INTERVIEW

«Die Rückkehr der Toten steht auch dafür, dass es Ideen gibt, die einfach nicht sterben wollen.»

Virgil Widrich hat in Die Nacht der 1000 Stunden reale mit phantastischen Welten sowie die Jetztzeit mit der Vergangenheit verschränkt und einen technisch hochambitionierten, heiter-nostalgischen Thriller über die Rückkehr der Toten und Ideen, die nicht sterben wollen, ersonnen.
 
 
In Die Nacht der 1000 Stunden kehren mehrere Generationen einer Familie aus dem Jenseits zurück und treffen im Laufe einer Nacht aufeinander. Ihr davor entstandener Kurzfilm trägt den Titel back track. Ob es nun um ein Vorwärts- oder Rückbewegen in oder ein Verdichten von Zeit oder die Aufhebung der Chronologie geht ... das Spiel mit der Zeit und das Konterkarieren ihrer Linearität ist eine der Konstanten in Ihren Arbeiten. Was fesselt Sie daran, mit unserer herkömmlichen Wahrnehmung von Zeit zu spielen?
 
VIRGIL WIDRICH: Es geht in meinen Filmen häufig um ein Spiel mit der Zeit, aber auch um ein Spiel mit Identität. In Copy Shop geht es darum, dass jemand seine Identität verliert und nicht mehr weiß, wer er ist. In Fast Film gibt es einen Helden, der sich aus vielen verschiedenen Helden zusammensetzt. In Die Nacht der 1000 Stunden sehen wir einen Helden, für den die Erinnerung an seine Familie tatsächlich lebendig wird. Die Geschichten rund um die eigenen Groß- oder Urgroßeltern, die man in der Regel nur in seinen Gedanken spinnen kann, verwandeln sich in diesem Film in Personen aus Fleisch und Blut. Das hinterfragt natürlich auch, wer man selbst ist. Es hat mich immer schon fasziniert, dass man Filme zwar in einer zeitlichen Abfolge linear betrachtet, dass sie in Wirklichkeit aber als Filmkopien Objekte sind, welche die gesamte erzählte Zeit von Anfang bis Ende beinhalten. Wäre dieser Umstand den Figuren im Film bewusst, hätte das wohl einen großen Einfluss auf ihre Entscheidungen. In Die Nacht der 1000 Stunden hat mich auch die Möglichkeit einer umgekehrten Zeitreise interessiert. Nicht wir reisen in die Vergangenheit, sondern die Vergangenheit kommt zu uns und baut dann die Gegenwart zur Vergangenheit um.
 
 
Technologie und Phantasie sind in Ihren Arbeiten immer auf Augenhöhe. Kann man sie als gleichwertige Kräfte betrachten, die Ihr filmisches Erzählen antreiben?
 
VIRGIL WIDRICH: Es hat einmal jemand gemeint, das Kino habe sich ganz zu Beginn in das Kino der Brüder Lumière und das Kino von Georges Méliès gespalten und wir alle seien entweder Kinder des einen oder des anderen. Die einen dokumentieren, was passiert, die anderen erschaffen phantastische Welten. Diese beiden Ansätze existieren parallel und man kann heute viele Filmemacher nicht so eindeutig nur einer dieser Welten zuordnen. Müsste ich mich allerdings entscheiden, dann würde ich eindeutig für die Seite von Georges Méliès optieren. Über den Umweg der Abstraktion kann man auf originellere Weise etwas von unserer Realität sichtbar machen, als auf dem direkten Weg. Das Kino ist eine visuelle Kunstform. Und mich interessieren Filme, die in ihrem visuellen Anspruch überzeugen.
 
 
In Die Nacht der 1000 Stunden treffen die Mitglieder einer Familie aus drei bis vier Generationen aufeinander und sehen so aus wie zum Zeitpunkt ihres Todes. Manche davon sind jünger gestorben als andere, was die Orientierung in der Generationenfolge innerhalb der Erzählung nicht ganz einfach macht. Das Drehbuch balanciert auf einem schmalen Grat zwischen heiterer Konfusion und der Notwendigkeit nach Klarheit. Vor welchen Herausforderungen standen Sie in der Schreibphase angesichts dieses komplexen Drehbuchs?
 
