Natürlich spiegelt im Kern der Film meine Meinung wider - nämlich dass sich Familie nicht ausschließlich durch die Blutsverwandtschaft
definiert und rechtfertigt. Ich finde nicht, dass die Blutsverwandtschaft zu irgendetwas verpflichten soll, sondern dass Familie
auch etwas anderes sein kann. Verpflichtung und vorgegebene Strukturen in die man passen muss, ist natürlich ein unerschöpfliches
Thema für Fiktion und auch für Dokumentarfilm, es ist aber das, was ich kritisch betrachte. Marie Kreutzer über ihr Spielfilmdebüt
DIE VATERLOSEN.
DIE VATERLOSEN trägt etwas von einem thematischen Generationenwechsel ins filmische Erzählen und eine neue Generation an Figuren
ins österreichische Kino - die Kinder der Flower-Power-Eltern. Was hat Sie inspiriert, dieses Thema aufzugreifen und diese
Figuren zu erfinden?
Marie Kreutzer: Ich hatte vor geraumer Zeit einen Themenabend auf arte über Kommunen gesehen und da kamen sehr viele
Kinder im Bild vor, aber mit denen wurde nicht gesprochen, sie waren kein Thema der Filme, haben mich aber besonders interessiert.
Das war der Anfang des Projektes. Ich war auch selbst in einer Alternativschule und solche Leute, auch wenn sie im Film etwas
überspitzt und verdichtet dargestellt sind, habe ich erlebt. Ich habe nie das Leben in einer Kommune erfahren, aber in einer
Alternativschule gibt es ähnliche Mechanismen mit Kindern. Das Thema, gegen eine Erwachsenengeneration zu rebellieren, gegen
die man eigentlich keinen Widerstand leisten muss, war mir sehr nahe.
Die inzwischen erwachsenen Kinder des Films entspringen alle einer Generation und auch einem Milieu des erzieherischen Umdenkens,
wo sich das Thema Autorität neu definiert hat ebenso wie die Rolle des Vaters, und doch sind sie Vaterlose. Ist die Absenz
der Väter ein Topos, der sich durch die Generationen und die Epochen zieht?
Marie Kreutzer: Jemand hat mal gesagt - Der Titel des Films sei falsch, denn sie sind ja gar nicht vaterlos, sie haben doch
einen Vater. Auch wenn sie theoretisch lange Zeit einen Vater hatten, bleibt dieser eine schwierige Figur und auch die Beziehung
zu ihm ist schwierig. Dieser Vater bietet nicht unbedingt eine Geborgenheit. Darum ging es mir. Was mich auch sehr interessiert
hat, ist die Frage, warum sich in Gruppen und Strukturen immer wieder so ausgeprägte Männerfiguren durchsetzen und sich immer
wieder alles um einen starken Mann dreht, egal, wie sehr man der Ansicht ist, sich davon wegentwickelt zu haben. Der Titel
bezieht sich weniger auf den Tod des Vaters, sondern auf die vielen Jahre, wo es ihn gegeben und er eine sehr problematische
Rolle gespielt hat. Es gibt im Film einen Moment, wo sich die Mütter darüber unterhalten, dass sie letztlich auf klassische
Aufgaben zurückgeworfen sind, selbst in der Freiheit der Kommune, in der sie da leben. Letztlich enden Ernährung und Versorgung
wiederum in den Mutterhänden, das ist so ein bisschen miterzählt. Ich erlebe das auch in meiner Generation so, dass sich die
Rollen ziemlich klassisch aufteilen, sobald es Kinder gibt. Es ändert sich etwas, aber das verändert sich nur langsam.
Der Film lebt nicht von einer oder zwei Hauptfiguren, sondern von einem ganzen Ensemble. Für einen ersten Langfilm eine große
Herausforderung, so viele plausible Figuren zu schaffen und miteinander in Bezug zu setzen. Wie ist das Drehbuch gewachsen?
