INTERVIEW

«Wie funktionstüchtig wäre der eigene moralische Kompass?»

Brunhilde Pomsel, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 103, war die Sekretärin von Joseph Goebbels. Der Dokumentarfilm Ein deutsches Leben von Christian Krönes, Florian Weigensamer, Roland Schrotthofer und Olaf S. Müller begegnet in seiner betagten Protagonistin einer einzigartigen Zeugin des 20. Jhs, einem faszinierenden Gesicht und ihrem Blick auf die Gegenwart und ihr unpolitisches Leben.
 
Brunhilde Pomsel war Joseph Goebbels Sekretärin, sie ist Jahrgang 1911 und damit eine der wenigen lebenden Personen, die beinahe das gesamte 20. Jh. erlebt hat. Mit welchen Fragestellungen begannen Sie diesen Film zu planen? Wie wurde sie zu Ihrer Interviewpartnerin?
 
FLORIAN WEIGENSAMER: Brunhilde Pomsel sind wir bei der Recherche für ein anderes Projekt begegnet. Joseph Goebbels war für seine vielen Affären bekannt, angeblich hat er u.a. einem Offizier die Braut ausgespannt. Dieser Offizier soll Goebbels geohrfeigt haben, woraufhin er in ein Strafkommando versetzt und kurz darauf getötet wurde. Im Zuge dieser Recherche stießen wir auf Brunhilde Pomsel und es war klar, dass sie allein Potenzial für eine eigene Geschichte hatte. Da war allein die Dimension ihres Alters, die uns natürlich auch vor die Frage gestellt hat, ob es überhaupt noch möglich sein würde, mit ihr einen Film zu drehen. In Vorgesprächen stellte sich schnell heraus, dass sie sehr klar und wach war und dazu noch eine gute Erzählerin. Gerade was Erinnerungen betraf, war es beeindruckend, wie sehr sie sich noch an Details erinnern konnte. Verblüfft hat mich vor allem ihr Humor. Beim Einrichten für den Dreh hat sie wirklich Schmäh geführt. Umso konzentrierter und ernsthafter war sie dann im Gespräch. Sie hat auch nie etwas aus zweiter Hand erzählt. Damit meine ich Ereignisse, die man aus der Geschichtsschreibung kennt, sondern immer nur Dinge, wo sie selbst dabei war. Ihre Präzision und Konzentration waren beeindruckend.

 
War Brunhilde Pomsels Bereitschaft für den Dreh von Ein deutsches Leben ihr erster Schritt, ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken mit der Öffentlichkeit zu teilen oder hat sie bereits in anderer Form sich mit einem Gegenüber der jüngeren Generationen mit ihrer Geschichte auseinander gesetzt?

FLORIAN WEIGENSAMER: In den Vorgesprächen galt es auch, sie zu überzeugen, sich auf unser Projekt einzulassen, da sie mit einer deutschen Zeitung eine schlechte Erfahrung gemacht hatte. Nach einigen Gesprächen hat sie aber Vertrauen gefasst. Ich glaube, sie fand es dann selbst interessant, ihre Geschichte noch einmal zu durchleben. Es wurde im Laufe der Gespräche immer stärker spürbar, wie sehr es sie auch emotional mitnimmt, sich alles nochmals zu vergegenwärtigen. Reflektiert hat sie ihr Handeln auf jeden Fall mit sich selbst und sie hat es gewiss auch mit Leuten getan, die ihr nahe waren. Öffentlich hat sie es meines Wissens nie getan. Sie selbst ist eine sehr reflektierte Person. Sie hat zu allem eine Haltung und versteckt sich nicht dahinter. Sie steht auch zu ihrer Position, dass sie keine Schuld trifft. Sie legt da keine falsche Reue an den Tag.

CHRISTIAN KRÖNES: Frau Pomsel nimmt auch erstaunlich intensiv am gegenwärtigen Geschehen teil, reflektiert die Geschehnisse der damaligen Zeit und stellt Bezüge zur Gegenwart her. Das fand ich sehr faszinierend.

