Im idyllischen Ort Ebensee gehören der Glöcklerlauf und der Schützenverein ebenso zum Alltag wie die Gedenkfeier zur Befreiung
des ehemaligen NS-Konzentrationslagers. Sebastian Brameshuber begleitete in Und in der Mitte da sind wir ein Jahr lang drei Jugendliche aus dem Ort. Er zeigt ihre Suche nach Identität und das Aufwachsen in einer Welt zwischen Vergangenheit
und Heute, ländlichen Traditionen und eigenen Wünschen.
Wie sieht Ihr persönlicher Bezug zum Ort Ebensee aus?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Ich bin ganz in der Nähe von Ebensee aufgewachsen, bin auf meinem Schulweg Richtung Bad Ischl durch Ebensee durchgefahren.
Ebensee ist kein besonders schöner Ort, hat aber durch sein Industrie-Flair auch wieder seinen Reiz. Es war bis zum Ende des
19. Jhs. nur am Seeweg oder am Landweg über Bad Ischl erreichbar. Man spricht dort deswegen einen anderen Dialekt als am Nordufer.
Zwischen Gmunden, wo ich herstamme, und Ebensee besteht eine Rivalität, die etwas bizarr ist, sich aber historisch erklären
lässt. Gmunden war immer bürgerlich und reich, Ebensee der Arbeiterort und arm. Entsprechend war das Verhältnis von wenig
gegenseitiger Achtung geprägt.
Waren es die Vorfälle, die 2009 bei der Gedenkfeier im ehemaligen KZ Ebensee passiert sind oder auch die eigene Erinnerung
an die Jugendzeit in einem kleinen Provinzort, die Sie zu diesem Filmprojekt inspirierten?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: In gewisser Weise beides. Die Vorfälle, von denen ich im Ausland erfuhr, waren auf alle Fälle die Initialzündung. Ich erinnere
mich gut ans Aufwachsen am Land, die Fadesse, der man zu entfliehen versucht oder auch nicht. Ich wollte damals um jeden Preis
weg von dort, bei den Jugendlichen, mit denen ich drehte, habe ich nicht unbedingt den Eindruck gewonnen, dass es sie wegzieht.
Ein persönlicher Bezug zu den Ereignissen bei der Gedenkfeier besteht auch deshalb, weil mein Vater Lehrer in Traunkirchen,
einem Ort zwischen Gmunden und Ebensee war. Damals gab es eine sogenannte Ausländer-Klasse, das war eine Klasse, die von Schülern
aus den verschiedensten Krisenregionen dieser Erde besucht wurde, da es im Ort in einem ehemaligen Hotel ein Flüchtlingsheim
gab. Auf dieses Hotel wurde Anfang der neunziger durch junge Neonazis ein Brandanschlag verübt. Einer der Täter war der Sohn
einer bekannten Familie. Es war eine große Aufregung, dass er dabei war. Mein Vater hatte ihn im Vorfeld des Anschlages öfters
eingeladen und versucht, den jungen Mann davon zu überzeugen, seine Haltung zu ändern.
Eines der Eröffnungsbilder ist der Blick in einen Stollen, in ein schwarzes Loch in der Mitte des Bildes. Es verweist auf
einen blinden Fleck, auf etwas in der Dunkelheit Belassenes. Der Film schaut bewusst nicht konkret auf diesen Vorfall hin,
auch nicht in die Ebenseer Geschichte mit dem NS-Konzentrationslager zurück, sondern stellt vielmehr die Frage: Wie schaut
die Gegenwart in einem Ort aus, wenn man seine Geschichte ausblendet? Wie färbt die Geschichte auf einen Ort ab, obwohl oder
weil man damit nicht umgeht. Eigentlich eine Geschichtsbetrachtung im Negativ.
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Es ist ein blinder Fleck. In Österreich wurde und wird in vielen Gesellschaftsschichten kein Umgang mit der Vergangenheit
gepflegt. Und die jetzt kommenden Generationen haben noch weniger Bezug zum Nationalsozialismus. Fast alle Großeltern der
Jugendlichen, mit denen ich gedreht habe, wurden bereits nach dem Krieg geboren. Die zeitliche Distanz wird größer. Ebensee
fällt durch das Konzentrationslager, das es dort gab, die Aufgabe einer konkreteren Auseinandersetzung zu, auch wenn es nur
eine negative, also eine invertierte Auseinandersetzung ist. Ich denke an die Jugendlichen, die in der Unterführung
stehen und blöde Witze über den Stollen machen. Diese Witze kamen aus dem Nichts, ich habe sie nicht dazu angehalten, darüber
zu reden. Das Tabu ist ständig Thema. Die Eltern wollen das Thema nicht aufgreifen, sie lehnen es eher ab und wollen damit
nichts zu tun haben. Es wird relativiert (Heute gibt es auch gravierende Probleme) oder weggeschoben. Nicht nur
von den Leuten, die unmittelbar neben dem ehemaligen KZ wohnen, sondern auch von denen, die in einer größeren Distanz dazu
leben, wird die Erinnerungsarbeit als lästig empfunden. Ich war selbst fassungslos, als ich im Zuge meiner Arbeit am Film
feststellte, dass sich der örtliche Schützenverein in einem Stollen, der Teil der KZ-Anlage war, einmietet und dort schießt.
