«Wir haben es hier mit einem Spiegelbild zu tun: Wenn ich diese fettleibigen Jugendlichen sehe, dann weiß ich, dieses Phänomen
entsteht aus einer kranken Gesellschaft.» Ulrich Seidl über den dritten Teil seiner PARADIES-Trilogie, PARADIES: Hoffnung
In allen drei Ihrer Paradiese ist der Körper dem Menschen in gewisser Weise ein Feind: ob er einem Schönheitsideal widerspricht,
er zur Projektion (un)erfüllbaren Glücks wird, ihm Schmerz zugefügt wird, er gelähmt ist oder seine Lust als Quell moralischen
Übels betrachtet wird. Warum laufen alle Suchen nach dem Paradies in der Körperlichkeit zusammen?
Ulrich Seidl: Die Körperlichkeit spielt eine große Rolle, ist aber nicht die einzige Ebene, um die es geht. Ein Thema ist
der Körper der Frau, insbesondere der nicht dem Ideal entsprechende Körper der Frau, sondern das verordnete Schönheitsbild.
In PARADIES: Glaube ist der Körper als Instrument, sich zu züchtigen ein Thema, wobei zwischen Züchtigung und Lust nur ein
sehr schmaler Grat liegt. Bei den Jugendlichen in PARADIES: Hoffnung geht es auch um den Körper, der nicht entspricht. Dahinter
sehe ich aber auch ein gesellschaftliches Problem. Die Statistik sagt uns, dass heute schon mehr als die Hälfte einer Schulklasse
übergewichtig ist. Das ist unter dem Aspekt der Volksgesundheit betrachtet ein alarmierender Hinweis darauf, welchen Weg unsere
Gesellschaft gerade beschreitet. Und ein massiver Kritikpunkt, den ich in PARADIES: Hoffnung ansprechen möchte. Den Jugendlichen
ist hier kein Vorwurf zu machen, sie werden in eine Welt hineingeboren, die dieses Problem erzeugt. Da muss man nach den Gründen
fragen.
Sie thematisieren in PARADIES: Liebe wie auch in PARADIES: Hoffnung den Körper, der nicht dem Ideal entspricht und das Geschäft
damit, das allerdings verschiedene gesellschaftliche Realitäten bloßlegt. Kommt in PARADIES: Liebe das wirtschaftliche Machtverhältnis
zwischen Nord und Süd zutage, so erzählt PARADIES: Hoffnung etwas vom Umgang der westlichen Gesellschaft mit ihrer nachkommenden
Generation. Für mich entsteht der Eindruck, die Kinder sind in diesem Camp einem Dompteur und einem möglichen Scharlatan und
letztendlich sich selbst überlassen?
Ulrich Seidl: Vom Umgang der Gesellschaft mit ihren Nachkommen zu erzählen, war nicht unbedingt mein Ansatz. Wir haben es
hier mit einem Spiegelbild zu tun. Wenn ich diese fettleibigen Jugendlichen sehe, dann weiß ich, dieses Phänomen entsteht
aus einer kranken Gesellschaft. In einzelnen Fällen kann es an der seelischen Verwahrlosung und den familiären Verhältnissen
liegen, aber es liegt vor allem auch an den Ernährungsverhältnissen und der Macht der Industrie. Der Beschaffenheit der Lebensmittel
kann man sich ja gar nicht mehr entziehen und sie sind der Hauptfaktor, der für das Übergewicht der Kinder verantwortlich
ist. Für die Politiker, aber im Grunde für uns alle müsste der Anblick der dicken Jugendlichen ein Alarmzeichen sein. Das
ist mein Kritikpunkt. Was Sie als Dompteur wahrnehmen, geht darauf zurück, dass es Diätcamps gibt, deren Konzept darauf beruht,
dass man durch Disziplin und Ordnung möglicherweise diese Krankheit auch in den Griff bekommt. Da gibt es unterschiedlichste
Anschauungen. Die Erfolgschancen sind, auch wenn das der Film nicht erzählt, sehr gering. Sobald man diesen besonderen Rahmen
des Camps verlässt, ist meist alles wieder beim Alten.