 
Diese Frau ist Jahrgang 1911, hat also beinahe das ganze 20. Jh. erlebt und ist ein lebendes Geschichtsbuch. Wo waren Ihre Ansatzpunkte: nur in der Zeit, wo sie im Innersten der Zelle der Macht unter den Nationalsozialisten tätig war oder interessierte Sie ihr Leben auch als Zeugin dieser langen Lebensspanne?

CHRISTIAN KRÖNES: Unser Fokus gilt den wenigen Jahrzehnten, wo eine damals funktionierende Gesellschaft aus den Fugen gerät. Die Krise hinterlässt Arbeitslose, rechte Parteien werden stark und nur eine Dekade später ereignet sich eine der größten Tragödien der Menschheitsgeschichte. Es besteht eine unglaubliche Analogie zum gegenwärtigen Geschehen. Wir stehen gerade am Ende einer nicht ganz überstandenen Krise, wir sind weniger mit beunruhigenden Arbeitslosenzahlen konfrontiert, umso mehr mit einer großen Zahl an Flüchtlingen, die bei den Menschen in westlichen Wohlstandsgesellschaften in verschiedenster Hinsicht Ängste auslösen. Plötzlich werden rechte Parolen salonfähig, mit dem Unterschied, dass jetzt nicht nur ein Land, sondern ein ganzer Kontinent nach rechts driftet. Unter diesem Aspekt hielten wir es für so interessant, diese Zeitspanne vom Erstarken des Nationalsozialismus bis zum Ende des Krieges, genau unter die Lupe zu nehmen.

FLORIAN WEIGENSAMER: Interessant ist auch die Zeit davor. Brunhilde Pomsel erzählt ja auch von ihrer Kindheit, wo herauszulesen ist, wie Kinder damals erzogen wurden. Der blinde Gehorsam, das Verbieten jeder Art der Hinterfragung oder eigener Meinung – das konnte später ausgenutzt werden. Im nahen Umfeld von Goebbels ist sie völlig aus Zufall gelandet. Sie war keine Anhängerin der Nazis, das glaube ich ihr, sie war unpolitisch. Das ist schon Vorwurf genug. Diese Nähe zum Zentrum der Macht macht ihr Mitläufertum, ihr Nicht-Nachdenken, ihr nur Auf-sich-Schauen besonders spannend. So extreme Zeiten, bringen auch die wahren Haltungen eines Menschen zum Vorschein. Die muss man erst unter Beweis stellen, wenn man unter Druck gerät.

 
Brunhilde Pomsels erster Satz im Film ist keine Erzählung, sondern eine Frage: „Ist es denn schlecht, ist es denn egoistisch, wenn die Menschen versuchen, an dem Platz, an den sie gestellt werden, etwas zu tun, was für sie gut ist ...“ Ging es Ihnen mehr darum, herauszufinden, wie sehr in einem Menschen mit dieser Geschichte auch ein Prozess der Selbstreflexion stattfindet, als Details und Erinnerungen aus dem Zentrum der Macht zu dokumentieren?

FLORIAN WEIGENSAMER: Gereizt hat uns diese einmalige Gelegenheit, einem Menschen zu begegnen, der diese historische Dimension – Erster Weltkrieg, Nationalsozialismus, Mitarbeit bei Goebbels, russische Gefangenschaft bis heute – in sich vereint. Es ging uns nie um ihre persönliche Schuld oder darum, sie als Nationalsozialistin zu entlarven. Das wäre zu einfach gewesen. Es ging uns auch darum, die Zuschauer damit zu konfrontieren, wie schnell man solche Entscheidungen trifft und wie schnell man da in etwas hineingerät.

CHRISTIAN KRÖNES: Es geht weniger um Selbstreflexion im Nachhinein, sondern vor allem um die wichtige Frage, wann ist der Moment gekommen, wo die Zivilgesellschaft aufstehen und handeln muss. Diesen Moment nicht zu übersehen, um nicht in einen Sturm zu geraten, von dem Frau Pomsel sagt – „Man musste einfach mitmachen“. Wer dagegen war, riskierte sein Leben.