Ich konnte es nicht glauben, dass niemand im Ort etwas dagegen einwendet. Es gibt ja auch ein Zeitgeschichte-Museum in Ebensee.
Nichts, was dort geschieht, ist illegal, aber es ist vollkommen pietätlos. Wenn man in einem solchen Umfeld aufwächst, erstaunt
mich die Störaktion der Jugendlichen während der KZ-Gedenkfeier nicht mehr sonderlich. Mein Film ist kein Aufdeckerfilm. Ich
habe Dinge festgehalten, die mir begegnet sind.
Hat sich Ihr Konzept, mit dem Sie an den Dreh gegangen sind, durch die lange Dreharbeit verändert? Hat sich nicht im Prozess
des Filmens sehr viel ergeben?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Ja, sehr viel sogar. Es war anfangs eine große Herausforderung, einen formalen Zugang zu finden. Ich hatte es unterschätzt,
mit Pubertierenden zu arbeiten, die in alle Richtungen losgehen. Es war schwierig, alles in eine visuelle und auch in eine
inhaltliche Form zu bringen. Da hat sich viel zu meiner Zufriedenheit im Lauf der Arbeit ergeben: das Kennenlernen des Orts,
der Protagonisten, das Verstehen der Zusammenhänge. Man trifft ja nicht auf komplette Ignoranz, sondern auf Umstände, die
man auch nachvollziehen kann. Ramonas Familie lebt auf dem ehemaligen KZ-Areal. Sie wird heute mit der Frage konfrontiert,
wie man da nur leben kann. Ihre Familie hat mit den historischen Ereignissen nichts zu tun und es ist österreichischer Nachkriegspolitik
zu verdanken, dass sich dort eine Wohnsiedlung befindet. Das Grundstück wurde nach dem Krieg zur Bebauung freigegeben und
heute leben rund 200 Familien auf diesem historisch aufgeladenen Boden. Darüber-Bauen ist auch eine Art von Geschichtsbewältigung.
Natürlich schafft das Probleme. Ich verstehe, dass Leute, nur weil sie den historischen Kontext kennen, nicht alles aufgeben
und hinter sich lassen. Es gab zwar immer Gedenkfeiern und den Gedenkfriedhof bald nach dem Krieg, weil sich Nachkommen der
Opfer dafür eingesetzt haben. Im Ort bzw. speziell in der Finkerleiten hingegen begegnet man einer Ablehnung der Erinnerungsarbeit,
die beinahe ins Aggressive geht. Man versteht zunächst nicht, woher sie kommt. Näher betrachtet, wird klar, dass man sich
Schutzmechanismen schaffen muss, um dort leben zu können. Und das geht scheinbar nur durch aktives Desinteresse und aktive
Ablehnung. Es ist nämlich keine Gleichgültigkeit.
Im Film zeigen Sie eine Form der Aufarbeitung der Störaktion 2009 durch einen Lehrer.
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Ich habe die Gerichtsprozesse besucht. Es hat vier Angeklagte gegeben, zusätzlich wurden sieben Zeugen aufgerufen, die während
dieser Aktion alle mit im Stollen waren. Das heißt, es waren mindestens elf Leute daran beteiligt. Ich überlegte damals noch,
ob ich daraus das Filmthema machen sollte. Da elf Jugendliche beteiligt waren, lag für mich der Schluss nahe, dass es sich
nicht um ein gesellschaftliches Randphänomen handelte, was bei Neonazis der Fall ist, sondern dass wir uns hier gesellschaftlich
in der Mitte befanden. Das war mein Ausgangspunkt. Es hat mich weniger interessiert, was genau vorgefallen ist und man erfährt
im Film auch nicht mehr, als dass eine gravierende Störaktion stattgefunden hat, bei der Jugendliche u.a. Sieg Heil!
