INTERVIEW

Markus Schleinzer über MICHAEL

 

«Ich finde, dass eine Gesellschaft nur so weit entwickelt sein kann, wie sie auch in der Lage ist, sich mit ihren Tätern auseinander zu setzen. Da muss man nicht unbedingt auf einen Punkt kommen, weil man das mitunter gar nicht kann. Aber es geht darum, dass man diese Vorkommnisse auf Augenhöhe betrachtet und zulässt, dass es das gibt. Ich muss sie deshalb nicht gutheißen. » Markus Schleinzer über seinen Spielfilm Michael, der im Wettbewerb um die Goldene Palme 2011 vertreten ist.

 
 
In den letzten Jahren ist einiges an unfassbar Schrecklichem aus Österreichs Kellern an die Öffentlichkeit geraten. Haben diese Ereignisse Ihnen Anstoß zu einer profunden Reflexion über die (österreichische) Gesellschaft geliefert. Welche Fragen haben Sie sich gestellt?
Markus Schleinzer: Ich würde es gerne weiter fassen. Es ist ja kein originär österreichisches Thema, es gab Fälle in Belgien, Frankreich, Amerika oder Australien genauso wie jene in Österreich. Diese Geschichten haben mich extrem bewegt und was mich daran am meisten interessiert und auch verunsichert hat, war die Tatsache, wie weit man in dieser Betroffenheit bereit war, der Boulevard-Presse zu folgen. Ich fand es sehr verwunderlich, dass sich außer den Massenmedien, insbesondere der Boulevardpresse niemand dem Thema genähert hat. Im Zuge meiner Recherche habe ich nur einen Text von Elfriede Jelinek gefunden, der sich mit dem Fall Fritzl auseinander setzt. Ich war auf der Suche nach einem Thema für mein erstes Drehbuch und hatte bereits drei Geschichten skizziert. Diese Entwürfe habe ich dann im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft, die ich seit Jahren mit zwei befreundeten Schauspielern unterhalte, vorgestellt. Um Michael haben sich eindeutig die spannendsten, hitzigsten und kontroversiellsten Diskussionen entsponnen. Daraufhin wollte ich mir das näher anschauen und habe den ersten Drehbuchentwurf in vier Tagen fertig gestellt. Von dem Zeitpunkt an war ich in dieser Sache gefangen.
 
Waren es für Sie Ereignisse, die zu sehr von den Medien ausgeschlachtet und von künstlerischer bzw. intellektueller Seite zu wenig reflektiert wurde? Kann man MICHAEL als etwas wie ein Gegenstatement zum medialen Geschrei verstehen, das sich auf die Sensation stürzt, aber keinerlei Fragen stellt?
Markus Schleinzer: Von meinem Standpunkt aus wäre es gefährlich zu sagen, dieser Film sei eine Gegenreaktion. Es ist eine andere Sichtweise, eine andere Position, die ich in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen vermisst habe. Ich stand vor der Frage, was will ich erzählen und in weiterer Folge, wie kann ich eine solche Geschichte erzählen? Ich entschied mich sehr schnell, sie über die Täterseite zu erzählen. Meine Bedenken waren zu groß, dass der Opferaspekt dem Voyeurismus zuviel Futter geben würde. Mit der Entscheidung, aus dem Täteraspekt zu erzählen, war auch jedewedes Außen, jede kommentierende Moral ausgeklammert. Als Autor und Regisseur bin ich diesbezüglich weder Experte oder Wissender, der das Publikum an der Hand nimmt und es durch seine Sichtweise hindurchführt, noch zwinge ich meine Meinung oder moralische Haltung zu bestimmten Dingen auf. Das ist bewusst rausgehalten.
 
