INTERVIEW

Michael Glawogger über WHORES' GLORY

 

So wie sich über die Prostitution Mann-Frau-Verhältnisse aufzeigen lassen, so stand für mich beim Thema Religion der Aspekt im Vordergrund, dass sie innerhalb einer Gesellschaft eine bestimmte Vorgabe zur Sexualität liefert. Diese Vorgabe wird in diesen drei Formen der Prostitution sehr deutlich widergespiegelt. Michael Glawogger im Gespräch über WHORES' GLORY.


Das Thema der Prostitution hat immer wieder Ihre Arbeiten gestreift - in Megacities, Workingman's Death - Wie hat sich Prostitution als Thema  eines Filmprojekts etabliert?
Michael Glawogger:  Die Beobachtung ist sicherlich richtig, dass Whores' Glory in der Cassandra-Episode von Megacities ihren Ausgang nimmt, da mir darin aufgefallen ist, wie vielschichtig das Thema sein kann und es in dieser Szene bereits ist: Es spielen da religiöse Belange, Mann-Frau-Verhältnisse, intime Dinge wie das Sprechen über Sexualität  hinein. Im Besonderen fußt der Film in einer kleinen Szene von Megacities, die wir in einer Gasse gedreht haben, wo es ein Ritual gab, das ich den "Gänsemarsch" nannte und das folgendermaßen ablief: Die Männer standen dort in einem Halbkreis und Prostituierte, schön angezogen, gingen im Kreis. Die Regeln dieses Spiels, wenn man es als solches bezeichnen will, lauten so, dass nicht die Männer wählen, sondern die Frauen gelegentlich aus diesem Gänsemarsch ausbrechen und sich zu einem Mann stellen, um mit ihm zu sprechen. Das ist die Bedingung dafür, dass er sie wählen darf. Ich betrachtete das als schönen Ausdruck dafür, wie die Mann-Frau-Beziehung in einer katholischen Gesellschaft funktioniert. In mir löste das die Frage aus, ob  Mann-Frau-Beziehungen überhaupt anhand der Prostitution darstellbar sind. Solche Rituale, Gesten und Interaktionen beschäftigen mich und nach diesen Gesichtspunkten habe ich auch die Prostitution angeschaut. Es ging mir weder um die kriminelle Seite der Prostitution noch darum, wie die Gesellschaft Prostitution heute wahrnimmt. Interessant wird eine Sache dann, wenn sie stattfindet und nicht ihre Betrachtung. Den Tiefgang einer Geschichte orte ich dort, wo sie tatsächlich passiert, wo der Kunde auf das Mädchen trifft und das alltägliche Geschäft beginnt. Ob die Gesellschaft von außen, Frauen, die das tun, als Sexarbeiterinnen oder als Huren bezeichnet ist mir egal, es ändert nichts am Moment, wo eine Sache stattfindet.

Stand auch der Aspekt  zur Debatte, dass in Anlehnung zu Workingman's Death auch die Prostitution ihre traditionellen Orte verloren hat?
Michael Glawogger:  Dass Prostitution heute sehr häufig virtuell, über Telefon oder Internet stattfindet, ist natürlich der augenscheinlichste Wandel. Das ist keine Veränderung, sondern eine Erweiterung der Spielwiese. Für mich als Filmemacher ist es weniger interessant, weil für mich der Ort der Verhandlung wichtig ist. Die drei Orte, die ich gewählt habe, sind ebenso aussagekräftig über unsere Zeit und sie erlauben einen visuellen Einstieg in eine Erzählung, die über die Sache so spricht, dass man beinahe keine Worte mehr braucht. Die Bilder setzen einen Ton oder eine visuelle Sprache, die selbsterklärend ist. Wenn die Frauen in einem Glaskobel sitzen und die Männer davor stehen, so sind allein schon die Lichtverhältnisse sehr vielsagend: die Frauen sind hell ausgeleuchtet, weil ich sie gut sehen will und die Männer sind im Dunkeln gehalten, dann wird die Trennscheibe zwischen Männern und Frauen zu einem halbdurchlässigen Spiegel, wo die Frauen mehr sich selbst und die Männer die Frauen wie in einer Auslage sehen. Diese Situation bringt auf den Punkt, was da vorgeht. Hätte ich Internet-Prostitution thematisiert, wäre ich in erster Linie darauf angewiesen gewesen, in Hotelzimmern zu filmen und es wäre ein anderer Film geworden, der sich hauptsächlich mit dem Akt beschäftigt hätte. Ich hätte nie so aussagestarke Orte gehabt, wie jene in Bangladesch, Thailand oder Mexiko.