gerufen haben. Was mich vielmehr interessiert hat, war der Umgang der Ortsbevölkerung damit. Das war für mich ein Spiegelbild
dafür, wie mit unangenehmer Geschichte umgegangen wird, nämlich gar nicht. So wie man es aus der eigenen Geschichten kennt,
wie schwer es fällt, einzusehen, dass die eigenen Großeltern Teil einer Vernichtungsmaschinerie und dieses Unrechtssystems
waren, so fällt es den Menschen im Ort schwer, zu sehen, dass sich Jugendliche aus dem Ort, die man kennt, die vielleicht
Mitschüler oder Kinder von Freunden sind, an so etwas beteiligen und sich dadurch in mehr oder weniger unmittelbare Nähe der
größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begeben. Es ist sehr schwierig, da die Fakten sachlich auseinanderzudividieren.
So ein Vorfall wird sehr heiß gegessen. Gerade in dieser Gegend in Oberösterreich, wo es traditionell eine braune Szene gibt.
So ein Vorfall muss scharf geahndet werden, dennoch liegt für mich die Wahrheit dazwischen: In der Presse sprach man von einer
Neonazi-Aktion, im Ort von einem Lausbubenstreich. Wenn man sich beide Extreme vor Augen hält, dann sind beides Versuche zu
beschwichtigen. Auf der einen Seite, indem man das Ganze an den Rand der Gesellschaft drängt und sagt, das waren Neonazis.
Damit sind sie etikettiert und aus der Mitte der Gesellschaft entfernt. Diejenigen, die von Lausbubenstreichen reden, versuchen
es in die Sphäre der Kindheit zu drängen, die nicht ernst zu nehmen ist. Meiner Ansicht nach ist es ein Phänomen, das sich
in der Mitte der Gesellschaft ereignet, wo die Erinnerungskultur durch die grundsätzliche für Österreich so typische Nachlässigkeit
und dann auch durch die zunehmende zeitliche Distanz zu den Jahren vor 1945 in den Hintergrund gedrängt wird. Das ist ja da
der richtig beunruhigende Umstand.
Die Arbeit des Lehrers im Film scheint also eine Ausnahmeerscheinung zu sein?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Der Lehrer ist Religionslehrer, der Fragen der Ethik im Unterricht bespricht. Als ich zur Recherche dort war, wurde das Thema
Dilemma-Story behandelt, die nichts mit den Ereignissen in Ebensee zu tun hatte. Ich habe dann zu diesem Vorfall eine Dilemma-Geschichte
entwickelt, die dann in den Unterricht aufgenommen wurde. Viele Leute hatten sich über die Presseberichterstattung zum Vorfall
und den zu harten Umgang mit den Jugendlichen bei den Prozessen beschwert, eine Diskussion über die Vorfälle gab es im Ort
aber nicht, auch nicht auf Schulebene, von Ausnahmen abgesehen. Ich wollte keinen Film machen, der einen komplett hoffnungslos
entlässt. Familien und ihren Umgang mit Geschichte kann man kaum ändern, die Schule bietet da eher Möglichkeiten. Ich suchte
nach einer Szene, die ein Fenster zu einer möglichen Aufarbeitung des Themas öffnet.
Sie haben schon zweimal die Mitte der Gesellschaft als Kern dieses nicht vorhandenen Umgangs mit der Geschichte erwähnt. Zu
Beginn vernimmt man den Titel des Films als eine Zeile in einem Volkslied. Welche Bedeutungen hat der Begriff der Mitte
noch in diesem Film?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Gegen Ende des Schnittprozesses war ich mit dem bisher gültigen Titel Ebensee sehr unzufrieden, weil es nicht nur um Ebensee geht. In Ebensee werden manche Dinge deutlicher spürbar, weil durch die Existenz
des ehemaligen KZs die Geschichte und ihre Ablehnung bzw. Ausblendung unmittelbarer zum Tragen kommt. Zu diesem Thema hätte
ich wahrscheinlich in vielen Orten in Österreich etwas drehen können. Mit der Mitte meine ich auch das Jugendlich-Sein,
das Auf-halber-Strecke-Sein zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein, aber auch das Zwischen-den-Stühlen-Stehen zwischen
Anspruch und Wirklichkeit. Damit meine ich den Anspruch von institutioneller Seite, sich mit der Geschichte und der NS-Vergangenheit
auseinanderzusetzen und dann der Realität, dass das im wirklichen Leben und in den Familien nicht stattfindet. Ich bin in
dieser Gegend aufgewachsen und habe selbst erst, als ich zwanzig war und meinen Zivildienst absolvierte, von der Existenz
dieses KZs erfahren, obwohl ich nur wenige Kilometer davon entfernt aufgewachsen bin. Es war weder in der Schule noch bei
mir zu Hause, obwohl ich keineswegs aus einem komplett unpolitischen Elternhaus komme, ein Thema.
