Unser Film ist eine Art trojanisches Pferd. Wir haben eine kommerzielle äußere Hülle, die sich wie ein Horrorfilm anfühlt,
darunter verbirgt sich ein eigenes Regelwerk, innerhalb dessen man sich austoben darf. Marvin Kren über seinen ersten Langfilm
Blutgletscher.
Nach Rammbock (2010) und nun Ihrem ersten Langspielfilm Blutgletscher haben Sie sich ganz klar im Genre-Kino positioniert und profiliert. Was hat Sie in diese Nische geführt?
MARVIN KREN: Hamburg. Es hat auf alle Fälle mit dieser Stadt zu tun. Ich bin in Wien aufgewachsen und in Hamburg zur Filmhochschule gegangen.
Mein Bewusstsein vom Filmemachen war ganz klar vom österreichischen Autorenfilm und dessen Umgang mit Realismus geprägt. Das
ist eine Art, Film zu machen, die es in Hamburg nicht gibt. Mit diesem ungeschminkten Realismus, der wirklich hinter Fassaden
schaut, bin ich auf große Ablehnung gestoßen. An der Hamburger Filmschule schreibt man als Regie-Student seine Filme nicht
selber, sondern man muss sich einen Autor suchen oder es werden Stoffe geliefert, die man interpretieren muss. Meine Interpretationen
waren ihnen immer viel zu hart. Irgendwann habe ich dann den Stoff bekommen, den niemand machen wollte nämlich einen
Horrorfilm. So entdeckte ich, dass ich dafür ganz gut geeignet bin, weil ich Drama und harte Bilder gut miteinander kombinieren
kann. Für ganz schonungslosen Realismus bin ich zu phantasievoll. Es gibt eine harte Bilderwelt, ein sehr körperliches Kino,
das mich umtreibt und interessiert und andererseits bin ich sehr melodramatisch veranlagt, das lässt sich im Horrorfilm ganz
gut verbinden.
Ist es nicht schwierig, wenn man aus einer Wiener Tradition kommt, wo im Autorenkino provokant Grenzen ausgereizt werden,
Erzählformen neu erfunden werden im Genrefilm zu erzählen, der sehr klaren Gesetzmäßigkeiten folgt. Wo finden Sie da Ihren
Spielraum?
MARVIN KREN: Das ist eine gute Frage. Ich liebe Regeln, weil sie meiner Meinung nach der Kreativität enorm hilfreich sind und man sich
innerhalb eines Rahmens phantastisch austoben kann. Man kann Regeln annehmen, man kann sie aber auch brechen. Meine Lust,
im Horrorgenre zu arbeiten, hat auch damit zu tun, dass ich im Drehbuchautor Benjamin Hessler einen idealen Partner gefunden
habe. Er hat nicht nur Rammbock geschrieben, sondern alle Filme, die ich an der Filmhochschule gemacht habe. Wir arbeiten
sehr eng zusammen. Benjamin beherrscht das Genre auf ganz exzellente Weise. Er hat aus einer kindlichen Leidenschaft heraus
eine Doktorarbeit über die britischen Geisterhausromane des 19. Jhs. geschrieben. Er kann perfekt mit diesem Regelwerk umgehen,
ich bin dann derjenige, der sie bricht.
Wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen? Kam die Idee, eine Horrorgeschichte in den Alpen zu entwerfen, von Ihnen?
MARVIN KREN: Da muss man Helmut Grasser einen Credit geben. Es war zwar nicht seine Idee, aber er war der erste, der uns beiden, nachdem
er Rammbock gesehen hatte, einen Flug nach Wien gezahlt und uns in die Allegro Film zu einem Gespräch eingeladen hat. Er sagte
uns, er hätte gerne etwas im Stil von Rammbock. Zwei unserer Vorschläge gefielen ihm nicht. Dann habe ich noch etwas ganz
Bodenloses aus dem Hut gezaubert und erzählte von einer Idee über einen Wanderer, der über eine Scharte wandert und am Übergang
ins nächste Tal runterschaut und einen Gebirgssee mit einem über das Tal großen Käfer erblickt. Dieses Bild Wanderer
sieht Monster in den Alpen das war die Initialzündung für Blutgletscher. So entstand Blutgletscher. Unsere Drehbücher
entstehen in der Regel so, dass ich zunächst ein Treatment schreibe und dann setzt Benjamins Arbeit ein.
