Valentin Hitz hat in seiner Zukunftsvision Stille Reserven eine Lebenswelt entworfen, in der das Private durchdrungen, die Gesellschaft gespalten und der Mensch als Datenreservoir
über seinen natürlichen Tod hinaus ausgebeutet wird. Versichern statt Vertrauen ist das Credo einer farb- und emotionsbereinigten
Welt, in der sich still Reserven zum Widerstand zu regen beginnen. Ein Gespräch mit Valentin Hitz (Regie) und Oliver Neumann
(Produktion).
Stille Reserven entwirft eine Lebenswelt der totalen Durchdringung des Privatlebens, der Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, der
wirtschaftlichen Ausbeutung des menschlichen Körpers über den Tod hinaus. Wir sind zur Zeit mit gesellschaftlichen Veränderungen
und Entwicklungen konfrontiert, die Künstler veranlassen, diese über dystopische Verhältnisse zu reflektieren. Warum bietet
sich die Dystopie als Zugang dafür an?
VALENTIN HITZ: Ein Vorhaben mit Stille Reserven war es, gegenwärtige Tendenzen konsequent in eine nahe Zukunft weiterzudenken. Dem zugrunde liegen allerdings Beobachtungen
gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen von heute bzw. der letzten zehn, zwanzig Jahre. Aber auch Erfahrungen
im engeren Umfeld, bei sich selber, mit der eigenen Situation.
Was den größeren Bogen betrifft, ist in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel eine drastische Verwirtschaftlichung aller Lebensbereiche
bis in den Tod und darüber hinaus festzustellen. Und das findet eine Entsprechung im Kleinen in dem an Selbstausbeutung grenzenden
Streben nach Selbstoptimierung, die den Gedanken nicht zulässt, dass man irgendwo nicht funktionieren könnte. Aber auch Ereignisse
wie 9/11 oder die Finanzkrise 2008 kommen als angstauslösende Momente dazu, die einen regelrechten Absicherungswahn vorangetrieben
haben. Nicht erst Flüchtlingsbewegungen haben den Wunsch nach Abschottung und Kontrolle alles Unvorhersehbaren hervorgerufen,
sie haben ihn nur weiter verstärkt. Und all diese Prozesse zusammen haben zur Folge, dass sich eine Zukunft nicht mehr so
vielversprechend vorstellen lässt wie in den sechziger oder siebziger Jahren, als noch vermehrt positive Zukunftsmodelle und
Utopien Platz hatten. Insofern, denke ich, führen einen heutige Tendenzen konsequent weitergedacht und auf die Spitze
getrieben wohl eher zu bedrohlichen Szenarien oder eben Dystopien.
Wie beginnt man in einer Drehbuchphase eine dystopische Welt zu bauen? Wie weit entfernt man sich von der Gegenwart? Wie weit
speist sie sich von ihr? Muss zuerst die Topografie stehen, ehe ich einen Plot einbauen kann oder entwickeln sich beide gleichzeitig?
VALENTIN HITZ: Ich glaube, das wirkt wechselseitig ineinander. Es gibt einen Gedanken, der mich seit meiner Kindheit beschäftigt und beunruhigt
und der Stille Reserven zugrunde liegt der Gedanke, nicht sterben zu dürfen. Vielleicht damals durch einen Vampirfilm hervorgerufen, vielleicht
durch ein anderes Erlebnis. Dieser Gedanke verweist auf den Machbarkeitswunsch vom ewigen Leben, allerdings aus einer Negation
heraus, und er impliziert eine Instanz, die die Macht hat, über Leben und Tod zu entscheiden. Das mögen einst die Götter oder
ein Gott gewesen sein, mit den heutigen Technologien lässt sich das nicht mehr so eindeutig zuordnen. Und noch etwas beunruhigt
an dem Gedanken, "nicht sterben zu dürfen": natürliche Abläufe werden unterbrochen, verhindert. So auch in Stille Reserven und wir stehen vor der Frage, wer die berechtigte Instanz ist, darüber zu entscheiden. Da ist man dann in Fragenkomplexen,
die ein Film nicht beantworten kann. Aber ich fand es spannend, dieses Reibungsfeld in ein Zukunftsszenario zu übertragen.