War die Schreibarbeit stark von einem Prozess des Reduzierens bestimmt? Waren Sie bemüht, sozusagen das Skelett aus dem herauszulösen, was wir ansonsten an Falldarstellungen aus den Medien kennen?
Markus Schleinzer: Ich glaube, es war eine Mischung von verschiedenen Dingen. Ich habe mir einen Fall gebaut, der nichts enthielt, was aus Medien bekannt war und ich habe auch nichts recherchiert. Ich habe eine Täterfigur erfunden, die auf der Suche ist. Michael ist ein Mensch, der offensichtlich auf herkömmliche Weise nicht in der Lage ist, einen Beziehungspartner zu finden, sich deshalb ein Pflänzchen von der Straße pflücken muss, das er bei sich im Keller züchtet und heranwachsen lässt. Eine Pygmalion-Störung. Worum geht es bei so einem Menschen? Um ähnliche Dinge wie bei uns, die wir nicht alleine bleiben wollen und Beziehungen suchen? Er sucht jemanden, auf den er all seine Emotionen und Bedürfnisse projizieren kann, wie wir das in unseren Beziehungen auch machen. Mir war bald bewusst, für Michael ist diese Situation Normalität. Er muss sie als Normalität leben, denn würde er den Wahnsinn und die Kriminalität dahinter erkennen, würde er damit aufhören oder sich umbringen oder es nicht tun. Diese Menschen leben beinahe wie ferngesteuert in dieser künstlichen Idylle, die sie sich schaffen müssen. Daher ist es logisch, dass man fast ausschließlich von dieser von Michael versuchten Normalität erzählt, die das Grundverbrechen verdeckt. Wenn wir als Betrachter des Films diesen Überbau des Verbrechens mit sehen, dann ist das natürlich unheimlich. Michael kann es nicht unheimlich vorkommen, für ihn ist es Wunsch und Sehnsucht und er fühlt sich an seinem Ziel angekommen.
 
Michael verkörpert in jedem Lebensaspekt – wie er arbeitet, wohnt, sich kleidet - ein absolutes Mittelmaß und trägt gleichzeitig auch ein Täterprofil in sich. Sie sagten, Sie haben wenig recherchiert, haben Sie dennoch auch eine psychologische Expertise herangezogen, um Ihre Hauptfigur zu schaffen?
Markus Schleinzer: Es war mir sehr wichtig, dass er dieses Mittelmaß verkörpert. Ich wollte keine Hexenverbrennung starten. Ich wollte nicht dieses Thema behandeln und am Ende sagen, die ?mit den Ohren? oder die ?mit den Nasen? sind das. Es war mir wichtig, eine Figur zu schaffen, in der sich sehr viele Menschen finden können. Wenn Michael ein äußeres Merkmal hätte, wenn er zu bizarr in seinem Verhalten wäre, funktioniert meine Betrachtungsweise nicht, die dazu führt, dass man durch die unvermeidliche Identifikation mit ihm, schmerzhaft an ihn herangeführt wird. In dem Moment, wo der so deutlich anders ist, als ich mich empfinden könnte oder als die Personen, die ich kenne, ist ja wieder ein Schutzmantel geschaffen. Das ist derselbe Schutzmantel, den die Presse benutzt, wenn sie vom «Monster von Amstetten» spricht. Das bietet einen Schutzmantel, der uns erlaubt zu sagen - «Das bin eh nicht ich». Ein Monster ist ja kein Mensch, sondern ein Fabelwesen. Diese Bezeichnung spricht dem Täter das Menschsein ab und macht dem Außenstehenden die Verhandlung mit sich selbst wieder leicht, weil es ein Leichtes ist, Distanz einzunehmen.
Ich habe das Buch so geschrieben, wie ich dachte, dass sich Menschen verhalten könnten. Dann ging das Drehbuch in die Einreichung und wir bekamen sehr schnell die Finanzierungszusage. In dieser Situation wollte ich noch ein Expertenurteil haben. Ich bin auf die Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner gestoßen, die mir in den Sendungen, wo sie zu sehen war, sehr integer und profund schien. Ich schickte ihr das Buch mit der Bitte, ein Drehbuch so zu behandeln wie einen Menschen, den sie im Gefängnis aufsuchen muss. Ich war sehr nervös, weil ich befürchtete, dass in dem Moment, wo nun schon das Geld für den Film da war, jemand sagen könnte, mein Buch sei völlig unglaubwürdig. Sie hat mir aber sehr zugesprochen, wir waren nur in kleinen Nuancen uneins, wo die Expertin die Wahrscheinlichkeit des Verhaltens eher bezweifelte, ich als Regisseur es hingegen von der Geschichte her interessant fand. Mittlerweile sind wir beide von der Richtigkeit der Figur und dem Weg, den sie nimmt, überzeugt.
 