Wie erklärt sich der Titel  Whores' Glory. Wenn vom Ruhm die Rede ist, schwingt auch Heldentum mit.  Ist der Film als eine Hommage an diese Frauen zu verstehen?
Michael Glawogger:  Auf jeden Fall. Das zieht sich durch alle meine Filme. Gerade wenn man die drei Filme (mit Megacities und Workingman's Death) als Trilogie bezeichnen will, dann ist der Mensch als Held, der Mensch in seiner Schönheit für mich das Thema, das sich durchzieht. Der Titel Whores' Glory ist als eine Hommage zu verstehen. So, wie ich die Bergarbeiter in der Ukraine als Helden bezeichne, so sind dies sicherlich viele dieser Frauen auch. Den Bergarbeiter in der Ukraine hat Gott vielleicht noch ein bisschen mehr vergessen, weil er nicht einmal ein anständiges Gehalt bekommt. Das gilt für viele Menschen in meinen Filmen, dass sie in dem, was sie tun, eine Schönheit haben, aber nicht gerade auf die Butterseite gefallen sind.

Von Beginn an stellen Sie diese provokante Reibungsfläche von Prostitution und Religion/Glaube bzw. Aberglaube in den Raum. Warum? Hat dies schließlich auch dazu geführt, dass Sie Ihr Triptychon drei Kulturen gewidmet haben, die durch verschiedene Religionen geprägt sind?
Michael Glawogger: Das ist absolut richtig. Für mich stellt sich immer während des Drehs heraus, wie der Film funktioniert. In diesem Fall habe ich gemerkt, dass ich ein Triptychon machen will, was ja ursprünglich ein katholisches Altarbild ist. Dieses Bild wollte ich allerdings aufreißen, indem ich mir sagte: Wenn man dieses Altarbild über die ganze Welt hinweg denkt, dann soll es auch die großen Religionen umfassen. Ich halte das nicht für provokant, religiös kann jeder sein. Religion bedeutet für jede Berufsgruppe etwas und für den einzelnen vielleicht nicht. So wie sich über die Prostitution Mann-Frau-Verhältnisse aufzeigen lassen, so stand für mich beim Thema Religion der Aspekt im Vordergrund, dass sie innerhalb einer Gesellschaft eine bestimmte Vorgabe zur Sexualität liefert. Diese Vorgabe wird in diesen drei Formen der Prostitution sehr deutlich widergespiegelt. In Bangladesch, wo es zum Thema Sexualität keinen Raum zum Atmen gibt, sondern höchstens ein Ghetto, kommt es so verquer und brutal dann auch heraus: man zieht sich dort nicht aus, weil es trotz seiner brutalen Offensichtlichkeit versteckt bleiben muss. Im Buddhismus hingegen pflegt man einen fast schulterzuckenden Umgang damit.

Ich sehe schon ein provokatives Element, immerhin steht die Prostitution in islamischen Ländern unter drakonischen Strafen, immerhin bestimmt die Religion eine moralische Haltung zur Sexualität.
Michael Glawogger:  In Bangladesch wird sie nicht bestraft, da ist sie nur ghettoisiert. Es herrscht überall eine Verlogenheit: In den USA ist Prostitution verboten, da heißt sie dann Escort-Service; in Schweden werden, glaube ich, inzwischen die Kunden verhaftet. Das Interessante an der Prostitution ist, dass sie, egal wie streng verboten, dennoch existiert. Man weiß ja schon gar nicht mehr, in welchen Ländern sie verboten ist oder nicht, es stellt sich ja nur noch die Frage, welche Ausformung sie annimmt. Sie ist nicht zu verbieten. Sexualität ist so ein starker Drang des Menschen, dass es völlig klar ist, dass sie zum Verkauf angeboten wird. Ich kann mir keine Welt vorstellen, wo es das nicht gibt und ich finde auch nicht, dass die Welt eine bessere wäre, wenn es keine Prostitution gäbe.