VIRGIL WIDRICH: Ganz am Beginn stand das biblische Bild des Jüngsten Tages, an dem alle Toten auferstehen und von Gott gerichtet werden. Mich interessierte weniger die Frage, was ein etwaiger Gott mit den Menschen machen würde, sondern was zwischen den Menschen passiert. Wenn alle Menschen auf einmal auftauchen, dann gibt es sicher Gesprächsbedarf – falls sie sich einander überhaupt verständlich machen können. Aus dieser Idee kristallisierte sich dann der Zugang heraus, dieses Zusammentreffen innerhalb einer Familie zustande kommen zu lassen. Ein Herzog aus dem 14. Jahrhundert ist mir vermutlich weniger nahe als z.B. mein Ururgroßvater, dessen Gene ich noch recht unverdünnt in mir trage und der vielleicht Entscheidungen getroffen hat, die bis heute Folgen haben. Die Reduktion auf eine Familie war der eine Pfeiler, auf dem unsere Geschichte ruht, der andere der, alles in einem einzigen Haus spielen zu lassen. Das Drehbuchschreiben war ein sehr langer Prozess. Mein Hauptproblem war, dass die Grundidee unendliche Möglichkeiten bietet. Man kann in diesem Ansatz beliebig weit zurückgehen und alles Mögliche erzählen. Am Höhepunkt der Ausbreitung dieses Drehbuchuniversums hatte ich über 1000 Seiten Text, dann ist es aber wieder auf 100 Seiten zusammengestürzt. In diesem Prozess des Verdichtens, um innerhalb eines 90-minütigen Erzählrahmens zu bleiben, hat mir Jean-Claude Carrière als dramaturgischer Berater sehr geholfen. Je abstrakter und verrückter eine Idee – das hat sich sehr rasch herausgestellt – umso wichtiger ist eine klare Struktur.
 
 
Was in Ihren Filmen auch immer wieder auftaucht, ist Ihre Affinität zur Kinogeschichte, zum Genrekino, zu Kinoklassikern. Inwiefern flossen Referenzen dazu ins Drehbuch ein?
 
VIRGIL WIDRICH: Ein sehr schönes Beispiel für klare Struktur ist 8 1/2 von Federico Fellini. Das ist ein sehr abstrakter Film mit Phantasieeinschüben und Flashbacks, dennoch hat der Film eine ganz klare Struktur: Ein Regisseur ist auf der dringenden Suche nach einer Filmidee, er befragt jede Menge Leute – reale und imaginäre – und am Ende hat er eine Idee. Es gibt also ein Problem, ein Ziel und eine Lösung. Ich finde, sobald man dieses Skelett gefunden hat, dann ist man sehr viel freier in der erzählerischen und visuellen Gestaltung. Das Genre des Kriminalfilms hat sich bei uns sehr rasch als das am besten geeignete Skelett erwiesen, nach dem Modell – ein Mord ist geschehen, ein Ermittler kommt von außen in die Familie, keiner darf das Haus mehr verlassen und das Finale ist eine Gerichtsverhandlung. Ich dachte z.B. an 8 Frauen von François Ozon, es gibt aber jede Menge an Beispielen aus der Filmgeschichte. Das Besondere an unserer Geschichte war aber natürlich, dass es sich beim Ermittler und bei den meisten der involvierten Figuren selbst um Tote handelt.
 
 
War immer klar, dass der Film als Kammerspiel inszeniert würde oder trugen Sie sich anfangs auch mit dem Gedanken, aus dem Haus hinauszugehen?
 