Erklärt das auch den reduzierten, beinahe abstrakten Rahmen, in dem der Ort, wo das Diät-Camp des Films stattfindet, der Aktualität
und der Realität entrückt ist?
Ulrich Seidl: Die Jugendlichen sind natürlich total abgeschottet. Das Haus liegt in totaler Einsamkeit, rundherum ist nichts.
Sie werden aus normalen gesellschaftlichen Verhältnissen herausgehoben, zusammengeführt und gedrillt, in der Annahme, dass
ein heilsamer Prozess in Gang kommt.
Zu einem echten Dialog zwischen Erwachsenen und Jugendlichen kommt es im Zuge dieses Camps jedenfalls nicht.
Ulrich Seidl: Ich glaube, das Motiv der Eltern, ihre Kinder auf ein Diätcamp zu schicken, ruht einerseits in einer Hilflosigkeit,
andererseits im Wunsch, ein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Man will ja auf eine Art, das Beste fürs Kind. Ärzte oder Ernährungswissenschaftler,
die sich mit der Thematik auseinandersetzen, wissen, dass die Chancen auf Heilung äußerst gering sind. Es ist wie eine Sucht,
die man, wenn man sie als Kind hat, sehr wahrscheinlich nicht mehr los wird. Insofern ist die Anklage, auf einer größeren
Ebene zu führen, die man wieder aufs Geld und den Kapitalismus zurückführen kann. Warum haben wir diese Lebensmittel? Warum
sind diese Zuckergetränke verfügbar? Weil die Industrie sie erzeugt und damit Geld gemacht werden kann. Auf die Gesundheit
von Kindern und Jugendlichen wird keine Rücksicht genommen.
Leichtigkeit kommt in diesem nüchtern bedrückenden Rahmen des Camps dann durch die Jugendlichen selbst ins Spiel, vor allem
wenn sie untereinander sind. Wenn sie sich dem strikten Regelwerk entziehen, dann kommt Hoffnung auf ...
Ulrich Seidl: Ja, gottseidank. Es wäre schlimm, Jugendliche zu zeigen, die depressiv und demotiviert sind, weil sie an ihrer
Körperlichkeit leiden. Aber natürlich leiden sie an ihrer Fettleibigkeit, weniger, wenn sie unter ihresgleichen sind, als
wenn sie mit anderen Gleichaltrigen konfrontiert sind. Dass sie Komplexe haben, steht außer Zweifel.
Wie nähert man sich dieser Generation fürs filmische Arbeiten?
Ulrich Seidl: Für mich ist das immer ein spannender Prozess. Wenn ich mich den Beach Boys in Kenia annähere, dann tu ich das
aus einem tiefen Interesse heraus. Ebenso interessiert es mich, wie Jugendliche ihre Zeit auf einem Diätcamp verbringen. Ich
habe das wie immer sehr genau recherchiert, ich begann zwei Jahre vor dem Dreh mit meiner Recherche, da diese Camps ja nur
in den Sommerferien stattfinden. Ich habe die Jugendlichen beobachtet und auch Interviews und Castings gemacht, um meine Materie
kennenzulernen, um herauszufinden, wie die Jugendlichen denken, wie sie funktionieren. Die Entscheidung, wer von ihnen in
die engere Wahl kommt und wer schließlich mitmachen würde, bedurfte eines langen Prozesses. Die Arbeit selbst mit den Jugendlichen
war sehr erfreulich. Sie waren so bei der Sache und selbst wenn sie nicht bei der Sache waren, war es toll, mit ihnen zu arbeiten.
Sie haben ihren Spaß gehabt, natürlich gab es auch Tränen, aber sie waren die drei Wochen hindurch sehr konzentriert. Wir
haben ja quasi das Camp in den Dreh integriert. Die Aktivitäten wurden mit dem Dreh abgestimmt, sodass die einen beschäftigt
waren, während die anderen drehten. Für uns alle war diese Arbeit eine besondere Erfahrung, wo auch meine Verantwortung als
Regisseur eine andere war, weil ich es mit Minderjährigen zu tun hatte.
Was hat Melanie Lenz eingebracht, was ihr den Hauptpart verschafft hat?