Ich gehe davon aus, dass die drei Orte das Endergebnis einer Recherche sind: Wo haben Sie noch recherchiert und nach welchen Kriterien entschieden Sie sich für diese drei Orte?
Michael Glawogger: Eigentlich nach den Kriterien, die ich zuerst als inhaltliche Vorgaben erwähnt habe. Ich suchte nach Orten, an denen sich über die Gesellschaft etwas zeigt. Während der Recherche habe ich das dann so eingeengt, dass auch die Religionen repräsentiert waren. Ich wollte unbedingt ein schwer katholisches Land und habe mit Mexiko etwas besonders Eindringliches gefunden, weil gerade im Milieu der Prostituierten Santa Muerta – der weibliche Tod - verehrt wird. Ich habe im Zuge der Recherche sehr viel angeschaut - über Italien, Nepal, Japan, Afrika. Es heißt nicht, dass man an diesen Orten nicht auch etwas Interessantes findet, aber es muss in die Struktur passen, die man sich selber baut. Dazu kommt, dass es bei der Prostitution vor allem damit zu tun, was überhaupt machbar ist. Ich halte es für sehr außergewöhnlich, was wir in einer solchen Dichte und Tiefe etwas zeigen konnten, dennoch hätte es z.B. in Japan gewisse Bordelle gegeben, die mich noch sehr interessiert hätten, wo aber wahrscheinlich kein Geld der Welt es ermöglichen könnte, dort hineinzukommen. Die Orte der Prostitution sind jene Ort auf der Welt, wo man am allerwenigsten mit einer Kamera willkommen ist. Weder die Frauen noch die Kunden wollen sich im Internet oder sonst wo wieder finden. Es bedarf einer sehr eingehenden Arbeit und des Aufbaus von Vertrauen, damit Filmen grundsätzlich möglich wird.

Wie wird man grundsätzlich empfangen, wenn man an solchen Orten der konzentrierten Prostitution ankommt und mitteilt, dass man gerne einen Film machen möchte?
Wie ließ sich hier ein Vertrauensverhältnis aufbauen?

Michael Glawogger: Von einem Vertrauensverhältnis kann man ja erst sprechen, wenn man die erste Hürde überwunden hat. Wenn man sich jetzt Bangladesch anschaut, dann herrscht in diesem Bordell-Ghetto eine matriarchalische Gesellschaft mit einem Rat der Obersten Mütter. "Mütter" sind in diesem Gefüge die weiblichen Zuhälterinnen. In Faridpur gibt es ca. 600 arbeitende Frauen und sechs der Obersten Mütter haben das Sagen. Grundsätzlich muss man sagen, dass bei Prostitution kein Weg daran vorbeiführt, substanzielles Geld zu zahlen, wenn man filmen will. Wir wurden gefragt: 1. Was haben wir davon? und 2. Wie stellt ihr euch das überhaupt vor? Dann musste ich mit einem Dolmetscher antreten und vor dem Mütter-Rat Rede und Antwort stehen, wie ich denn vorhatte, diesen Film zu machen. Das hat sie sehr amüsiert, weil sie auch sahen, was da in einem Komplex von 600 jungen Frauen auf mich zukommen würde. Wir kamen zu einer Einigung und dann hat die Arbeit erst begonnen, nämlich zu versuchen, jede einzelne davon zu überzeugen, mitzumachen. Das ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wir waren Monate dort und es ist uns gelungen, ein Grundvertrauen herzustellen, mit dem man agieren konnte. Im Detail muss man sich das haarsträubend vorstellen.

Zum Beispiel?
Michael Glawogger: Wir haben am Anfang versucht, Fotos zu machen, um sie als Geschenke zu bringen, weil wir auch etwas geben wollten. In den ersten Wochen sind alle schreiend davongelaufen. Wenn sich eine fotografieren ließ, dann brachten wir ihr das Foto als Geschenk. Daraufhin war die Nachbarin völlig vor den Kopf gestoßen und beklagte sich, dass sie keines bekommen hätte. Der Fotograf erklärte daraufhin, dass dies damit zu tun hat, dass sie sich nicht habe fotografieren lassen und startete einen neuen Versuch. Sie hat sich aber wieder nicht fotografieren lassen, am nächsten Tag aber wieder beschwert, dass sie kein Foto bekommen hätte.  Das ist nur eine kleine Anekdote, aber es spielt sich viel auf diesen Ebenen ab und wenn es endlich gelungen war, sie zu fotografieren, dann konnte man sicher sein, dass sie sich nicht gefallen würde. Es waren viele Stufen des Kennenlernens nötig, um irgendwo hinzukommen.