Warum haben Sie sämtliche andere Aspekte – ich denke an die Eltern des Kindes, an etwaige Medienberichte – ausgeklammert. Warum bleiben Sie so ausschließlich am Entführer dran?
Markus Schleinzer: Weil individuelle Details sehr stark ein Ausweichen ermöglichen. Eine vermeintliche Information, die letztendlich keine ist, macht einen Kosmos auf, mit dem man sich vielleicht lieber beschäftigt als mit dem Wesentlichen. Mich hat der geschlossene Raum interessiert, deshalb habe ich für die Erzählung einen Moment gewählt, wo das Kind schon eine Weile bei ihm lebt, sich der erste Horror schon gelegt hat und es um das vermeintlich normale Zusammenleben geht. An diesem Punkt kann man die unterschiedlichen Formen der Normalität zeigen - die Normalität des Täters, der eine Situation geschaffen hat, weil er es so will und die so genannte "Normalität des Opfers", das sich einrichten muss, weil es ja überleben will. Spätestens in dem Moment, wo das Opfer zum Täter sagt "Der Mistsack ist voll, nimm ihn bitte mit" geht es in Beziehung zu ihm, in diesem Moment beginnen sich Dinge zu regulieren und auch auf der Opferseite beginnt eine seltsame Art von Normalität.
 
Frappierend erscheinen in Michael die Sprachlosigkeit, die Wortlosigkeit der Menschen miteinander und die Unbeteiligtheit aneinander. Im Film scheint dies Inhalt, aber auch gleichzeitig Form zu sein. Stimmen Sie dem zu?
Markus Schleinzer: Ich glaube das hat mit dem Denken zu tun. Diese Menschen, die diese Taubheit in sich haben - und sie müssen sie haben, weil sie sonst gar nicht über so lange Zeit ein solches Konstrukt aufrechterhalten könnten -, sind implodierende Menschen. Das ist Teil ihres Wesens, es sind sehr stille Menschen, die Stille in ihnen ist aber eine Leere. Deshalb stellen uns solche Ereignisse wie vor eine Wand, denn hier endet nicht nur jede Form von Verstehen, davor endet bereits jede Form von Kommunikation. Was kann man einem solchen Menschen sagen? Vielleicht werfen wir uns deshalb so begierig auf die Seite der "Monster-Sager", weil wir dem Ganzen mit einer Sprachlosigkeit gegenüberstehen.
 
Es geht aber auch darum, dass solche Dinge passieren, ohne dass es das Umfeld sieht oder sehen will. Der Film wirft auch die Frage auf, in welcher Gesellschaft leben wir? Mit welchem Maß an Unbeteiligtheit haben wir es zu tun?
Markus Schleinzer: Ja. In was für einer Gesellschaft lebt man eigentlich? Dennoch halte ich es für wichtig, dass man sich damit konfrontiert. Ich finde, dass eine Gesellschaft nur so weit entwickelt sein kann, wie sie auch in der Lage ist, sich mit ihren Tätern auseinander zu setzen. Da muss man nicht unbedingt auf einen Punkt kommen, weil man das mitunter gar nicht kann. Aber es geht darum, dass man diese Vorkommnisse auf Augenhöhe betrachtet und zulässt, dass es das gibt. Ich muss sie deshalb nicht gutheißen.

Gibt es Ihrer Meinung nach diese Auseinandersetzung der Gesellschaft mit den Tätern?
Markus Schleinzer: Ich glaube nicht. Das betrifft ja nicht nur das wahrscheinlich in der Gesellschaft am meisten verabscheute Verbrechen, das ich mir ausgesucht habe, um es zum Thema des Films zu machen. Das betrifft vielleicht auch Ministerpräsidenten aus Nachbarstaaten, die ständig ihre Gesetze ändern, um ihrer eigenen Verurteilung zu entgehen oder um ihre Legislaturperiode zu verlängern. Ich denke an Italien, ich denke an Russland  - diese Politiker werden in 20, 30 Jahren, wenn die Gesellschaft bereit ist, sich das anzuschauen, vielleicht auch als Täter betrachtet werden. Jetzt spricht sich die Gesellschaft nicht gegen sie aus. Ich will sie auch nicht mit Kindesmissbrauchern und -entführern in einen Topf werfen, aber es geht um denselben Punkt. Solange wir, die Gesellschaft, nicht in der Lage sind, das, was da ist, anzuerkennen, kann es auch keine Veränderung geben.
 