Marie Kreutzer: Ich hab nicht unbedingt nach einem Thema für einen Ensemblefilm gesucht, aber als das Thema feststand,
war es klar. Ich selbst sehe auch Ensemble-Filme immer am liebsten. Ich hab dann im Schreibprozess natürlich festgestellt,
dass ich mir nicht gerade das Einfachste ausgesucht hatte. Natürlich ist es eine große Herausforderung, die Handlung so zu
gestalten, dass man die einzelnen Geschichten vergleichbar spannend erzählt und mit allen mitgehen möchte. Mein Anliegen war,
zumindest die Geschwisterfiguren gleichwertig zu erzählen und ihnen allen Raum zu geben, weil ich überzeugt war, dass der
Film davon leben wird, dass die Perspektiven auf die gemeinsame Kindheit verschiedene sind und die Entwicklung, die die einzelnen
Figuren genommen haben, verschieden sind. Das große Ensemble war beim Schreiben wie auch in der Inszenierung eine große Herausforderung,
es war aber das, was ich wollte und ich wollte es auch unbedingt schaffen. Die Drehbucharbeit hat sehr lange gedauert.
Wie haben Sie die Figurenkonstellation entwickelt?
Marie Kreutzer: Als ich am Buch zu schreiben begann, habe ich in Köln eine Inszenierung von Tschechows Platonov gesehen, das
in seiner allerersten Version Die Vaterlosen heißt. Ich hab mir für den Einstieg die Figurenkonstellation des Stücks als Hilfe
genommen, ich wusste ungefähr, welche Figuren es geben würde, habe mich aber an dieser Grundkonstellation und an ein paar
Motiven aus dem Stück angelehnt. Ich glaube nicht, dass man noch etwas aus dem Stück erkennen würde im Film, aber es war mir
eine große Hilfe, weil mich das Stück sehr fasziniert hat, die Thematik und die Dialoge, die sich natürlich nicht übertragen
lassen. Diese Kerngruppe - die Geschwister, die Stiefmutter und Partner, die gab es von Beginn an, daran hat sich nichts verändert.
Die Kommune zu erzählen war noch einmal etwas anderes. Da stand ich vor Fragen wie - wie groß muss sie sein, dass die Spannungen
interessant sind und es mehr als eine WG ist und wie vermeide ich, eine Art Otto-Muehl Kommune zu beschreiben, die ja ein
fast sektenartiges System war. Ich wollte das Freiwillige und Zusammengewürfelte einer organisch gewachsenen, kleinen Kommune
haben. Die Figuren waren eigentlich immer da, ich kenne sie sehr gut. Ich habe mit der Firma Witcraft das Drehbuch entwickelt,
wir haben jahrelang über die Figuren geredet, ab einem gewissen Zeitpunkt waren sie wie Leute, die am Tisch gesessen sind.
Man lernt sie einfach sehr gut kennen. Ein Ensemblefilm verlangt besonders genaue Figuren zu schaffen, man muss sie sehr genau
voneinander abgrenzen, das war immer unsere größte Sorge, dass man durcheinander kommt, weil es so viele sind. Im Film ist
es aber leichter als im Drehbuch, denn dann haben sie ein Gesicht. Klar abgegrenzte Figuren zu erzählen, darin sahen wir eine
Hauptaufgabe.
Sie haben zunächst mit Witcraft zusammengearbeitet, dann wurde der Stoff an die Novotny Film weitergegeben. Wie war für Sie
diese Erfahrung, zunächst den Stoff mit einer Produktionsfirma, die ihren Fokus auf der Drehbuchentwicklung hat, auszuarbeiten,
dann sich für die Herstellung nach einer anderen Produktionsfirma zu wenden.
Marie Kreutzer: Für mich war es vor allem bei diesem Stoff sehr gut. Ich habe zwar selber auch Drehbuch studiert und auch
schon mit anderen Autoren gearbeitet, ich glaube dennoch, dass ich durch die Herausforderung dieses Drehbuchs und die Arbeit
mit Ursula Wolschlager und Robert Buchschwenter nocheinmal so richtig Drehbuchschreiben gelernt habe. Die Arbeit hat über
drei Jahre gedauert und hat mich manchmal auch sehr zermürbt, weil ich endlich einen Film machen und nicht mehr alleine am
Schreibtisch sitzen wollte. Irgendwann kommt es einem ja völlig absurd vor, man beschäftigt sich nur mit Menschen, die es
eigentlich nicht gibt und ist den ganzen Tag allein, Schreiben ist für mich eine sehr anstrengende und einsame Arbeit. Da
war es umso schöner, Mitstreiter zu haben, denen mein Buch genauso wichtig ist wie mir und die auch regelmäßig zu treffen.