VIRGIL WIDRICH: Ich wollte ursprünglich auf alle Fälle auch hinaus gehen und bedaure es immer noch, dass das in einem 90-Minüter nicht machbar war. Ich wollte die Revolution von 1848 thematisieren. Es gab in einer älteren Drehbuchfassung eine Art Zwillingsbruder des im Heute lebenden Protagonisten Philip, der mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert war. Für mich besteht ein starker Zusammenhang zwischen der Revolution von 1848 und den beiden katastrophalen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Die gescheiterte Revolution hat dazu geführt, dass die Monarchie im Ersten Weltkrieg enden musste. Dass der Zweite Weltkrieg dann eine unmittelbare Folge des Ersten war, ist kaum zu bestreiten. Hätte die Revolution 1848 gewonnen und eine schrittweise Öffnung zur Demokratie und ein mehr oder weniger friedliches Ende der Monarchie bewirkt, hätte sich die Welt meiner Meinung nach völlig anders entwickelt und diesen unfassbaren Verlust an Menschenleben in zwei Weltkriegen verhindert. Im Drehbuch gab es ein Revolutionscafé, wo auf den Tischen stehend agitiert wurde, es gab politische Aktivitäten auf der Straße. All das fiel aber dann in meiner Arbeit mit Jean-Claude Carrière unseren Bestrebungen nach erzählerischer Ökonomie zum Opfer.
 
 
Durch einen aktiven Burschenschafter als Philips Antagonisten in der Gegenwart wirft der Film dennoch politische Fragen auf, die durch aktuelle Tendenzen in Österreich und ganz Europa eine ungeahnte Brisanz erlangt haben.
 
VIRGIL WIDRICH: Die Rückkehr der Toten steht auch dafür, dass es Ideen gibt, die einfach nicht sterben wollen. Im Grunde befindet sich derzeit die ganze Welt im Würgegriff der Vergangenheit und wird – egal ob in der Regierung oder in der Opposition – von Parteien beherrscht, die das Rad der Zeit zurückdrehen und jene alten Werte wieder einführen wollen, die schon einmal katastrophale Folgen hatten. Unser Film zeigt auch, dass die Rückwärtsgewandten aller Zeiten, heutige Burschenschafter, damalige Nazis, überzeugte Monarchisten etc., hervorragend miteinander kooperieren können, wenn es um das gemeinsame Ziel geht, die Freiheit abzuschaffen und damit Macht und Geld zu gewinnen.
 
 
Die Nacht der 1000 Stunden geht einer Frage nach, die immer wieder unsere Phantasie speist: Wie wäre es, mit verstorbenen Vorfahren reden zu können und mit ihrer Hilfe Licht in Familiengeheimnisse zu bringen. Hier wird filmisch aufgelöst, was normalerweise Aufgabe und Ziel der Verfahren in der Psychotherapie ist.
 
VIRGIL WIDRICH: Die Geschichte spielt nicht zufällig in der Stadt, in der die Psychoanalyse erfunden werden musste. Es wäre sogar eine Rahmenhandlung denkbar, in der sich Philip auf die Couch legt und dann die ganze Handlung des Films unter Hypnose erlebt. Mit dem Arzt Dr. Wisek haben wir eine Figur, die für den wissenschaftlichen Zugang dieser Zeit steht. Der rationale Zugang, der strikt verleugnet, dass es ein Leben nach dem Tod geben könnte, war mir sehr wichtig. Daran ändert sich für Dr. Wisek auch nichts, wenn er selbst wieder zurückkommt. Man kann die Konstellationen im Film natürlich auch als Familienaufstellung betrachten, aber nicht mit Stellvertretern, sondern mit den tatsächlichen Vorfahren.
 
 
Wie fügte sich in diesem Ensemble-Film der Cast zusammen, ich denke vor allem an den Protagonisten Laurence Rupp und Amira Casar.
 