Inwiefern haben sich die Drehs an den verschiedenen Drehorten voneinander unterschieden?
Michael Glawogger: In Thailand ist alles viel kontrollierter abgelaufen, weil das eindeutig ein Mafia-Betrieb ist. Dort herrschen ganz klare Regeln, an die man sich zu halten hat. Man bekommt Zeiten für die Interviews, Zeiten fürs Drehen und macht damit keine Witze. Der Chef hat mir nur Mädchen geschickt, die ihm gegenüber signalisiert hatten, sie seien zum Mitmachen bereit. Er hat mich vor den Fishtank gezerrt, wo 100 Frauen drinnen saßen und erklärte auf Thai ich sei der Herr, der filmen wollte, bis zum nächsten Tag könne man sich melden, wer Lust hatte, seine Geschichte zu erzählen. Mit ihnen "Geschäfte" abzuwickeln, war eine Freude, weil sie sich an alles gehalten haben, was ausgemacht war. Sie haben das allerdings auch umgekehrt eingefordert. Wenn ich einmal zum Filmen ein Mädchen mehr haben wollte, dann war das ein Ding der Unmöglichkeit. Mexiko war es eher mit Bangladesch vergleichbar, wobei es eine Schwierigkeit gab, dass die Zuhälter nicht anwesend waren, sondern die Mädchen aus einer Distanz von tausenden Kilometern übers Handy kontrollierten. Teile der Mädchen machten mit, weil sie in den Kontrakt und in die Zeit, die ich dort verbrachte, eingebunden waren, dann gab es andere, mit denen ich zwar befreundet war, denen aber von außen verboten war, mitzumachen. Das waren Brücken, die wir nicht überqueren konnten.

"Befreunde" impliziert bereits eine erhebliche zeitliche Dimension in der Vorbereitungsarbeit?
Michael Glawogger: Die gab es überall. Das Ausmaß der Kontrolle von oben, wie und was wir tun, war jedoch sehr unterschiedlich. In Bangladesch und Mexiko konnte ich mich letztlich frei bewegen, in Thailand war das schon vom Ort her schwierig, weil ich ja nicht während der Arbeit den Fishtank betreten konnte, um ein Interview zu führen. Ich musste das Mädchen entweder für ein Interview auskaufen oder der Chef musste ihr erlauben, herauskommen. Sehr oft bestimmten die Orte den Rhythmus der Arbeit.

Wie ist die Prostitution, die Sie gefilmt haben, an den jeweiligen Orten gesellschaftlich positioniert?
Michael Glawogger: In Thailand gehören die Klienten der oberen Mittelklasse an. Bangladesch sieht sehr arg aus, die Kunden gehören aber auch dort nicht der untersten Unterschicht an. Das können wir mit unserem westlichen Auge schwer differenzieren, ich würde sie eher einer unteren Mittelschicht zuordnen. In Mexiko ist es sehr gestreut: Dort reicht die Palette von der ganz billigen Indio-Frau, die Sex zum Verkauf anbietet, bis zu 300-Dollar-Frauen. Der Ort heißt La Zona de la Tolerancia und ist der einzige Ort, der in sich geschlossen ist; die Polizei sitzt am Eingang, aber was drinnen passiert, hat seine eigenen Gesetze. Es ist mit Bangladesch nicht vergleichbar, weil sich eine Frau dort nicht frei bewegen kann. Jede Frau, die sich in Bangladesch alleine bewegt, ohne dass eine Familie oder ein Mann auf sie aufpassen, und nicht der obersten Oberschicht angehört, gilt als Prostituierte. Es ist dort auch gang und gäbe, dass Mädchen, die sich in einer Stadt verirren, sofort aufgegriffen und an ein Bordell verkauft werden. Insofern kann La Zona in Mexiko nicht als Ghetto betrachtet werden, höchstens als Zufluchtsort vor gesetzlicher Verfolgung, weil die Polizei diese Zonen bereits abgeschrieben hat. Wer dort reingeht und bleiben will, hat sich aber für etwas wie ein selbstgewähltes Gefängnis entschieden.