Über die Reflexion über einen problematischen Umgang mit der Geschichte hinaus ist Und in der Mitte, da sind wir ein sehr schöner Film über das Erwachsen-Werden. Sie haben Protagonisten gefunden, die nicht nur zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein
stehen, sondern auch zwischen Traditionsbewusstheit und der Sehnsucht nach dem Draußen, der weiteren Welt. Wie haben Sie sie
gefunden?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Ich habe in Kooperation mit der Ebenseer Hauptschule einen Casting-Aufruf gemacht, auf den sich ca. 50 Jugendliche gemeldet
haben. Vier davon habe ich ausgesucht, letztlich sind drei im Film geblieben: Michael, der mir erzählt hat, dass er noch nie
im Ausland war und auch gar nicht danach strebte, weil er in Ebensee alles habe. Ich habe versucht, meine Figuren auch immer
wieder in Kontrast zu meinem eigenen Erleben als Jugendlicher in dieser Gegend zu setzen. Wir waren eine große Familie, daher
war es eine Kostenfrage zu reisen, ich wäre aber sehr gerne gereist. Ich hab mich eher dafür geschämt, dass ich noch kaum
verreist war. Das schien mir provinziell. In Ebensee gibt es einen Stolz auf den eigenen Ort. Es beeindruckte mich bei Michael,
dass er sich so eindeutig positionierte. Bei Andi hat eher sein Musikinteresse meine Aufmerksamkeit erregt, erst nach Beginn
der Dreharbeiten kristallisierte sich sein Hang zu Waffen heraus, der dann in jener Zeit bestimmender war als seine musikalischen
Ambitionen. Mich interessierte, dass er zwischen zwei so unterschiedlichen Interessen stand, sich zwei derart unterschiedliche
Berufswege überlegte.
Ramona stammt aus einer großen Familie und lebt in der Finkerleiten-Siedlung, ganz nahe am KZ-Friedhof. Alle drei schienen
mir keine konventionellen Dokumentarfilm-Protagonisten zu sein. Ich habe weder nach Anti-Helden noch nach besonders extrovertierten
Leuten gesucht. Bei der Auswahl hat gewiss auch ein Gefühl mitgespielt, ich fand alle drei sehr treffend. Sie sind eher wortkarg und entsprechen den Durchschnittsjugendlichen, die dort leben. Wenn man sich Ramona am Bildschirm oder auf der
Leinwand anschaut, dann wird sehr schnell deutlich, dass sie in ihrer Schweigsamkeit ein sehr filmisches Auftreten hat. Michael
wiederum hat sich als sehr wandlungsfähiger und aktiver Charakter erwiesen. Bei Andi lagen die Dinge ähnlich. Sie durchleben
einen Lebensabschnitt, wo sich so viel verändert.
Das Interessante an diesen Portraits ist die Entwicklung im Laufe einer Adoleszenz. Der Film gibt diesen jungen Leuten Zeit,
reifer zu werden, aber auch den Zuschauern, um sie über einen längeren Zeitraum mitzuverfolgen. Eine Fernseh-Doku hätte vielleicht
nur die Zeit gehabt, Andi als Waffennarren darzustellen und Vorurteile zu bestätigen.
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Es würde zu kurz greifen. Wir haben fast eineinhalb Jahre gedreht, inklusive Vorbereitung kannte ich die Leute über mehr als
zwei Jahre. Die Beziehung zu ihnen wurde tiefer und ich entdeckte sie immer mehr in ihrem Facettenreichtum. Ich erinnere mich
an meine Jugend, was man in diesem Alter oft an Schwachsinn daherredet, ich denke besonders an Andi, wo es stark darum geht,
Männlichkeit zu definieren. Andi ist ein hochsensibler Typ, spielt aber gerne den harten Jungen. Waffen sind nun mal faszinierend
für Burschen in diesem Alter, umso mehr, wenn einem zwar nicht Waffen an sich, aber das Krieg-Spielen von zu Hause verboten
wird. Aggression auch die kriegerische ist leider Teil des menschlichen Seins. Zumindest unter den derzeitigen
Verhältnissen, deren Produkt wir sind. Wenn Andi z.B. sagt, er findet die Spezialeinheit cool, die Osama bin Laden erschossen
hat, dann erzählt er über eine Zeit, in der außergerichtliche Hinrichtungen durch Staaten öffentlich abgefeiert werden. Sie
einfach wegzuklappen ist kein adäquater Umgang damit. Wie die Entwicklungen dieser jungen Leute verlaufen, ist natürlich eine
Gratwanderung, sie könnten in die eine oder die andere Richtung kippen. Diese Spannung steckt im Film drinnen. Ich gewann
den Eindruck, dass es für die Jugendlichen auch cool ist, für eine gewisse Zeit ein Rechter zu sein. Als eine der wenigen
Jugend-Unkulturen hat es dort das Potenzial, so richtig zu provozieren. Andererseits bräuchte es in einem kleinen
Ort wie Ebensee eigentlich nur sehr wenig, um zu provozieren.