In der Mythologie und auch in der Pop-Kultur ist Dracula ein Mann, der von einem Kreuzzug für das Christentum zurückkehrt
und erfährt, dass seine Frau aufgrund der Falschmeldung von seinem Tod Selbstmord begangen hat. Diese Ungerechtigkeit des
Schicksals veranlasst ihn, sich von Gott abzuwenden, diesen zu verfluchen, was ihn mit einer Schuld behaftet, die ihn zu ewigem
Leben verdammt. Das ewige Leben im Vampirkosmos hat eben nichts mit dem zu tun, wovon unsere verwirtschaftlichte, optimierte
Welt träumt, es ist eine Strafe. Aus moralischer Schuld nicht sterben dürfen. Das halte ich für einen interessanten Gedanken.
Und konsequent weitergedacht ergibt sich für Stille Reserven: wegen ökonomischer Schuld/en nicht sterben dürfen. Neben diesem Dracula-Motiv und den vorher genannten Beobachtungen aus
der Realität kommen natürlich auch andere Einflüsse dazu. Einer meiner Lieblingsfilme ist Double Indemnity von Billy Wilder, wo es um einen Versicherungsfall geht, doppelte Entschädigung bei Unfalltod... Ein toller Film
noir. Wenn man nun den Gedanken, nicht sterben zu dürfen mit einem Versicherungsfall kurzschließt ... Und irgendwann setzt
sich aus all den Eindrücken und Beobachtungen eine Geschichte zusammen, und gleichzeitig auch eine Welt.
Wann ist beim Ersinnen einer utopischen Welt auch der Rechenstift und die Frage der Machbarkeit im Spiel? Wie präsent ist
der Produzent beim Entwickeln eines SciFi-Stoffes?
VALENTIN HITZ: Am Anfang ist man natürlich versucht, diese Welt groß auszuschmücken und sehr bildhaft zu erzählen. Je mehr man sich der
Umsetzung nähert, umso mehr beschäftigen einen Gedanken, wie sehr man in reduzierten Weltausschnitten die ganze Welt beschreiben
kann. Am Anfang haben wir viel zugelassen, haben sehr breit gesucht, befreundete Grafikkünstler haben uns geholfen, haben
Bilder gesammelt, die uns allen, auch unserem Szenenbildner Hannes Salat und seinem Team als Ideenpool gedient haben. Nach
und nach konkretisieren sich dann die Anforderungen und damit die Fragen: Was braucht es unbedingt, um die Geschichte erzählen
zu können? Was kann man vereinfachen oder abstrahieren? Was kann man weglassen?
OLIVER NEUMANN: Unsere Zusammenarbeit hat sehr früh begonnen. Als Produktionsfirma haben wir aber immer zweistufig gedacht: Wir wollten, dass
sich zuerst ein Buch entwickelt und uns dann mit Fragen der Umsetzbarkeit beschäftigen. Würden wir da schon in einer Anfangsphase
intervenieren, würden sich beide Seiten zu sehr limitieren. Es gab nie den Moment, wo wir kategorisch Einhalt boten. Wir wussten,
dass wir weder aufwändige 3-D-Wesen animieren noch Raumschiffe durchs All gleiten lassen mussten. Ich habe mich in meinem
Background als Cutter auch mit Animation und Compositing beschäftigt. Es war immer klar, dass es Lösungen geben würde, auch
wenn so mancher Abstrich gemacht werden muss.
VALENTIN HITZ: Ich habe Stille Reserven immer als einen Film gedacht, der in der nahen Zukunft spielt, dort aber vom Heute erzählt. Man nähert sich an, schwankt
zeitlich auch ein wenig, pendelt sich ein. Manche technischen Phantasien beim Schreiben tragen einen weiter in die Zukunft,
andere überholen einen: viele der Gadgets, die vor acht Jahren in der ersten Drehbuchfassung als Erfindung vorhanden waren,
gibt es inzwischen real. Ich denke an Apple Watch mit all ihren Körper-Überwachungsfunktionen. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang:
In Italien hat eine Krankenversicherung ihren Kunden eine Reduktion des Versicherungsbeitrags angeboten, wenn sie ihre Körperfitnessdaten
von der Uhr direkt an sie weiterleiten.