FLORIAN WEIGENSAMER: Brunhilde Pomsel ist sehr intelligent und sympathisch. Man folgt ihr ja ein Stück des Weges und gerät unweigerlich an den Punkt, wo man sich sagen muss – wahrscheinlich wäre ich selbst auch dort gelandet. Sie zu verurteilen wäre sehr einfach. Man kann sich ihrer Perspektive nicht entziehen, sie hat nur ein ganz normales Leben geführt. Man kann sich wünschen, wie man in dieser Situation gerne gehandelt hätte, sicher sein kann man sich nicht. Die Geschichte der Frau Pomsel steht für die Millionen Menschen, die durch ihre Ignoranz, ihren Egoismus das NS-System getragen haben, die es dadurch eigentlich überhaupt erst möglich gemacht haben. Diese Geisteshaltung greift heute in Europa leider wieder sehr stark um sich. Die völlige Gleichgültigkeit anderen gegenüber, das völlige Fehlen von Empathie – von Solidarität will ich schon gar nicht mehr sprechen.

CHRISTIAN KRÖNES: Diese Grundhaltung der Frau Pomsel hat damals das System gestützt und ins dunkelste Kapitel der menschlichen Zivilisation geführt. Und ist doch heute wieder allgegenwärtig. Wohin diese geistige Haltung führt, kann man sich anhand der Geschichte der Frau Pomsel sehr gut vor Augen führen. Und dabei ist die große Frage, ob dieser Egoismus ein menschlicher Grundmakel, ein menschlicher Wesenszug, ein Instinkt ist. Und wenn ja, dann stellt sich die Frage, wie man dieses Unding bekämpfen kann – vielleicht mit Kultur, mit eigenem Denken. Der Film verlangt vom Zuseher sich selbst eine ehrliche Antwort auf die Frage geben, welche moralischen Positionen man für einen schnelleres Weiterkommen, ein höheres Gehalt aufgegeben hätte. Der Zuseher ist eingeladen, sich die Frage zu stellen, wie funktionstüchtig der eigene der moralische Kompass wäre.

 
Frau Pomsel spricht von ihren Kindheitserinnerungen, von der Zeit des Aufstiegs der Nazis und ihre Zeit während des Naziregimes. Ihr deutsches Leben nach dem Zweiten Weltkrieg wird nicht mehr angesprochen. Hätte es den Bogen des Films überspannt?

FLORIAN WEIGENSAMER: Wir haben sie viel über ihre Gefangenschaft und ihre spätere Karriere befragt, hatten aber den Eindruck, dass es von unserem Fokus wegführte und ihn aufgeweicht hätte.

CHRISTIAN KRÖNES: Frau Pomsel hat wieder beim Rundfunk gearbeitet und hat sich bis in die oberste Etage der späteren ARD hinaufgearbeitet. Das kann man kritisch hinterfragen. Ich glaube aber, dass nach dem Krieg an viel verantwortungsvolleren Positionen vorbelastete Personen tätig waren. Da gab es viele bedenklichere Karrieren.

FLORIAN WEIGENSAMER: Mich faszinierte, dass sie absolut ehrlich und glaubwürdig ist. Sie behauptet in keiner Weise, ein sehr moralischer Mensch gewesen zu sein. Sie sagt: „Natürlich habe ich auf mich geschaut. Natürlich war ich bei der Partei, aber ich war kein Nazi und ich habe keine Schuld.“ Es ist ihr klar, dass sie anders hätte handeln sollen, sie hegt auch große Bewunderung für Leute, die im Widerstand waren und gleichzeitig sagt sie, wie dumm es von ihnen gewesen sei, ihr Leben zu riskieren, sie könnten doch heute noch leben. Das klingt absurd und ist doch in sich wieder logisch.

 
Was bedeutet es mit einem Menschen, der 103 Jahre alt ist, ein Gespräch zu führen? Es spielten gewiss auch Tagesverfassung, Ermüdung ... eine Rolle.