Sie haben mich in Hinblick auf Herstellung eher gebremst, und wollten immer wieder an etwas noch genauer arbeiten. Mich hat
die lange Drehbucharbeit sehr gefestigt und auch an das Buch gebunden, so, dass es ich auch gut vertreten konnte, als es an
die Arbeit mit den herstellenden Produzenten gegangen ist.
DIE VATERLOSEN thematisiert, hinterfragt und kritisiert eine Lebensform der siebziger Jahre. Die Flashback-Szenen behandeln
die Epoche der siebziger Jahre mit sehr viel Humor. Fließen auch Erinnerungen aus der eigenen Kindheit ein?
Marie Kreutzer: Es ist sicherlich nichts autobiografisch. Mich hat mal jemand gefragt, wie ich diese Kommunen-Sprache recherchiert
habe und die kommt mit Gewissheit von meinen Lehrern aus der Alternativschule. Meine Schulkollegen werden es erkennen. Wir
hatten z.B. einmal pro Woche eine Stunde, die hieß Palaver, wo es nur darum ging, zu besprechen, wie es uns miteinander ging.
Es gab auch ganz klare Regeln, wie mit Gewalt umgegangen wird. Ich erzähle sicherlich von einer Zeit, in der ich groß geworden
bin. Die Figuren sind ja auch so alt wie ich ungefähr.
Sophie sagt an einer Stelle: Familie ist überbewertet. Auch Wurzeln sind überbewertet. Wie stehen Sie zum Thema Familie, was
daran beschäftigt Sie besonders?
Marie Kreutzer: Natürlich spiegelt etwas, das im Kern für den Film wichtig ist, auch meine Meinung wider. Nämlich, dass sich
Familie nicht ausschließlich durch die Blutsverwandtschaft definiert und rechtfertigt. Ich finde nicht, dass uns die Blutsverwandtschaft
zu irgendetwas verpflichten soll, sondern dass Familie auch etwas anderes sein kann. Verpflichtung und vorgegebene Strukturen,
in die man passen muss, ist natürlich ein unerschöpfliches Thema für Fiktion und natürlich auch für Dokumentarfilm, ist aber
das, was ich kritisch betrachte. Ich habe das Glück, dass ich in seiner sehr harmonischen Familie aufgewachsen bin und ein
enges Verhältnis zu meinen Eltern habe. Ich kenne es aber von Menschen um mich auch ganz anders. Ich sehe es so, wie mein
Film es sehen will ? nämlich, dass man es sich selber definieren muss, was einem daran wichtig ist.
Großes Thema bei einem großen Ensemble waren sicherlich die Schauspieler: Wie sind Sie bei der Besetzung der Hauptdarsteller,
der Kinder vorgegangen? Wie haben Sie den Dreh mit den Darstellern vorbereitet?
Marie Kreutzer: Ich hatte einige Schauspieler beim Schreiben vor mir, war aber auch bereit, mir andere Leute anzuschauen.
Letztendlich ist nur eine übrig geblieben, das war Pia Hierzegger, die ich mir beim Schreiben als Sophie immer schon vor Augen
hatte. Rita Waszilovics hat mir Vorschläge gemacht und wir haben uns sehr viel angeschaut. Wir haben nicht sehr breit gecastet,
aber sehr lange und sorgfältig. Mir war besonders wichtig, immer wieder in anderen Konstellationen zu casten, es mussten Leute
sein, mit denen ich gut reden kann. Ich wollte nicht um jeden Preis einen guten Namen, um mich dann in meiner Arbeit nicht
ganz sicher zu fühlen, weil ich mit jemanden keine gute Gesprächsbasis habe. Es mussten Schauspieler sein, die vergleichbar
gut sind, sie mussten gut miteinander auskommen. Deshalb haben wir zum Schluss auch viel in größeren Gruppen gecastet, für
die Brüderkonstellation zum Beispiel war letztlich auch entscheidend, wie sie zusammen funktionieren. Das wollte ich, dass
es stimmig ist. Und dann kam dazu - wenn es auch keine Priorität war ? dass es sich um Familienmitglieder handelt, wenn es
eventuell auch noch Ähnlichkeiten gab, war das natürlich gut. Es gab sehr viele Kriterien zu berücksichtigen, deshalb hat
es auch lange gedauert.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2011