Wenn man einen Thriller macht, wo nicht nur mit Suspense operiert wird, sondern wo Monster auch tatsächlich auf den Plan treten,
kommt wohl auch bald die Frage der Machbarkeit ins Spiel. Wann hat sich die Phantasie an der Technik zu reiben begonnen?
MARVIN KREN: Nach der ersten Drehbuchfassung. Die erste Drehbuchfassung von Blutgletscher hätte, damit der Film gut wird, geschätzte 12
bis 20 Mio Euro kosten müssen. Wir standen ernsthaft vor der Frage, wie wir es anstellen könnten, den Film zu realisieren
und uns selber treu zu bleiben. Bestimmend war der Gedanke, dass unser Film ein Dankeschön und eine Reminiszenz an die Filme
sein sollte, die uns als Kinder fasziniert haben: John Carpenter, Ridley Scotts Alien. Das waren Filme, die mit sehr wenig
Effekten auskamen. Sie waren so gesteuert, dass der Horror in der Imagination des Zuschauers weitergeht. So haben wir dann
auch unser Drehbuch entwickelt. Wir haben in dieser Phase auch schon sehr eng mit unserem Kameramann zusammengearbeitet, mit
den SFX-Departments und auch mit der Produktionsleitung. Da haben wir mit offenen Karten gespielt, alles aufgelöst und auf
die Kosten geachtet.
Wieviele Mitarbeiter muss man sich in einem SFX-Department für Blutgletscher vorstellen?
MARVIN KREN: Wir wollten einen Monsterfilm machen, der einerseits sehr analog daherkommt, mit vielen Puppen und Selbstgebautem, was wir
dann mit digitalen Effekten erweitert haben. Am Set war ein fünfköpfiges Team von Puppenbauern, was nicht sehr viel ist. Wenn
man allerdings dort dreht, wo wir gedreht haben, dann wird das zu einem enormen Kostenfaktor. Für die digitalen Effekte hatten
wir nocheinmal eine Mannschaft aus ca. fünf Leuten. Ein relativ kleines Team für das, was wir gemacht haben.
Der Geschichte sind zwei einleitende Sätze vorangestellt, die meistens in die Zukunft und die Science-fiction-Natur der Erzählung
verweisen. Sie haben diese Einleitung bewusst in die Gegenwart, ins Jahr 2013, gesetzt. Welcher Hintergedanke steckt in diesem
Kunstgriff.
MARVIN KREN: Die Apokalypse ist ein Thema unserer Zeit. Ich finde, dass wir zu wenig über die Medien mit Bildern über die Zerstörung unserer
Welt konfrontiert werden. Der Film ruft mit schrecklichen Bildern schreckliche Emotionen hervor. Mein Ziel war es, ganz provokativ
dieses Gefühl im Zuschauer zu wecken und daraus ein Horrorszenario weiterzuführen.
Wir werden uns verändern steht in einer klaren Doppeldeutigkeit am Anfang des Films. Wie sehr geht die
Lust am Experimentieren mit dem erzählerischen Handwerk mit einem ökologisch/politischen Statement einher. Sie sparen ja nicht
mit Ironie weder was Ihren Blick auf die Politik noch auf die Wissenschaft betrifft.
MARVIN KREN: Das ist mir auf alle Fälle ein Anliegen. Dem kann ich nichts hinzufügen.
Blutgletscher spielt im Milieu von Wissenschaftlern. Haben Sie, um ein glaubwürdiges Szenario zu entwerfen bzw. eine Theorie
zu entwickeln, auch mit Wissenschaftlern zusammengearbeitet?
MARVIN KREN: Ich habe eine Glaziologin aus Innsbruck zu Rate gezogen und aufs Set eingeladen, damit alles seines Richtigkeit hatte. Ich
habe viel recherchiert und den Schauspielern viel einschlägige Literatur zum Lesen gegeben, denn nichts ist schwieriger als
von Schauspielern zu verlangen, Wissenschaftler zu spielen. Viel inspirierender war aber Werner Herzogs Begegnungen am Ende
der Welt. Dieser Film hat auf eine sehr unterhaltsame Weise eine Realität abgebildet, wie Wissenschaftler leben, was sie bewegt,
welchen Spleen sie haben. Herzogs Film war stilbildend und hat auch unsere Szenenbildnerin Alexandra Mahringer inspiriert,
die Innenräume der Forschungsstation für Blutgletscher zu gestalten. Werner Herzog ist überhaupt einer der Besten.
