer für viele der einzige Fluchtweg ist. Als letzte Hoffnung, auf der anderen Seite diese Sehnsucht zu stillen.
 
NICOLA VON LEFFERN:
Für mich steht es für das, was die Leute an ihrem Zuhause lieben. Bei allem, was wir erzählen und das Augenmerk vielleicht auch auf viel Schreckliches legen, darf man nicht vergessen, dass Beirut eine phantastisch schöne Stadt ist. Im Hintergrund der Stadt sind schneebedeckte Berge, im Vordergrund das Mittelmeer. Das Meer ist für alle da und es ist immer wieder der Ort, an den man geht, um doch eine gute Zeit zu haben. So schlimm der Tag auch gewesen sein mag, am Ende geht man noch ans Meer und schaut aufs Wasser. Und es fühlt sich vielleicht erträglich an.


Dieses Gespräch haben wir am 12.9. 2024 geführt, wenige Tage, bevor die die Gewalt im Libanon auf erschütternde Weise eskaliert und manches seitens der Filmemacher Gesagte in einem neuen Licht zu sehen ist. Wir haben daher bei ihnen nachgefragt, was diese Ereignisse für sie bedeuten:

Die Situation im Libanon is katastrophal. Über eine Million Menschen wurden bereits vertrieben, denen es an Allem fehlt. Mittlerweile ist nicht mal mehr Beirut sicher.

Die Helphotline ist völlig überlastet. Tag und Nacht rufen Menschen an um zu fragen, wo im Land sie noch Sicherheit finden können. Selim bot sein Atelier für geflohene Familien an. “Apologies, but you need to bring mattresses with you” schrieb er in seinem Posting. Kurz darauf musste er selbst evakuieren und Beirut verlassen. Viele Flüge wurden bereits gecancelt. Andrea sollte eigentlich zur Premiere nach Zürich kommen, inzwischen sind wir schon froh, wenn sie überhaupt noch raus kommt. Aya und ihre Familie halten weiterhin in ihrer Garage aus, Ausweichmöglichkeiten gibt es für sie kaum. Familie Aladdin ist zum Glück bisher unversehrt, obwohl sie im stark gefährdeten Südlibanon leben. Ein Nachbardorf wurden bereits von einem Raketenangriff zerstört. “You can imagine how powerful the bomb was, shaking the ground despite it’s distance” antwortet Jamal auf die Frage wie es ihnen geht.

Wir wünschen uns von ganzem Herzen einen Waffenstillstand. Dieses Leid ist keinem Menschen zumutbar.


Nicola von Leffern, Jakob Carl Sauer, 3.Oktober 2024






Interview: Karin Schiefer
September 20124
 
 






«Wird es Strom geben? Gibt es Proteste? Sind die Straßen gesperrt? Gibt es Luftangriffe? Man wacht morgens auf und schaut nach, um zu erfahren, was die Herausforderung des heutigen Tages ist. Der Medienkonsum ist exorbitant und das ist auch ungesund. In Europa habe ich das Gefühl, man konsumiert Medien, um informiert zu sein, weil einen die Welt interessiert. Dort muss man Medien abrufen, um zu wissen, was einen ganz persönlich erwartet.»