Ulrich Seidl: Da kommt immer eine Kombination an Faktoren zum Tragen. Voraussetzung ist, dass jemand vor der Kamera agieren
kann, dass das, was die Szene erfordert, sofort abrufbar ist. Da waren auch andere gut Verena z.B., die Melanies Freundin
spielte. Die beiden waren meine letzten beiden Kandidatinnen und wir überlegten lange hin und her, ob Melanie oder Verena
die Hauptfigur werden sollte. Geschrieben war es ein bisschen anders. Im Drehbuch hieß die Hauptfigur Lolita, war frech und
hatte es schon faustdick hinter den Ohren, was bei Melanie ja gar nicht der Fall war. Verena hatte schon sexuelle Erfahrung,
Melanie nicht, genau, wie man es auch im Film hört und irgendwie hab ich dem mehr vertraut. Die Figur brauchte ein Mädchen,
das eher ein bisschen schüchtern ist, Verena war da schon ein wenig zu abgebrüht, das wäre falsch gewesen. Jugendliche muss
man bei einer Besetzung so nehmen, wie sie sind, das kann man nicht umpolen und das würde den Handlungsspielraum einschränken.
Auch Melanies Aussehen fand ich für ihre Rolle stimmig, ihr liebes Gesicht und dann ein Körper, der nicht dazu stimmt.
Die Schwierigkeit des Castings lag bei diesem Film vielmehr in der Frage, den Arzt zu finden, mit dem auch das Zusammenspiel
gut funktionierte. Wir haben sehr lange gesucht. Ich habe sogar Ulrich Tukur gecastet, der aber nach dem Casting zurückgezogen
hat. Bei meiner Methode ist es aus zeitlichen Gründen sehr schwierig, mit so namhaften Stars zu arbeiten. Ulrich Tukur könnte
gewiss nicht wie Josef Lorenz drei Wochen lang das war die Dauer des gesamten Drehs standby zur Verfügung stehen.
Heißt das, der Dreh hat im Rahmen eines tatsächlichen Diätcamps stattgefunden?
Ulrich Seidl: So ist es. Allerdings ein Diätcamp, das wir im Wechsel/Semmering-Gebiet auch veranstaltet haben. Wir haben die
Rahmenbedingungen und Betreuer organisiert und haben auch für Diät kochen lassen. Das hat nicht wirklich die erwünschte Wirkung
erzielt, denn nach der ersten Drehwoche gab es einen Besuchstag und die Eltern haben ihren Kindern so viele Süßigkeiten und
Getränke mitgebracht, dass ihnen so übel war, dass wir den folgenden Montag als Drehtag vergessen konnten. Das sagt auch etwas...
Es gibt in Österreich eine ganze Reihe von Camps, die sich von Ansatz her nicht besonders stark voneinander unterscheiden.
Dass die Camps unter dem strengen Diktat von Disziplin und Ordnung ablaufen, das gibt es in Amerika. Mir war es ein Anliegen,
es nicht kindergartenbunt darzustellen, sondern diesen Aspekt der Disziplin zu hervorzukehren.
Wenn es über die Figuren hinaus einen Protagonisten im Film gibt, dann ist es das Gebäude. Wo haben Sie es gefunden?
Ulrich Seidl: Das Gebäude ist ein Gymnasium in Kirchberg am Wechsel, das der Diözese Wien gehört und in den fünfziger Jahren
gebaut worden ist. Damals war es ein Internat für angehende Priester. Wir hatten nach einem alleinstehenden Haus im Grünen
gesucht. Bei diesem Haus war ich mir sehr schnell sicher, dass es meinen Vorstellungen entspricht. Es hätte auch ein buntes
Sporthotel in Maria Alm gegeben. Ich habe den Film eher in der nüchternen Strenge des Gymnasiums gesehen. Es war nicht einfach,
eine Drehgenehmigung zu bekommen. Nachdem wir schon einiges an Arbeit und Zeit in diese Location investiert hatten, zog die
Schule zurück. Mir blieb dann nichts anderes übrig als es über die übergeordnete Stelle, die Erzdiözese Wien zu versuchen,
wo es dann auch innerhalb weniger Tage geklappt hat.
Sowohl in PARADIES: Glaube als auch in PARADIES: Hoffnung ist der Raum sehr präsent. Warum?