VIRGIL WIDRICH: Das Projekt hat einen sehr langen Finanzierungsparcours zurückgelegt, sowohl in der Entwicklung als auch in der Herstellung. Lisa Oláh hat über die Jahre immer wieder junge Talente gesucht und auch gecastet. Die große Frage war, wer unseren Helden Philip spielen würde. Wir haben sicher an die 40 Kandidaten angesehen. Laurence Rupp erwies sich als der ideale Darsteller, weil er einerseits das Jugendliche, Unverbrauchte rübergebracht hat und dennoch schon Profi genug ist, um einen ganzen Film wunderbar über die langen Dreharbeiten mitzutragen.
Amira Casar habe ich schon 2010 in Paris getroffen. Unsere Frage war – Gibt es einen internationalen Star, der auf Deutsch drehen könnte? Ich wollte mit einem Typus und einem Gesicht besetzen, das überrascht und nicht gleich Assoziationen zu anderen, populären Produktionen auslöst. Mir war es wichtig, einen Meteoriten zu finden, der aus dem Nirgendwo einschlägt und aus der Zeit gefallen ist. Daher hielt ich einen anderen sprachlichen Hintergrund für sehr spannend. Amira Casar ist dafür bekannt, ein außerordentliches Sprachtalent zu sein, das liegt wohl an ihrer Musikalität. Sie konnte mir bei unserem ersten Treffen spontan Sätze auf Wienerisch nachsagen. Und zwar nicht nur mechanisch, sondern mit Gefühl und Herz. Unglaublich. Wir haben sehr intensiv an ihrer Sprache gearbeitet, sie selbst war unheimlich ehrgeizig und wollte perfekte Arbeit leisten. Dafür haben wir nach Role-Models aus der entsprechenden Zeit gesucht und sind auf Interviews mit Paula Wessely gestoßen, in welchen sie privat, also keine Theatersprache, spricht. Über das Sprachliche hinaus suchten wir auch nach einer Frau, von der wir glaubten, dass Renate (Amiras Filmfigur) sie bewundert hätte. Renate hat sich unternehmerisch in einer Männerwelt durchgesetzt und hatte die Firma besser im Griff als ihr Ehemann. Dabei stießen wir auf Hedy Lamarr, die auch für Renates Frisur das Vorbild lieferte. Amira interessierte sich auch die Musik der späten dreißiger Jahre, um sich bewusst zu machen, welche Musik ihre Filmfigur im Ohr gehabt hätte. Das alles war ein Riesenaufwand, hat aber unglaubliche Wirkung. Es gibt bei Amira Casar und bei den anderen Hauptrollen nur wenige Dialoge im Film, die später nachsynchronisiert werden mussten.
 
 
Was hat Sie veranlasst, das Telefon als Objekt des Ullichschen Business zu wählen?
 
VIRGIL WIDRICH: Es sollte sich bei „Ullich & Cie“ zwar um eine imaginäre Firma handeln, aber mit einem Produkt, das es noch heute gibt. Ich hielt das Telefon für das geeignetste Objekt, weil es für Kommunikation steht. Es gibt tatsächlich österreichische Firmen im Telefonanlagen-Bau, die eine lange Geschichte haben. Aus gestalterischer Sicht bietet das Telefon die Möglichkeit, jede Epoche schnell identifizierbar zu machen, es eröffnete auch die Möglichkeit, dass Tote über das Telefon kommunizieren und es verweist am Ende auch auf den Überwachungsstaat. Unsere Helden werden selbst über die Telefone im Haus abgehört, womit sich ihr eigenes Produkt gegen sie richtet.
 
 
Wie ist der halb reale halb virtuelle Protagonist – das Haus – entstanden?
 
VIRGIL WIDRICH: Christina Schaffer, unsere Ausstatterin aus Luxemburg, war in das Projekt seit 2010 eingebunden. Für die Ausstattung ist so ein Film ein Traumprojekt, weil genau genommen nicht einer, sondern fünf Filme auszustatten waren. Das Haus ist einer der Hauptdarsteller im Film und Christina stellte gleich zu Beginn die entscheidende Frage: „Wer wäre denn der Architekt dieses Hauses gewesen?“ War der Architekt zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon arriviert oder war es ein junger, revolutionärer Architekt? Wir wollten kein Jugendstil-Klischee aufwärmen und nahmen auch nicht an, dass die Familie Ullich damals den neuen Tendenzen der Secession gegenüber sehr aufgeschlossen war. Wir entdeckten Oskar Marmorek, der u.a. den Wiener Rüdigerhof entworfen hat und der für diese Umbruchsphase stand. Christina hat seine Baupläne studiert und hat in damaliger Manier die Pläne für unser Filmhaus mit der Hand gezeichnet. Das Haus sollte gleichzeitig Firmensitz und Wohnung der Familie beherbergen. Es entstand dann ein Modell aus Karton, in dem wir mit kleinen Figuren begannen, Papiertheater zu spielen. Das Haus birgt nicht weniger als 25 Sets, die einzelnen Räume sollten auch farblich identifiziert werden – es gibt ein grünes Frühstückszimmer, einen weißen und einen schwarzen Salon...
 