Michael sperrt ja mit seinem Handeln nicht nur ein Kind weg, er sperrt auch seine eigene Kindheit weg.
Markus Schleinzer: In diesem Zusammenleben spiegelt sich sehr viel an Lebensformen, die ich zum Teil kenne. Gerade in dieser Kleinheit und in dieser geführten Normalität, die da vors Auge tritt, sehe ich sehr viel von dem Umgang mit Kindern, der mir aus normalen Elternhäusern bekannt ist. Wie die Familie zueinander aufgestellt ist, wie leicht es diesem Menschen gelingt, seine Familie auf Distanz zu halten, wie sehr er in der Öffentlichkeit, im Büro untertauchen kann, das ist mir vertraut ? an mir selber und auch an Mitmenschen. Da muss noch kein großes Verbrechen dahinter stehen. Aber das Leben, das er führen muss, um dieses Konstrukt aufrecht erhalten zu können, das finde ich in sehr vielen Menschen, bei Bekannten und mitunter auch bei mir selber wieder. Das war es, was ich unheimlich und auch interessant fand und das es mir wert war, im Zuge dieses Films, einen Blick darauf zu werfen.
 
Wie haben Sie im Drehbuch die Opferfigur im Spannungsfeld zur großen Täterfigur entwickelt?
Markus Schleinzer: Es war mir wichtig, dass beide ihren Raum haben und beide Figuren geschützt sind. Ich wollte weder den Täter noch das Opfer vorführen, ich wollte mit keiner der beiden Figuren billige Miete machen. Ich habe es im Gegenzug sogar spannend gefunden, dass das Verhältnis der beiden zueinander auch total variabel ist. Manchmal kann das Kind sogar stärker sein als der Erwachsene.
 
Sie ließen es bereits anklingen, es hat offensichtlich nicht sehr lange gedauert, die Finanzierung für dieses schwierige Thema  zustande zu bringen, obwohl es ein Erstlingsfilm war.
Markus Schleinzer: Es war seltsamerweise sehr leicht. Hätte ich mehrere Hürden zu überwinden gehabt, hätte ich es vielleicht gar nicht gemacht. Ich habe die Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion kontaktiert, die ich von Der Räuber kannte und die mir sehr sympathisch war. Dann bekam ich einen Rückruf, sie wollen mit mir über das Projekt sprechen. Ich stellte mich darauf ein, wir würden über das Buch reden oder darüber, welchen Weg es gehen könnte. Doch es wurde mir sofort signalisiert, dass sie den Film gerne produzieren würden. Wir sind dann bei jeder Einreichung gleich in der ersten Runde sehr eindeutig gefördert worden und ohne die geringsten Schwierigkeiten durchgeschlittert.
 
Das gesamte Projekt von der Idee bis zur Realisierung scheint sich besonders rasch entwickelt zu haben. In der Regel hört man von Jahren, die in der Stoffentwicklung und in den weiteren Etappen stecken.
Markus Schleinzer: Nein, das kann ich nicht. Da hätte ich Sorge, dass mich Dinge nicht mehr so sehr interessieren, dass ich sie dann zwingend mit anderen teilen muss. Ich habe den ersten Entwurf fürs Drehbuch in vier oder fünf Tagen geschrieben, dann ließ ich es liegen und habe es nach zwei, drei Monaten wieder angeschaut, Dinge verbessert, wieder rausgenommen. Dann wurde sehr schnell gefördert, sehr schnell produziert, sehr schnell gedreht. Alles ist innerhalb der letzten eineinhalb Jahre über die Bühne gegangen.
Im Jänner 2010 habe ich noch meinen letzten Film als Caster erarbeitet und mich dann in dieses Projekt gestürzt.
 
Hatten Sie anfangs gar nicht daran gedacht, selbst die Regie zu führen?
Markus Schleinzer: Doch. Das war das Ansinnen dahinter. Es gab immer wieder Leute, die mir geraten haben, selber einen Film zu machen. Ausschlaggebend war der Dreh für Das weiße Band, wo ich die Kinder gecastet und am Set auch gecoacht habe. Da sagte Michael Haneke zu mir ?Jetzt musst du endlich deinen ersten eigenen Film machen. In drei Monaten will ich ein Drehbuch von Dir lesen.? Das hat er sich gemerkt, der alte Fuchs, und mich immer wieder daran erinnert. Wenn er mir nicht diesen Tritt in den Hintern gegeben hätte, hätte ich wahrscheinlich noch ein paar weitere Jahre mein gemütliches Leben in der zweiten Reihe geführt und mir dann irgendwann gesagt, jetzt bin ich alt, jetzt ist es lächerlich, jetzt lass ich es sein und wäre auch zufrieden gewesen.
 