FLORIAN WEIGENSAMER: Wir haben im Studio gedreht. Wir holten sie in der Früh ab, was für sie sehr anstrengend war. Da kam aber wieder ihr Pflichtbewusstsein zutage – sie hatte uns zugesagt, also zog sie es auch durch, auch wenn es eine Belastung für sie war. Den Dreh erlebte sie auch als positive Erfahrung – nicht nur aufgrund der Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtete, es war auch die Gelegenheit, noch einmal alles im eigenen Kopf durchzugehen. Sie hat sich sehr intensiv mit sich selbst auseinander gesetzt. Sie erzählte, wie sie das Thema auch in ihren Träumen beschäftigte. Es ergab sich, dass es eines zweiten Drehteils bedurfte, für den sie sofort zugesagt hat. Meist waren wir zu viert, es hat aber nur einer von uns die Fragen gestellt. In der Regel drehten wir drei Stunden, dann gab es eine Pause und am Nachmittag arbeiteten wir nochmals zwei Stunden. Man merkte, wenn sie müde wurde. Dennoch hat sie das mit einer unheimlichen Konzentration und Ausdauer durchgezogen. In einem ersten Block haben wir sechs Tage gedreht und dann noch einmal ungefähr vier Tage. Und haben rund 30 Stunden Gespräch aufgezeichnet.

 
In bildtechnischer Hinsicht sehen wir eingangs, ehe Brunhilde Pomsel zu sprechen beginnt, ganz nahe Aufnahmen ihres Gesichts/ ihres Kopfes. Extrem scharfe Bilder, die die Poren, die Härchen dieser 100-jähringen Haut wie eine Landschaft, eine Textur zeigen. Warum diese erste, abstrahierende Begegnung mit der Person, die im Mittelpunkt dieses Films steht?

CHRISTIAN KRÖNES: Es war uns klar, dass unser Film Vergleiche mit André Hellers und Othmar Schmiederers Im toten Winkel hervorrufen würde, der ein unglaublich wichtiger Film war. Wir wollten uns aber auch unterscheiden. Es war unser Ziel einerseits ein zeitgeschichtliches Dokument schaffen, dieses aber mit einem außergewöhnlichen cineastischen Ansatz zu verbinden. Brunhilde Pomsel hat ein unheimlich faszinierendes Gesicht, in dem sich ein Jahrhundert Leben spiegelt und in das man sehr lange blicken kann.

FLORIAN WEIGENSAMER: Es geht nicht nur oberflächlich um sie, sondern auch um etwas Ur-Menschliches, Archaisches, um einen Instinkt, der viel tiefer sitzt...

CHRISTIAN KRÖNES: ... und auch um eine abstrakte Begegnung mit einem Menschen, der von sich selbst im Zuge der Dreharbeiten einmal sagte – „Ich sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein“.

FLORIAN WEIGENSAMER: Wir wollten Brunhilde Pomsel aus Raum und Zeit heben, deshalb haben wir sie auch nicht zu Hause aufgesucht. Wir wollten nicht, dass der Zuschauer bei ihr zu Besuch ist, sondern dass diese Frau Pomsel, die in jedem von uns steckt, in die Köpfe dringt.
 

Eine ihrer Kernaussagen ist „auch das Schöne hat Flecken, auch das Schreckliche hat Sonnenstellen... Es ist immer ein bisschen grau“. Ihr Bemühen, sich in der Grauzone des totalitären Regimes zu arrangieren, steht gewiss für viele deutsche Leben. Ist das kontrastreiche Schwarzweiß der Filmbilder auch der Versuch, dieser inhaltlichen Ebene des Films ein visuelles Gegengewicht zu verleihen?

CHRISTIAN KRÖNES: Die Schwarzweiß-Stilistik gibt dem Film eine unverwechselbare visuelle Ästhetik. Durch diese bewusste Reduktion werden Inhalt und Emotion in den Vordergrund gestellt, die Aufmerksamkeit verdichtet und konzentriert. Das Schwarzweiß lässt uns in eine längst vergangene Zeit eintauchen. In Brunhilde Pomsel erwachen Erinnerungen: Vergessenes, Unbewusstes, Verdrängtes, ein Leben im Nationalsozialismus. Die Stilistik unterstützt ihre Erinnerungen metaphorisch, schafft fließende Übergänge in die historischen Filmdokumente.Die Geschichte von Brunhilde Pomsel ist eine zeitlose, immer gültige und die Schwarzweiß-Ästhetik verleiht auch dem Film einen zeitlosen Charakter. Wir wollten alles weglassen, das irgendwie ablenken könnte, damit man sich voll und ganz auf die Erzählung konzentrieren kann. Es ist bei diesem Film unabdingbar, dass der Zuschauer die Bereitschaft des Zuhörens mitbringt.