Wie haben Sie im filmischen Erzählen den Blick manchmal weg von den Frauen hin auf die Männer gerichtet und so ein Spannungsverhältnis zwischen Prostituierten und Kunden aufgebaut?
Michael Glawogger: Im Grunde durch Beobachtung, wie es grundsätzlich abläuft und dann musste man bei den Männern wie bei den Frauen schauen, wer bereit war, zu sprechen oder mit dem Auto durch die Zone zu fahren und das preiszugeben, was er sich denkt. Wie bei jedem Dokumentarfilm entsteht die Schnittstelle von selber. Ein Ort funktioniert nur so, wie er funktioniert. Es geht ja nicht nur um die Frauen. Der Film ist zwar stark aus der Sicht der Frauen gemacht, das hat aber auch mit den Orten zu tun. Wir waren mit der Kamera an den Orten des Geschehens und der Mann ist dort der Gast. Ich achte immer darauf, dass die Dinge im Dokumentarischen einen natürlichen Fluss bekommen und dem folgen, wie die Sache wirklich ist. Der Mann fährt mit seinem Auto durch die Zone, setzt sich vor die Glasscheibe des Fishtank oder durchquert die labyrinthartigen Gänge in Bangladesch und er geht auch wieder weg. In Thailand gehen die Frauen auch wieder weg, in Bangladesch oder Mexiko bleiben sie drinnen. Insofern ist es eher aus der Frauenperspektive gesehen, aber ohne Männer würde es keinen Sinn machen, da würde es auch kein Puff geben.

Dinge wie Intimität oder Schamgefühl bleiben trotz der Präsenz der Kamera eine Gegebenheit. Wie geht man damit als Filmemacher um? Haben Sie sich selbst Grenzen auferlegt?
Michael Glawogger: Die ergeben sich von selber. Eine Hure in Bangladesch zieht sich für einen Kunden nicht aus, warum sollte es sie für den Film machen? Es ist sicherlich kein Zufall, dass die einzige Sexszene in Mexiko stattfindet, weil man das dort gelassener nimmt. In Thailand nimmt man es auch gelassen, dort wird jedoch die Existenz der Prostitution von der staatlichen Obrigkeit negiert. Thailand ist im Prinzip, was Sexualität betrifft, die noch viel freizügigere Kultur  als Mexiko, weil man sie als etwas betrachtet, das man braucht. Da aber der thailändische König behauptet, es gebe sie nicht, hat man einen Zensor am Hals. Das sind die Grenzen, die von vornherein gegeben sind. Ich selbst setze mir gar keine Grenzen, solange ich beim Thema bleibe. Ich habe keine Berührungsängste mit meinem Thema. Und wenn ich so ein Thema angreife, dann hat es auch mit Sex zu tun. Ich halte auch die eine Sexszene im Film für sehr sprechend, weil sich, sobald die Türe zu ist, die Machtverhältnisse umkehren. Die Frau übernimmt das Kommando und gibt in einem Geschäftston die Regeln vor. Das finde ich ja viel spannender als den Sex selber. Sex ist ja, wie er in vielen Formen in der Prostitution praktiziert wird, enden wollend erotisch. In Bangladesch wäre das undenkbar, da ist die Schamgrenze viel zu hoch.

Der Untertitel Triptychon impliziert auch die Malerei im Bezug auf die visuelle Arbeit in diesem Film. Die Leistung der Kameraarbeit in diesen Halbschatten und Dämmerzonen der Gesellschaft kann wahrscheinlich kaum eingeschätzt werden. Wie lassen sich solche Bilder technisch verwirklichen? Wie wird man in diesen Orten der Intimität und in dieser räumlichen Enge vom Voyeur zum Beobachter und wie bleibt man auf diesem Grat?
Michael Glawogger: Der erste Teil der Frage ist rein mechanisch zu beantworten. Wir haben nichts ausgeleuchtet. An Orten wie Faridpur oder in Mexiko  haben wir allerdings, da und dort, wo schon eine Neonröhre vorhanden war, eine zweite dazugehängt. Was jetzt einfach klingt, kann aber bei so einem Areal auch einmal auf 100 Neonröhren hinauslaufen, die am nächsten Tag nicht unbedingt noch da sind. Es war ein ständiges Umhängen von Neonröhren, aber es schaut im Film so aus, wie es in Wirklichkeit aussieht. Der zweite Teil der Frage ist auch einfach beantwortet: Indem man das Thema unaufgeregt anschaut, indem ich mir nicht die ganze Zeit denke ? oh, das ist ja Prostitution, da muss ich aufpassen. Ich mache den Film nicht anders, als würde ich einen Film über Arbeiter, Banker oder Häuselbauer machen. Ich nehme es ganz normal und schaue hin, wo ich hinschauen will. Wenn jemand das als Voyeurismus bezeichnen will, ist mir das egal. Ich schaue es mit dem Versuch der größtmöglichen Normalität an. Das haben auch die Frauen sehr gut aufgenommen, wenn sie einmal verstanden haben, wie man arbeitet. Wenn man um ihren Alltag kein Geschrei macht und diesen in keiner Weise besonders findet, dann lassen sie sich auch auf einen ein. Wenn in einem Land wie Bangladesch eine Frau am Bett sitzt und über Schwanzgrößen und in dieser expliziten Form über ihren Beruf spricht, dann springt sie über so viele persönliche und kulturelle Schatten, die man sich hier, wo in jeder Witzsendung darüber geredet wird, nicht vorstellen kann. Das ist in Bangladesch ein weiter Weg.