Wie haben Sie diesen Übergang vom Casting zur Regie erlebt?
Markus Schleinzer: Der Übergang war gar nicht so stark spürbar. Ich habe immer sehr konkret an Produktionen mitgearbeitet, Produktionsabläufe sind mir sehr vertraut und letztlich liegen Casting und der inszenatorische Aspekt von Regieführen nicht so weit auseinander. Beim Casting sollte es ja auch darum gehen, dass man innerhalb kürzester Zeit mit einem Text und einem Schauspieler zu einem Ergebnis kommt, so dass es andere kaufen. Beim Casting soll der Regisseur der Käufer sein, beim Film das Publikum. Die 17 Jahre Casting-Erfahrung waren eine sehr gute Schule, denn ich habe tagtäglich nichts anderes gemacht als Schauspieler vor der Kamera zu inszenieren und diese lange Erfahrung bot mir auch Gelegenheit, mir sehr gute Leute im österreichischen Film anzuschauen, die ich gerne in mein Team geholt habe und mit denen ich mich sehr gut aufgehoben gefühlt habe.

Trotz 17 Jahren Casting-Erfahrung hat es wohl eines besonderen Fingerspitzengefühls bedurft, um ein Kind für diese Rolle zu finden und um ein Kind durch diese Rolle zu führen?
Markus Schleinzer:  Es war da auf drei Ebenen zu operieren. 1. galt es Eltern zu finden, die bereit sind, ihr Kind mit solch einer Geschichte zu konfrontieren. 2. war es wichtig, ein Kind zu finden, das das Talent hat, diese Figur in der Ambivalenz, in der ich das gerne haben wollte, zu spielen und 3. ein Kind zu finden, das in seinem Sein so verankert ist, dass es nach diesem Film und nach der Konfrontation mit so einem Stoff keinen Schaden davonträgt. Da habe ich eine Verantwortung, die ich über den Dreh hinaus wahrnehmen muss. Ich kann nicht einen Film über Missbrauch machen und dann selber ein Kind oder ein Elternhaus, das nicht einwandfrei diese drei Aspekte verbindet, hintergehen und damit missbrauchen. Daher war ich auch sehr glücklich, dass wir diesen Buben gefunden haben. David ist ein großartiger Mensch und für mich schon ein Künstler. Wir sind mit absoluter Offenheit und Ehrlichkeit an die Suche herangegangen. Es war von vornherein klar, worum es in diesem Film geht, bevor die Eltern zum Casting gekommen sind. Wir gaben keine sehr ausführliche Kurzfassung des Inhalts zu Beginn, auch um uns vor vorzeitigem Medieninteresse zu schützen. Von Runde zu Runde haben wir den Plot erweitert und vor der letzten Runde gab ich den verbleibenden vier Elternpaaren das Drehbuch zum Lesen und erklärte, wie ich zu filmen plante. Ich habe dann mit den Eltern von David auch einen Modus gefunden, mit welcher Sprache das Kind an die Geschichte herangeführt wird. Man kann die Wahrheit auch sagen, während man auf seine Vokabeln achtet. Ich wollte vor dem Dreh gut schlafen, aber auch während des Drehs und auch danach.
 