Wie hat sich die Suche nach dem geeigneten Drehort gestaltet? Nach welcher Art von Berglandschaft haben Sie gesucht?
MARVIN KREN: Wir wollten unbedingt nach Südtirol. Nicht nur aus finanzierungstechnischen Gründen, sondern auch, weil die Bergwelt mich
dort besonders fasziniert. Wir suchten nach einem Gebirge, das auch auf großen Höhen über weite Täler verfügt. Die Nordtiroler
Berge sind ja eher in einer engen Gassenwirtschaft angelegt, die Südtiroler Berglandschaft ist da anders strukturiert
und bietet eine epische Kulisse. Unser Motiv hätte es nicht besser treffen können, allein der Gletscher, den wir dann rot
färben, ist schon ein so beeindruckendes und alarmierendes Bild unserer Zeit. Es ist ein Gletscher, der bis vor wenigen Jahrzehnten
ins Tal gereicht hat und nun enorm geschrumpft ist und immer weiter schmilzt. Der Drehort befindet sich in Sulden, das übrigens
auch das Lieblings-Wandergebiet von Angela Merkel ist, die jeden Sommer dorthin zum Wandern kommt. Der gesamte kleine Ort
ist dann mit Bodyguards ausgestattet. Einmal ist Angela Merkel sogar zu uns ans Set gekommen und hat uns begrüßt.
Ist ein Dreh in dieser Höhe selbst im Sommer mit großen Strapazen verbunden?
MARVIN KREN: Die große Frage war, ob das Wetterglück auf unserer Seite ist. Und es ist alles gut gegangen. Man muss aber bedenken, dass
der Ort Sulden schon auf 2500 m liegt, dann gibt es noch eine Seilbahn, die zu unserem Hauptdrehort geführt hat. Wenn man
so wie wir gewohnt ist, auf normaler Seehöhe zu leben, ist arbeiten auf 3000 m schrecklich. Das verlangt einiges ab. Das Team
war enorm tapfer, dennoch ist einer nach dem anderen für zwei Tage der Höhenseuche zum Opfer gefallen, d.h. einer Magen-Darm-Grippe,
die schnell wieder vorbei ist. Ich bin glücklicherweise verschont geblieben. Wettermäßig ging es über alle fünf, sechs Drehwochen
gut, just am letzten Tag ist dann der Schnee ausgebrochen. Ein anderes österreichisches Drehteam, das auch in Südtirol gedreht
hatte, hatte weniger Glück, bei ihnen hat der Blitz eingeschlagen. Mit diesem Wissen ist meine Crew angereist und mir wurde
als Regisseur bewusst, welche Verantwortung man als Filmemacher auch fürs Team trägt.
Wie haben Sie Ihren Cast zusammengestellt? Gerhard Liebmann verkörpert ja nicht nur die kauzige/humane Kontrastfigur zu den
empathielosen und ehrgeizigen Wissenschaftlern, da schwingt auch eine Piefke/Österreicher-Note mit.
MARVIN KREN: Ja, das war uns auf alle Fälle ein Anliegen, damit zu spielen. Gerhard Liebmann ist für mich einer der besten, wenn nicht
der beste männliche Schauspieler, den wir in Österreich haben. Er ist der wandlungsfähigste Mensch, den ich kenne. Als junger
Filmemacher habe ich den Ehrgeiz und den Spaß daran, einen Schauspieler in ein neues, bisher ungewohntes Licht zu rücken.