Auf einer weiteren Ebene geht es in Stille Reserven auch um die Instrumentalisierung der Menschen. Vincent Baumanns Profil ist schon so perfekt analysiert, dass seine Chefin
sein Handeln voraussagen und ihn für ihre Zwecke manipulieren kann.
Auf welche stillen Reserven greift der Film zurück?
VALENTIN HITZ: Der Begriff kommt aus der Finanzbuchhaltung und beschreibt Kapitalrücklagen eines Unternehmens, die nicht in der Bilanz auftauchen.
Dieses Bild lässt sich relativ direkt in die Geschichte übertragen: Menschen, die als Organ-Ersatzteillager, Leihmutter oder
Speichermedium hinter verschlossenen Türen in Lagerhallen am Leben erhalten werden. Gleichzeitig öffnet die Bezeichnung stille
Reserven Räume für weitere Assoziationen. Eine sehe ich darin, dass es in den kalten, funktionierenden Erste-Welt-Leuten
und Arbeitsmenschen vielleicht doch noch eine stille Reserve gibt, eine auf die Vincent zurückgreift, eine die es ermöglicht,
wieder Gefühle zu verspüren und zuzulassen. Und auch auf Aktivistenseite sind im Kern stille Reserven verborgen, die sich
mitunter in gewalttätigen Aktionen entladen.
Wie entstand dieses Universum aus kalten Materialien, Linearität, Geometrie und Uniformität in Zusammenarbeit mit dem Szenenbildner
Hannes Salat. Wie seine Gegenwelt?
VALENTIN HITZ: Dem Endergebnis ging ein mehrjähriges Abwägen und auch Ausprobieren von verschiedenen Ansätzen voraus. Es war naheliegend,
dass die Versicherungswelt und auch die storage-Welt, wo die Menschen wie digitale Datenträger gelagert werden,
sehr geradlinig und hierarchisch strukturiert sein sollte, horizontal wie vertikal. Alles sollte der Überschaubarkeit, der
Absicherung und der Kontrolle dienen. Die Gegenwelt der Armen und Widerständigen hingegen sollte in die verschiedensten Richtungen
wuchern und verdeutlichen, dass Leben abseits gerader Linien verlaufen und fließen kann.
OLIVER NEUMANN: Da es für Hannes Salat klar war, dass irgendwann budgetäre Grenzen erreicht sein würden, nahm er sich vor, nach Möglichkeit
real existierende Räume zu adaptieren und zu bespielen, um daraus eine zukünftige Welt zu erzeugen.
VALENTIN HITZ: Wir mussten so viel wie möglich finden. Das war die Ansage. Ausführliche Recherche und ausgedehnte Location-Suche haben uns
dann zu ganz außergewöhnlichen Orten geführt, wie z.B. zum Jakob- und Wilhelm Grimm-Zentrum von Architekt Max Dudler, eine
Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität, die von uns adaptiert im Film als Großraumbüro zu sehen ist. Oder in den verlassenen
Vergnügungspark...
OLIVER NEUMANN: Die Gegenwelt musste verarmt und heruntergekommen sein. Dafür gab es anfangs auch sehr attraktive Motive in Bratislava, umgekehrt
wollten wir keine Ästhetik, die zu sehr an den Kommunismus erinnerte. Es war ein Glücksfall, dass wir in Halle Räume fanden,
die leer standen und in denen wir letztendlich auch drehen durften. Alles in allem drehten wir in Wien, Leipzig, Halle, Niederösterreich,
Berlin und Bratislava.