Wie ist Michael Fuith an seine erste Hauptrolle in einem abendfüllenden Spielfilm herangegangen?
Markus Schleinzer: Als Caster habe ich in Österreich oft geflucht, dass sich die österreichischen Regisseure, die ja vorwiegend Autorenregisseure sind, beim Drehbuchschreiben so wenig Gedanken machen, wer ihre Rollen später spielen soll. Und umgekehrt wunderte ich mich, warum sich bei diesem tollen Angebot an Schauspielern niemand hinsetzt und für einen bestimmten Schauspieler eine Geschichte schreibt. Ich war jedenfalls überzeugt, wenn ich jemals ein Drehbuch schreiben würde, würde ich gleich an die Schauspieler denken. Nichts von dem geschah natürlich. Ich hab auch ein Drehbuch geschrieben und mir nachher gedacht - "Wer soll das jetzt denn spielen?" Eine Weile war ich sehr verzweifelt, weil ich das Gefühl hatte, niemals den geeigneten Schauspieler zu finden. Dann sah ich im Rahmen einer Jurytätigkeit Michael Fuith in einem Filmakademiefilm und wusste ? das ist er und habe auch niemand anderen mehr gecastet. Ich habe ihn getroffen, ihm das Drehbuch mitgegeben. Er hat sich zwei Wochen Bedenkzeit erbeten, bevor er sich bereit erklärte,  sich auf diesen Weg einzulassen. Das war ein Jahr vor Drehbeginn und im Laufe dieses Jahres haben wir uns immer wieder getroffen, um an der Figur zu arbeiten und sie zu schärfen. Es war uns auch ein Anliegen, wie er als Mensch unbeschadet durch diese Arbeit gehen und Dinge produzieren und spielen kann, die von ihm und seiner Logik als Mensch weit entfernt sind. Es ist ja keine Rolle, wo man sehr wesentlich über äußerliche Aktion oder ein Art von Verstellung operieren kann. Es ist sehr minimal gehalten und man muss sehr viel aus sich schöpfen. Auch wenn man kein Mörder sein muss, um einen Mörder spielen zu können - um ein langweiliges Zitat zu strapazieren - muss man das logische Denken dieser Person nachvollziehen können, ohne dass man es positiv bewertet. Michael Fuith ist ein exzellenter Arbeiter und hervorragender Schauspieler und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mit solcher Akribie da durchgegangen ist. Ich hätte mir niemanden Besseren wünschen können.
 
Sie haben schon sehr oft mit Michael Haneke zusammengearbeitet und haben ihn auch als Filme-Macher im Entstehungsprozess seiner Arbeiten erlebt. Hat er sie in Ihrer konkreten Regiearbeit beeinflusst?
Markus Schleinzer: Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Möglicherweise. Ich bin ein Autodidakt und habe keinerlei Zeit an einer Filmhochschule verbracht, wo man mit den Grundkenntnissen der Filmgeschichte ausgestattet werden kann. Meine Filmgewohnheiten bestehen aus dem Fernsehen meiner Kindheit und dem, was ich in Österreich im Kino anschauen konnte. Die erste Reaktion der Franzosen auf Michael war, er erinnere so an Bresson. Ich habe noch nie einen Film von Bresson gesehen, keine Ahnung. Ich bin Michael Haneke jedenfalls sehr dankbar, weil er mich vor über zehn Jahren in seine Filmfamilie aufgenommen und immer großes Vertrauen in mich gesetzt hat. Es ist eine große Liebe geworden. Da ich immer so aktiv bei ihm mitarbeiten durfte, waren es die Filme, an denen ich am meisten partizipiert habe. Ich war durch den Castingprozess sehr früh am Entstehen beteiligt, war oft einen großen Teil der Drehzeit am Set und habe die Diskussionen miterlebt. Ich würde es aber nicht überbewerten. Auf etwaiges Epigonentum muss ich frech sagen, steckt wahrscheinlich mehr Markus Schleinzer in einem Haneke-Film als umgekehrt ? ich habe schon öfter für ihn gearbeitet als er für mich. Ich glaube aber nicht, dass der Film, so, wie er von mir gemacht wurde, jetzt ein Branding trägt und verheißen wird, wie die nächsten Filme auszusehen haben. Ich habe mich bei Michael für diese Art der Erzählung entschieden, weil sie mir für dieses Thema immanent und richtig erschien.
 
Das heißt, es handelt sich bei MICHAEL nicht um einen einmaligen Ausflug in die Regie, es scheinen bereits Ideen für weitere Filmprojekte im Entstehen zu sein?
Markus Schleinzer:  Jetzt, wo wir im Wettbewerb von Cannes laufen, ist der Weg vom Regisseur zurück zum Caster ein größerer als es davor war. Es gibt Gedanken an andere Projekte. Im Moment habe ich aber zuviel Gegenwart, um das konkret werden zu lassen, ich glaube da muss erst wieder ein bisschen Gegenwart aus meinem Kopf herausfallen, bis wieder Platz für eine Zukunft ist.

Interview: Karin Schiefer
April 2011