 
Um diese 25 Sets auszustatten, haben Sie für diesen Film einen hochinteressanten Zugang entwickelt. Wie sieht der aus?
 
VIRGIL WIDRICH: Wenn man einen Film hat, der nur in einem Haus spielt, gibt es verschiedene Möglichkeiten: die eine ist, an Originalschauplätzen zu drehen. Reale Schauplätze standen aber mit der Idee des phantastischen Films im Widerspruch. Eine zweite Möglichkeit wäre, alles im Studio nachzubauen, was nicht finanzierbar gewesen wäre. Eine dritte Möglichkeit, teilweise oder komplett mit Green-Screen zu arbeiten. Auch diese Lösung wäre sehr teuer gewesen und ist für die Schauspieler unbefriedigend. Und schließlich gab es eine vierte Option, inspiriert von meinem Musiktheaterstück New Angels und auch von der Arbeit an meinem letzten Kurzfilm back track, nämlich mit Rückprojektionen zu arbeiten. Das bedeutet, das Haus digital zu bauen und auf das Set zu projizieren und mit teilweise realistischen und teilweise virtuellen Tableaus zu arbeiten. Es gibt reale Elemente wie Türen, reale Requisiten und damit den Raum, in dem sich die Schauspieler am Set bewegen können. Dahinter wird als Rückprojektion der filmische Raum gezeigt und damit ein ganz anderer Maßstab geschaffen, sodass der Raum auch größer werden kann als er am Set tatsächlich war. Wenn man das entsprechend geometrisch durchplant, dann kann man für jedes Set und für jeden Shot vorab einen Blick entwickeln, der entsprechend vorbereitet und eingeleuchtet ist. Das Verfahren hat den Vorteil, dass man mehr zeigen kann, als man sich auf konventionelle Weise leisten könnte. Der Nachteil ist, dass die Flexibilität am Set geringer wird. Improvisieren funktioniert am besten, wenn es wirklich vier Wände gibt. Bei zwei Wänden wird es schwierig. Limitationen eröffnen in der Kunst aber bekanntlich Möglichkeiten, innerhalb derer sich erst etwas entfalten kann.
 
 
Der Kameramann Christian Berger spielte hier gewiss auch eine wesentliche Rolle?
 
VIRGIL WIDRICH: Unsere Zusammenarbeit begann zweieinhalb Jahre vor Drehbeginn. Christian Berger ist ein extrem modern denkender und in die Zukunft gerichteter Kopf. Neue Technologien, die neue Farben und neue Bilder ermöglichen, treffen bei ihm auf offene Augen. Dank seiner Erfahrung erkannte er auch sehr schnell die Herausforderungen, die sich vor allem in der Beleuchtung ergeben. Wir mussten es schaffen, das reale Set anzuleuchten, die Leinwände aber weder direkt noch indirekt zu treffen. Dafür bedurfte es ausführlicher Tests, vor allem in der Kombination von realen Objekten und projiziertem Set, denn wir wollten selbst bestimmen können, ob und wann die Übergänge zwischen Realem und Projiziertem bemerkbar werden. Die Idee der Rückprojektion ist an sich eine vergessene Filmtechnik. Seit der Green-Screen-Technik gibt es keine Rückprojektion mehr. Diese Technik wurde früher dazu verwendet, um etwas zu verbergen. Z.B. eine Autofahrt oder ein Pferderitt, der im Studio mit bewegtem Hintergrund simuliert wurde. Unser Anliegen war es eher, die Rückprojektion in den Vordergrund zu holen und damit Effekte zwischen halb realistisch und halb phantastisch entstehen zu lassen.
 
 
Wenn dieses Set-Dispositiv wenig Improvisation erlaubte, dann musste umso mehr in die Vorbereitung gesteckt werden...
 