VALENTIN HITZ: Meine inhaltliche Vorgabe war es, Stille Reserven in Wien spielen zu lassen. Wien als repräsentative europäische Großstadt, reich an Referenzpunkten, die auf verschiedene
historische Epochen verweisen. Auch filmhistorische. Die Aufteilung der Stadt in verschiedene Zonen, die wir im Film bedienen,
geht zurück auf das Nachkriegs-Wien und bedient natürlich als Referenz den Dritten Mann. Eine meiner Überlegungen, das Szenenbild
betreffend, war: Nehmen wir die Außengrenzen der EU und lassen wir sie durch Wien laufen. Schon im Drehbuch. Und
noch im Winter Anfang 2015, als wir gedreht haben, waren das Ausmaß der Flüchtlingsproblematik und deren Folgen nicht absehbar.
Unvorstellbar, dass in dem Jahr nach dem Dreh in unmittelbarer Nähe wieder Zäune hochgezogen und Zonen geschaffen wurden.
Visuelle Vorbilder für uns waren noch Mexiko oder Israel mit ihren Grenzsituationen. Dass wir davon hier bei uns eingeholt
würden, konnten wir nicht ahnen.
Kameramann Martin Gschlacht schaffte die Bilder einer Welt, die beinahe zur Gänze ihrer Farben beraubt ist, die in der ungeordneten
Welt auch nur mit minimalem Licht auskommen muss. Wie sah die Arbeit am Filmbild gemeinsam mit Martin Gschlacht aus?
VALENTIN HITZ: Es ging zum einen darum, die Räume zu finden, zum anderen dann darum uns im Blick auf diese Räume ganz klar darüber zu sein,
was wir davon zeigen wollen. Es gibt Räume, die sich öffnen und in ihrer bildlichen Totalität vorhanden sind, wie das in der
Bibliothek gedrehte Großraumbüro, und andere wiederum, wo der Blick beschränkt werden musste, um die Erzählung zu transportieren.
Mein Wunsch in der Zusammenarbeit mit Martin war es, eine Ästhetik zu finden, die zwar klar Farbfilm ist und dennoch den Zuschauer
aus dem Film entlässt mit dem Gefühl, einen Schwarzweiß-Film gesehen zu haben. Wie entsättigt kann ein Bild sein, dass
es noch nicht Schwarzweiß ist und dennoch der Eindruck von Schwarzweiß entsteht? Diese Frage hat uns bei der visuellen
Umsetzung von den ersten Tests bis in die Farbkorrektur begleitet. Einen tatsächlichen Schwarzweißfilm hatten wir ja schon
zusammen gemacht, Ratrace, unser gemeinsamer Diplomfilm an der Filmakademie.
Für Stille Reserven haben wir bis auf drei Drehtage alles in der Nacht gedreht, was der Gestaltung des Raums durch wenig Licht und umso mehr
Dunkelheit und der Erschaffung dieser anderen, zukünftigen Welt zugute kam. Außerdem wollte ich im Winter drehen, um die Kälte
zu sehen im Atemhauch, spürbar für die Atmosphäre, aber auch um Vegetation zu vermeiden, nur Gerippe zu zeigen.
Wie sieht die Arbeit mit den Schauspielern aus, wenn eine Welt zu beleben ist, die praktisch keine Emotionen sichtbar machen
darf? Wenn, dann werden diese sehr subtil auf den Gesichtern der Darsteller sichtbar. Wie kam der Cast zustande, der einige,
im österreichischen Film noch kaum bekannte Gesichter präsentiert: Clemens Schick, Lena Lauzemis, Marcus Signer, Jaschka Lämmert.
VALENTIN HITZ: Die Arbeit mit den Schauspielern unterscheidet sich nicht wesentlich von Filmen, die im Heute spielen. Clemens Schick in
der Rolle der Hauptfigur Vincent Baumann hat sich eine beinahe roboterartige Äußerlichkeit zugelegt, die das Funktionieren
in einer fast erstarrten Perfektion spürbar macht. Die leichten Veränderungsmomente, wann etwas von diesem Panzer aufbricht,
haben wir sehr genau abgesprochen. Es ging da immer nur um Nuancen. Auf keinen Fall sollte aus dem Roboter mit einem Mal ein
Gefühlsberserker werden.