Es gelingt Ihnen ein sehr unbefangener Zugang zu den jungen Leuten, die Sie z.T. vor der Kamera als Gesprächspartner haben,
teils aus einer gewissen Distanz beobachten, fast ausschließlich in fixen Einstellungen. Warum haben Sie sich für diese Form
der Kameraarbeit entschieden.
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Ein Teil des Films war in fixen Einstellungen geplant. Dass wir dann noch mehr damit arbeiteten, geht darauf zurück, dass
es, wie schon erwähnt, schwierig war, die Jugendlichen im Zaum zu halten, sie in ein Format zu bekommen, um das man einen
Rahmen ziehen kann. Meist sind sie nicht allein, sondern in der Gruppe. Es ist eine Zeit, wo sich die innere Unruhe
auch in einer physischen Ruhelosigkeit manifestiert. Ich begann irgendwann, sehr streng zu arbeiten. Wir haben ihnen Mikrofone
angelegt, die Kamera aufgestellt und dann gab ich meistens ein konkretes Gesprächsthema vor. Ich bin immer eine Woche vor
Beginn des Drehblocks hingefahren, habe erkundet, was es Neues gab, besprochen, was ich nach Sichtung des Materials gerne
vertieft hätte. Mit der Zeit hat sich dieses Prozedere eingespielt. Mitgehen mit der Kamera und einfach nur beobachten, das
hätte nicht funktioniert. Der Nähe auf unserer Beziehungsebene hat diese Kameraposition wieder eine Distanz entgegen gestellt.
Ich bin selbst eher ein distanzierterer Mensch und ich mache lieber einen Schritt zurück und schaue mir die Dinge aus einiger
Entfernung an. Manchmal war auch Überzeugungsarbeit notwendig, vor allem bei Ramona, aus dem einfachen Grund, dass ich mich
in die Teenager-Zeit von Burschen besser hineinversetzen konnte als in die von Mädchen.
Eineinhalb Jahre Drehzeit haben unweigerlich auch bei strengen Vorgaben entsprechende Mengen an Material erzeugt. Mussten
Sie viel weglassen im Schnittprozess?
SEBASTIAN BRAMESHUBER: Ich habe es nie genau erhoben, aber ich schätze, es gab an die 80 Stunden Material. Entsprechend langwierig war der Schnittprozess.
Ich habe während des Drehs immer wieder das Material mit Emily Artmann gesichtet, mit ihr habe ich formal das Grundgerüst
für den Film gefunden und dann mit viel Feedback von ihr auch selber viel geschnitten. Ich lebe seit Herbst in Frankreich
und habe dort den Großteil des finalen Schnitts gemacht. Der räumliche Abstand zu Österreich bzw. Ebensee hat mir sehr geholfen,
dort ist mir auch der Titel eingefallen. Mir war es wichtiger, die Szenen, die erst über ihre Länge eine starke Atmosphäre vermitteln, auch lange stehen zu lassen
und nicht zu versuchen, alles zu erzählen. Lieber wollte ich Fragen auch unbeantwortet zu lassen. Ich wollte weniger die Behauptung eines Ganzen als vielmehr einen Vorschlag dazu bieten, der sich aus den Szenen, die jetzt
im Film geblieben sind, zusammensetzt. Die größte Schwierigkeit für mich war die moralische Gratwanderung nämlich die
Verpflichtung gegenüber den Jugendlichen und den Eltern, sie so zu zeigen, dass sie nicht schlecht wegkommen, ohne die wichtigen
Punkte, die mir ein Anliegen waren, auszusparen. Diese Balance zu finden, war auch beim Drehen schon schwierig und ich habe
auch viele innere moralische Kämpfe mit mir geführt. Man ist einer Realität verpflichtet, gleichzeitig ist das Thema so heikel,
dass ich nicht wollte, dass jemand, der sich freiwillig für dieses Projekt engagiert hat, schlecht aussteigt. Auch hier musste
ich in der Mitte bleiben. Eine Diskussion öffnen, ohne dabei eine andere zu schließen.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2014