Bis dato hat Gerhard Liebmann gute Nebenrollen gespielt hat, mir haben sein Gesicht und seine Herzenswärme gefallen. Ich wollte
ihn ins Zentrum rücken, ihm sozusagen ein Vollbad geben und dieses Abenteuer mit ihm durchstehen. Das hat auch den richtigen
Anstoß für den gesamten Film geliefert. Wenn man als Wiener in ländliche Gegenden reist und ins Wirtshaus geht, dann sieht
man Typen sitzen, die dort als Bauer oder Holzfäller leben oder sie sind bei der Bergrettung. Ihre Gesichter haben etwas Filmisches
und schauen manches Mal wie verwegene Helden aus. So etwas wollte ich authentisch darstellen. Bei Genrefilmen ist das sehr
reizvoll und John Carpenter hat es vorgemacht, dass man nicht unbedingt einen ganz bekannten Star hat, sondern jemanden, den
man im Starsystem nicht eindeutig einordnen kann. In Österreich gibt es zwar kein Starsystem, aber mit Gerhard Liebmann in
der Hauptrolle hat man es mit jemandem zu tun, den man nicht wirklich einordnen kann: muss ich ihn mögen oder ist er total
unsympathisch? Wird er sterben oder überleben? Das war unsere Herangehensweise. Und da ich ja in Deutschland studiert habe
und weiß, wie sehr die Österreicher die Deutschen mögen, wollte ich mit dem Gegensatzpaar ein bisschen spielen.
Edita Malovcic ist ebenfalls eine Schauspielerin, die man länger in keiner größeren Rolle im Kino gesehen hat.
MARVIN KREN: Edita ist eine Schauspielerin, die mir total liegt, weil sie keine Technikerin ist. Sie ist zwar Sängerin und versteht es,
viele Emotionen auf Knopfdruck abzurufen. Sie ist aber v.a. ein Bauchmensch und agiert intuitiv. Ich wollte eine
Frau für die Figur der Tanja, die gleichzeitig Mutter und Kriegerin sein kann. Mein Vorbild war Sigourney Weaver in Alien.
Stichwort Mutter. Sie haben wie in Rammbock auch in Blutgletscher eine zentrale Rolle ihrer Mutter überlassen.
Was veranlasst Sie, mit ihrer Mutter zusammenzuarbeiten?
MARVIN KREN: Weil sie mich erpresst. (lacht). Nein, nicht nur, dass ich meine Mutter liebe, ich respektiere sie als Schauspielerin und
als Mensch. Sie ist ein Chef. Für mich als Sohn ist die Mutter der Chef. Die Rolle der Ministerin musste eine Chefin
sein und als Regisseur bin ich am Set der Boss. Da braucht man jemanden, mit dem man sich reiben kann. Und das war meine Mutter,
die zufälligerweise auch noch eine gute Schauspielerin ist. Benjamin Hessler, mein Drehbuchautor, kennt meine Mutter sehr
gut und hat diese Rolle dezidiert auf sie hingeschrieben. Sie ist eine sehr kleine Frau, aber sie ist die mutigste Frau, die
ich kenne.
In einer der letzten Einstellung haben Sie noch eine Überraschung parat ein Indiz für ein Sequel oder ein ironisches
Statement zum Schluss?
MARVIN KREN: Es ist die dramaturgische Klammer zum Anfangssatz Wir werden uns verändern. Man kann so einen Film damit enden,
dass man sagt, die Menschheit wird ausgelöscht oder es geht weiter, weil die Biologie einen Weg gefunden hat, weiterzuexistieren.
Und diese Schlusspointe ist eine Kombination, die natürlich nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Aber auch das ist Horrorfilm.
In einem Interview zu Rammbock sagten Sie vor drei Jahren In Österreich oder Deutschland kann man kein künstlerischer
Filmemacher sein, der sich mit Horrorthemen beschäftigt. Haben Sie nun nicht doch eine Nische gefunden, die Sie zwischen
persönlicher Handschrift und Genrekino agieren lässt?
MARVIN KREN: Unser Film ist eine Art trojanisches Pferd. Wir haben eine kommerzielle äußere Hülle, die sich wie ein Horrorfilm anfühlt,
darunter verbirgt sich ein eigenes Regelwerk, innerhalb dessen man sich austoben darf. Dominik Graf ist eines meiner größten
Vorbilder. Der macht Polizeifilme, da schnall ich ab. Besser gehts nicht. Es muss in Zukunft nicht immer nur Horror
sein, ich kann mir auch vorstellen, dass mal Science Fiction oder einen Thriller oder eine Komödie zu machen. Sich vertrauter
Schemen bedienen, sie brechen, mit ihnen spielen das wäre mein Credo fürs weitere Filmemachen.
Interview: Karin Schiefer (2013)