Lena Lauzemis habe ich in Wer wenn nicht wir gesehen, wo sie Gudrun Ensslin spielt. Interessant, da ich ja auf der Suche nach einer Aktivistin war. Außerdem kannte ich
auch ihr Theaterumfeld, das mich sehr angesprochen hat. Für Lisa habe ich nach einer eigenen Art von Weiblichkeit gesucht,
auch einer Androgynität. Ich wollte nicht, dass das Zu-Gefühlen-Kommen von Vincent ausschließlich mit einer äußeren Attraktion
einhergeht. Sie sollte ihm schließlich auch eine Welt eröffnen und nicht nur ihre Bluse. Und ich wollte eine glaubwürdige
Kämpferin, in der noch ein Funken jugendlichen Feuers sprüht. Mit Marion Mitterhammer wiederum war es die Suche nach einer
kühlen Strenge, die sich als Grundton durchzieht, die aber bei der Chefin auch minimal moduliert werden darf.
OLIVER NEUMANN: Bei Koproduktionen melden die Partner immer wieder auch Bedürfnisse in der Besetzung in Cast und Crew an. Da geht es auch
darum, eine Balance zu finden. Wir haben uns in Zusammenarbeit mit der Casterin Rita Wasilovics über Besetzungsmöglichkeiten
immer wieder unterhalten und abgewogen, ob zwei Darsteller auch in der Kombination denkbar waren. Wir würden aber als Produktion
niemals einem Regisseur eine Besetzung einreden, um einen Konsens herzustellen. Das Spannende einer Besetzung liegt ja darin,
dass am Ende die Vision der Regie sichtbar wird.
VALENTIN HITZ: Marcus Signer, der Gerhard spielt, habe ich im Schweizer Film Der Goalie bin ig, für mich entdeckt, wo er einen ewigen Verlierer mit großem Herz und unheimlicher Liebenswürdigkeit spielt. Die Aktivisten
sind ja doch etwas desillusionierte Kämpfer, die schon einige Rückschläge eingesteckt haben, und durch die Besetzung von Gerhard
mit Marcus Signer strahlt dieser eine Wärme aus, dass sich Lisa dort bei ihm auch geborgen fühlen kann. Ich habe nach einem
Gesicht gesucht und einer Ausstrahlung, die man mit einem einsamen, etwas in die Jahre gekommen Cowboy assoziieren kann, der
eher zusieht, und plant, als gleich loszupreschen. Simon Schwarz und Stipe Erceg liebe ich für das, was sie ausstrahlen, was
sie verkörpern, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Dadurch bringen sie ihre Figuren zum Leben. Ebenso Jaschka Lämmert,
die Maria Dietrich spielt. Im Ehepaar Dietrich findet unsere heutige Realität am ehesten Einzug in Stille Reserven sie sind heutige Menschen, die mit ihrem Alltag und ihren Sorgen zurande kommen müssen und von den Verhältnissen
überrollt werden. Dann gibt es noch den großen Daniel Olbrychski. Ich hatte Sokulov als Osteuropäer angelegt, der noch die
alten Grenzen im Kopf trägt. Darüber hinaus sollte die Figur Neureichtum verkörpern und man sollte ihm dennoch zutrauen können,
auch schon an anderes gedacht zu haben als Profit. Damit bekommt auch der innerfamiliäre Konflikt mit seiner Tochter eine
andere Dimension.
Einen der wenigen Fluchträume in der Welt von Stille Reserven repräsentiert die Musik. Sie haben für die Songs die Texte geschrieben, wie kam es zur Zusammenarbeit mit Balz Bachmann,
der die Filmmusik komponiert hat?