Wie große war euer Team an diesen Drehorten?
Michael Glawogger: In der Recherche waren wir zu zweit bis zu viert. Die Recherche musste ich selber durchführen, das wäre nicht anders gegangen, weil das Vertrauen ja zu mir bestehen musste. Beim Dreh waren wir fünf Leute aus Österreich und Deutschland, der Rest der Crew dann Einheimische. Das hat aber nie zehn Leute überschritten.
 

Wie haben Sie die Gewichtung zwischen Gesprächsführung und Beobachtung gesetzt?
Michael Glawogger: Wenn man an einem Ort wie Faridpur arbeitet (das gilt aber auch für die anderen), kann man ab dem ersten Tag das, was man sich vorgenommen hat, vergessen. Man muss sich ein gewisses Inventarium an Dingen, die man gerne machen will, vornehmen und dann schauen, was geht. Dann kommen Aspekte ins Spiel wie ? Ist gerade ein Kunde da? Hat sie gerade Zeit? Hat es ihr die Mutter erlaubt? Ist sie heute schlecht gelaunt? Ich kann nicht hineingehen und mir vornehmen, heute filme ich mit Shilpi. Denn Shilpi hat möglicherweise den ganzen Tag Kunden oder ich interessiere sie null oder sie ist schlecht auf mich zu sprechen, weil ich gestern mit ihrer Nachbarin gesprochen habe. Dann geht überhaupt nichts. 600 Frauen an einem Ort, das hat ja auch eine ordentliche Dynamik. Man muss Tag für Tag von der ?größeren Liste?, die man sich gemacht hat, Versuche starten. Manchmal gelingt das eine, manchmal das andere. Dadurch bekommt es auch ein interessantes Eigenleben.

Wie lange haben sie sich an den jeweiligen Orten aufgehalten?
Michael Glawogger: Das war sehr unterschiedlich. In Faridpur werden es am Stück schon zwei Monate gewesen sein. Länger wäre aus verschiedensten Gründen nicht gesund, auch für den Film nicht, weil irgendwann eine Übermüdung eintritt. Man ist ja kein Kunde, aber man muss, solange man da ist, für das Geschäft etwas bringen. Für die Frauen ist es Arbeit und dass da einer mit der Kamera herumhängt und nicht als Kunde kommt, das ist eine Zeitlang kurios, weil er von ganz woanders in der Welt kommt, aber das erschöpft sich auch.

Die Musik schafft gerade zu Beginn eine beinahe meditative Stimmung, wie entstand der Music-Score? War es Ihnen ein Anliegen, diese fast meditative Stimmung zu erzeugen?
Michael Glawogger:  Ich suchte nicht nach einem meditativen Aspekt, sondern ich wollte eine Stimmung erzeugen, die das umsetzt, was man dort fühlen muss. Wenn ich dort hinkomme, die Stechuhr bediene, mich eineinhalb Stunden schminken lasse, mich dann zwei Stunden in einen Glaskobel setze, damit dann vielleicht einer 246 sagt, und das bin ich, da muss ich in einen gewissen Trancezustand verfallen, weil ich sonst durchdrehe. Ich habe zwei Arten von Musik im Film aufgebaut: Einerseits wollte ich Musik nehmen, die von den jeweiligen Orten kommt, sei es aus Fernsehern, Radios oder weil sie wirklich gespielt wird, andererseits suchte ich nach einer Musik, die innere Stimmungen unterstreicht oder fast einen Kommentar zum Gesehenen abliefert. Ich bin mit dem Konzept ausgezogen, Liebeslieder von Frauen zu verwenden. Das ist auch eine Musik, die die Mädchen gerne verwenden. Später, als dann klar wurde, dass auch die Freier vorkommen, habe ich auch Duette verwendet, aber es gibt kein einziges Lied, das nur von einem Mann gesungen wurde. Ich war mir immer sicher, dass der Film Musik haben muss, weil Musik für alle Frauen, die in diesem Job arbeiten, unglaublich wichtig ist. Ich glaube nicht, dass die Mädchen gerne einen Film sehen würden, der keine Musik hat. Das wäre für mich das Unangenehmste, wenn sie das nicht wollen. Vielleicht ist es nicht die Musik, die sie normalerweise hören, aber es besteht eine Wechselwirkung zwischen ihr und ihnen. Wenn man auf Thailand zurückkommt, dann hat das Schwebende, Meditative der Musik eher etwas mit einem inneren Zustand zu tun, den ich mir vorstelle, dass sie ihn haben. Das flirrt dann so.