VIRGIL WIDRICH: Es bedeutete endlose Recherche, weil wir ikonenhafte Bilder brauchten, die das Publikum sofort zeitlich einordnen kann. Ich hatte mit Hilfe eines Programms einen Familienstammbaum mit 400 Familienmitgliedern erstellt. Alle, auch wenn sie nur Statisten oder gar nicht sichtbar waren, hatten einen Namen, Lebensdaten und damit einen Kleidungsstil zum Zeitpunkt ihres Todes. Die Kunst war, typische Kleider und Frisuren zu finden, die ihre Zeit klar repräsentieren. Die 120 Statisten hatten alle eine ID-Nummer, bei jedem war festgelegt, wann er wo stehen musste. Das ist bei Statisten eher unüblich. Für Requisiten wurden lastwagenweise Objekte gesammelt, von Lichtschaltern oder Heizkörpern angefangen bis zu den ganzen Möbeln. Es wurde auch die gesamte imaginäre Firmengeschichte rekonstruiert, das Ullich-Logo im Wandel der Zeiten mehrfach redesignt und die Urkunden an der Wand sind von den richtigen Bürgermeistern unterzeichnet. Die Blicke aus dem Fenster haben wir am Wiener Naschmarkt gefilmt, auch wenn wir nicht festlegen, wo das Haus in unserer Geschichte steht. Dafür haben wir 24 Stunden auf einem Kran verbracht und alle Lichtrichtungen im gesamten Tagesverlauf für jedes Stockwerk festgehalten und dann bestimmt, welche Blicke aus welchem Fenster eingesetzt werden. Jeder Shot wurde geometrisch berechnet und mit Abständen und Brennweiten geplant, sonst hätten wir das nie hinbekommen, da ja weder Haus noch Sets materiell vorhanden waren. Mit diesem Aufwand haben wir nun einen Prototypen geschaffen, der es möglich macht, mit einem einzigen Set wie mit Malerei umzugehen und darin zahllose Schauplätze zu erschaffen.
 
 
Ehe noch das erste Bild erscheint, wird schon deutlich, welch wichtigen Faktor auch die Musik in diesem Film darstellt.
 
VIRGIL WIDRICH: Die Nacht der 1000 Stunden war für alle Departments eine große Herausforderung, weil alle nicht nur einen Film, sondern gleich mehrere machten. Der Oberbeleuchter Jakob Ballinger musste die Gegenwart ebenso ausleuchten wie die sechziger, vierziger oder zwanziger Jahre. Unsere Cutterin, Pia Dumont, die schon sehr früh in die visuelle Planung eingebunden war, musste aus den Teilen unterschiedlicher Puzzlespiele am Ende ein konsistentes Bild erstellen. Auch das Sounddesign musste Klangwelten der Außenwelt und des Straßenverkehrs für verschiedene Epochen kreieren. Dasselbe galt für die Musik: Siegfried Friedrich, unser Komponist, hat ein gigantisches musikgeschichtliches Wissen. Er baut historische Komponierweisen in seine Arbeit ein und kann dadurch eine akustisch gespeicherte Epoche im Publikum abrufen. Gleichzeitig musste er auch dramaturgisch arbeiten, die Geschichte und die Gefühle der Figuren erzählen oder unterstützen. Er hat eine sehr komplexe Filmmusik mit vielen Instrumenten komponiert und musikalisch ausgedrückt, was im Film innerlich passiert. Eigentlich hat er fast eine Oper komponiert und tatsächlich kann man sich Amira Casar sehr gut in einer Oper von Hofmannsthal und Strauss vorstellen.
 
Es ist zuvor das Wort „Prototyp“ gefallen. Wie sehr ist durch Die Nacht der 1000 Stunden die Basis für weitere Arbeiten geschaffen?
 
VIRGIL WIDRICH: Ich finde es bemerkenswert, dass Avantgarde- und Trickfilme visuell oft sehr viel interessanter sind als Spielfilme. Mit unserer Methode haben wir einen Weg gefunden, der uns die Freiheit gibt, in einem realen Umfeld, in dem Schauspieler agieren können, mit den Mitteln der Malerei tätig zu sein. Ich denke, das Potenzial der Rückprojektion ist noch lange nicht ausgeschöpft, und ich würde gerne im narrativen Film weiter damit arbeiten.
 
 
Interview: Karin Schiefer
September 2016
«In Die Nacht der 1000 Stunden hat mich die Möglichkeit einer umgekehrten Zeitreise interessiert. Nicht wir reisen in die Vergangenheit, sondern die Vergangenheit kommt zu uns und baut dann die Gegenwart zur Vergangenheit um.»