VALENTIN HITZ: Ich habe für einen Song den Text geschrieben und ihn auch gesungen. Balz kenne ich seit wir Teenager sind und wir haben in
Punk- und RnR-Zusammenhängen einen gemeinsamen musikalischen Hintergrund, der ins Zürich der achtziger Jahren
zurückreicht. Er ist ein sehr gefragter Komponist. Durch die Koproduktion mit der Schweiz hat sich für mich nun erstmals die
Möglichkeit aufgetan, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die von ihm komponierte Musik macht auch den größten Anteil der Filmmusik
aus, aber nicht nur des Scores. Auch von den Songs. Allerdings sind einige der Lieder, die Lisa singt, Klassiker, die Balz
instrumentiert und arrangiert und mit Lena Lauzemis interpretiert hat. Wir wollten, dass Lisa durch diese Schlager, mit ihrem
Gesang eine frühere Welt oder eine Sehnsucht nach einer solchen auferstehen lässt. Bei Vincent ist die Musik Mittel zur Manipulation,
wenn er z.B. mit Dagmar Koller als Eleny Hoffmansthal tanzt, um sie zu einem Versicherungsabschluss zu bewegen. Wir haben
aber darüberhinaus auch versucht, unterschwellig spürbar zu machen, wie unterschiedlich Musik von den Figuren bedient wird.
War es für die FreibeuterFilm eines der bisher komplexesten und am höchsten budgetierten Projekte?
OLIVER NEUMANN: Wir haben bisher zum einen im Dokumentarfilm viel gearbeitet, wo man sich budgetär in ganz anderen Bereichen bewegt und wir
haben sehr viel Nachwuchsarbeit geleistet und erste Spielfilme u.a. mit Sudabeh Mortezei, Johanna Moder oder Sebastian Meise
gedreht. Produktionstechnisch gesehen war Stille Reserven für uns bis dato das komplexeste Projekt, inzwischen haben wir aber einige Projekte in Vorbereitung, die sich im ähnlichen
oder auch größerem Rahmenbewegen.
Bei allen Dingen, deren der Mensch verlustig geht, scheint die Frage des Vertrauensverlustes der zentrale Punkt in Stille Reserven zu sein. Das Ende erzählt davon, was man in einem derartigen Überwachungssystem aus Liebe gerade noch für das geliebte Wesen machen
kann, auch wenn es nur sehr wenig ist. Der Film hat ein sanftes, melancholisches Ende, aber wenig Hoffnung: Widerstand scheint
seinen Preis zu kosten.
VALENTIN HITZ: Ich will natürlich jetzt niemandem sagen, wie er den Film zu interpretieren hat.
In dieser Welt herrscht totales Misstrauen. Durch Kontrolle wird versucht, Vertrauen zu ersetzen. Wir sind versichert, abgesichert,
darum brauchen wir nicht mehr zu vertrauen. Oder wir können niemandem mehr vertrauen, deshalb schließen wir Versicherungen
ab. Die beiden Hauptfiguren ringen in der zweiten Hälfte des Films ständig um die Frage Wie weit kann ich dem anderen
vertrauen und wann benutzt er mich für seine Zwecke? Es geht sehr stark um das Instrumentalisieren von Beziehung und keine
der Figuren ist davor gefeit.
Eigentlich können Vincent und Lisa erst im Tod zueinander finden und einander absolut vertrauen. Wenn er seine Versicherung
für sie aufgibt, dann ist das für einen wie ihn ein großer Schritt. Wenn er allerdings durch sein Handeln ermöglicht, dass
sie sterben kann, gibt er sich ihr zur Gänze hin, ihrem Konzept. Das sehe ich schon als happy end. Das, wofür
sie gekämpft hat, erfüllt sich an ihr Recht auf Tod. Auch wenn es düster ist. Ich sehe einen Hoffnungsschimmer darin,
dass ein kontrollierter und optimierter Mensch wie Vincent, doch noch zu einem Wandel fähig ist, wenn ein kleines bisschen
in ihm aufbricht. Es scheint doch etwas als stille Reserve in ihm weitergelebt zu haben, was zugedeckt war. Vincent
trägt Lisas Geist weiter, dass ist in meinen Augen, gesellschaftlich gesprochen, eine Hoffnung.
OLIVER NEUMANN: Die Welt ist sehr düster, aber ich betrachte auch die Wandlung unserer Hauptfigur eigentlich als optimistisch. Valentin hat
es mal sehr schön gesagt: Stille Reserven ist ein sehr dunkler Film, aber es gibt auch Farben. Die muss man allerdings suchen.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2016