Ulrich Seidl: Der Raum sagt immer etwas über die Menschen und trägt immer zu dem bei, was ich erzählen möchte. Bei Anna Maria
in PARADIES: Glaube sieht man an in diesem veralteten Haus, an dem schon länger nichts mehr gemacht worden ist, wie sehr sie
sich auch von der Welt abschottet und sich in einer Leblosigkeit einbettet. In Anna Marias Haus lebt nichts mehr. Das
zeigt auch das Innere von ihr. Ich wollte zeigen, dass sie klaustrophobisch ist, dass sie sich einsperrt, die Vorhänge, die
Jalousien zuzieht. Und alles hat einen Farbton und auch ihre Art sich zu kleiden oder sich zu frisieren, ist sehr strikt und
kalt.
In PARADIES: Hoffnung ging es um etwas anderes. Das Gebäude sagt nichts über die Kinder, die kommen ja von außen dorthin,
sondern es sagt etwas über das Ordnungsprinzip, wie man mit diesen Kindern umgeht.
Eine Szene irritiert und überrascht mit einem sehr rätselhaften Moment zwischen der ohnmächtigen Melanie und dem Arzt. Wie
ist Ihr Zugang zu dieser Szene?
Ulrich Seidl: Das war halt meine Idee, ein Bild zu finden, das zwischen den beiden absteckt, wie weit es gehen kann. Er vergreift
sich nicht an ihr. Er missbraucht sie nicht, aber er riecht an ihr. Er ersehnt sie oder begehrt sie und das kann er gerade
tun, ohne sich an ihr zu vergehen. Ich wollte in dieser Szene das sichtbar machen, was da in ihm arbeitet.
In allen drei Filmen ist das Verhältnis zwischen Frauen und Männern sehr stark von Macht geprägt und durch festgefahrene Positionen
bestimmt. Lassen Sie da im dritten Teil Ihrer Trilogie auch insofern etwas von Hoffnung aufkommen, dass diese ganz junge Frau,
etwas in diesem Gefüge aufbricht. Sie steht eindeutig in einem Machtverhältnis zu diesem Arzt und löst in ihm etwas aus, das
ihn emotional selbst überrascht und überwältigt.
Ulrich Seidl: Melanie handelt mit der Unbedingtheit der ersten Liebe und ist von ihrem Wesen her auch sehr offen. Der andere
Punkt ist der, zu sagen, dass so etwas nicht undenkbar ist und es einem passieren kann, dass man sich in ein Mädchen, das
keinem Schönheitsideal entspricht und das noch dazu minderjährig ist, verlieben oder es sexuell begehren kann. Das wollte
ich auch erzählen. Es war nicht einfach, diese Figur des Arztes zu erzählen. Hätte ich die Figur eines Mannes gezeichnet,
der sofort damit spekuliert oder pädophil veranlagt ist, dann wäre es in die falsche Richtung gegangen. In der ersten Szene
im Wald geht er ihr nach, weil er es nicht lassen kann und gleichzeitig weiß er darum, dass es verboten ist und dass er dran
wäre, würde er die Grenzen nicht respektieren. Die Umarmung zwischen den beiden ist sehr zögerlich, sie sagt ich würde
gerne, aber es geht nicht.
Ihre Bilder gewinnen von Film zu Film an Stärke und Dichte nicht zuletzt durch ihre geometrische Prägnanz, die in der Trilogie
oft von der Linie bestimmt ist. Es entsteht ein Eindruck, dass Sie immer mehr mit immer weniger Bildern erzählen.
Ulrich Seidl: Es ergibt wahrscheinlich nicht umsonst gerade jetzt dieses Zusammentreffen der Foto-Ausstellung in der Berliner
Galerie CO und das Fotobuch, das während der Berlinale erscheint. Es ist ein Ansinnen von mir, dass die Bilder als Einzelbilder
funktionieren müssen und nicht nur im Fluss einer Erzählung. Das ist eine Beobachtung, die auch der Kurator der Ausstellung
auf der Pressekonferenz in Berlin erwähnt hat, als interessante Bewegung zur Fotografie hin, während vielfach von Filmemachern
der umgekehrte Weg von der Fotografie zum Film gegangen wird.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2013