Kann man den anderen Orten auch eine musikalische Thematik zuordnen?
Michael Glawogger: Bangladesch beginnt mit einem Lied, das basierend auf einem Gedicht, das ich in Faridpur für den Film geschrieben hatte, entstand und das die Zwiesprache zwischen einer Frau und einem Kunden enthält – über das Hier und Dort, das Draußen und Drinnen, an einem Ort, der die Gesellschaft ganz klar draußen und die Prostitution drinnen hält. Daraus entstand die innere Vorgabe, nicht nur Bollywood-Musik zu verwenden, weil das von unserem Blick her etwas Exotisches und Ethnografisches bekommt, was man nicht einordnen kann. Ich suche nach etwas, wo ich anhand der Musik sagen kann, so ist es dort.
In Mexiko war die emotionale, zärtliche Aggressivität der Musik von P.J. Harvey das, was sich fraglos aufgedrängt hat. Das hat auch so eine weibliche Kraft, die hinausschreit, was ich dort erlebt habe.

Da gerade das Stichwort Gedicht gefallen ist. Wie hat Emily Dickinson ihren Weg als Prolog in den Film gefunden?
Michael Glawogger: Ich habe während der Recherche viel Emily Dickinson gelesen. Schöner kann man es nicht sagen. Ich habe im Internet richtige Foren über die Bedeutung dieses Gedichts entdeckt. Ich denke, es lässt eine weite Projektionsfläche der Interpretation zu, meine Interpretation des Gedichts ist vielleicht der ganz Film.

Sie haben mehrmals betont, dass einen Film über Prostitution zu drehen nichts anderes ist als einen über Bankenwesen oder Großraumbüros zu machen. Gibt es dennoch im Zuge solcher Dreharbeiten Momente und Begegnungen, die einen bewegen?
Michael Glawogger: Auch wenn es an den Orten der Prostitution  ein bisschen wilder zugeht,  muss man verstehen, dass das, was man dort zu sehen bekommt, deren Alltag ist. Man muss sich von dem Gefühl loslösen, dass es etwas Besonderes ist und an sich selbst arbeiten, das Ganze als Alltag zu empfinden. Nur so kann man begreifen, wie die Frauen sich fühlen, was ihnen schwer fällt, was für sie schrecklich, was für sie ganz normal ist. Es ist wahrscheinlich dasselbe wie in einem Gefängnis zu drehen.  Dort werde ich auch nichts erreichen, wenn ich hineingehe und mir sage "Oh, wie schrecklich, zwanzig Jahre eingesperrt." Ich muss als erstes daran arbeiten, mir vorzustellen "Ich bin da jetzt eingesperrt". Das gefiel mir auch an Die große Stille von Philip Gröning, dass die Mönche zunächst verlangt haben, dass der Regisseur zwei Monate bei ihnen lebt. Das konnte ich nun nicht machen, weil ich keine Prostituierte bin und auch keine sein kann, aber ich habe versucht, mich dem so gut wie möglich anzunähern, indem ich zehn, zwölf Stunden am Tag dort war. Das Staunen über das, was uns so schrecklich und anormal erscheint, blockiert alles. Wirklich begreifen kann man einen Ort nur dann, wenn man begreift, was dort Alltag ist. Und Alltag kann an verschiedenen Orten der Welt etwas ganz anderes sein.

Interview: Karin Schiefer
Juli 2011