FLORIAN WEIGENSAMER: Es ging uns gewiss auch darum, das Hin und Her in ihr selbst, die Kontraste und Widersprüche in ihr widerzuspiegeln. Schwarzweiß unterstützt die Konzentration auf den Inhalt. Den nahen Aufnahmen ihres Gesichts und damit ihrer Erzählung kann sich auf der Kinoleinwand niemand entziehen – es zwingt den Zuseher förmlich zur Aufmerksamkeit.

 
Brunhilde Pomsel sagt an einer Stelle „... gehorchen, lügen, die Schuld auf jemand anderen schieben ... Es wurden Dinge in den Kindern wach, die nicht in ihnen waren.“ Dieser Satz stellt eine unmittelbare Verbindung zu Das weiße Band her. Hat Sie dieser Film in gewisser Weise beeinflusst?

CHRISTIAN KRÖNES: Es ist in gewisser Weise eine Weiterführung der Zeitachse von Das weiße Band: Diese heute 105-jährige Frau, könnte eines der kleinen Mädchen in Das weiße Band gewesen sein. Diese Verbindung kann man eindeutig herstellen. Dort, wo die Fiktion von Michael Haneke endet, beginnt mit den Erinnerungen von Frau Pomsel der dokumentarische Teil von Ein deutsches Leben.

FLORIAN WEIGENSAMER: Das weiße Band erzählt ja sehr gut, dass die Suche nach Ursachen sehr viel tiefer gehen muss und es nicht genügt, die Machtübernahme der Nazis einfach als historisches Faktum in den Raum zu stellen. Dass so etwas passieren kann, hat auch seine Ursachen im ganz Kleinen, in der Familie.

 
Ein deutsches Leben ist kein reiner Interviewfilm, sondern ist sehr stark durch Archivmaterial strukturiert. Wann hat sich herausgestellt, dass die Gespräche mit Brunhilde Pomsel dieses Gegengewicht benötigen?

CHRISTIAN KRÖNES: Von Beginn an stand fest, dass wir keinen Film machen wollten, dem nur das Interview zugrunde liegt. Archivmaterialien galten als fixer Bestandteil. Die Herausforderung bestand darin, eine richtige Entscheidung in der Auswahl zu treffen. In der Recherche wurde uns auch bewusst, wie stark gewisse Archivmaterialien bereits „verbraucht“ sind. Es gibt so viele Materialien, die für Fernsehzwecke umgeschnitten, neu bearbeitet, in veränderten Kontext gestellt, koloriert oder mit Musik unterlegt wurden. Wir stellten zu unserer Überraschung fest, wie schwer es war, an Archivmaterialien in ihrer unbearbeiteten Ur-Form heranzukommen.

 
An welche Archive sind Sie herangetreten?

FLORIAN WEIGENSAMER: Wir sind über das US Holocaust Memorial Museum in Washington und über das Steven Spielberg Film and Video Archive, das sehr viel privates Material gesammelt hat, an die Arbeit gegangen. 800 Stunden aus dieser Zeit zu sichten, gehörte eher zu den belastenden Momenten dieses Projekts. Wenn man jede Nacht von Hermann Göring träumt, wird es unheimlich.

CHRISTIAN KRÖNES: Es war ein Glücksfall, mit Steven Spielbergs Archiv zusammen-zuarbeiten, da die dort gelagerten Materialien in ihrer ursprünglichen Form verfügbar waren. Archivmaterialien werden heute oftmals entsprechend der Sehgewohnheiten des Publikums bearbeitet und bekommen damit eine völlig andere Aussage. Denn Filmaufnahmen aus dieser Zeit sind zwar wichtige Zeitdokumente, werden aber nur selten einem objektiv-historischen Anspruch gerecht. Nachrichten, Aufklärungs- oder Propagandafilme der unterschiedlichen kriegsführenden Nationen vermitteln höchst einseitige, subjektive Informationen, brillant gestaltet aber inhaltlich meist fragwürdig. Filme dieser Ära wurden immer subtil inszeniert, Ereignisse für die Kamera regelrecht orchestriert.  Es ging auch darum, das Publikum dafür zu sensibilisieren.

FLORIAN WEIGENSAMER: Wir hielten es für wichtig, genau auszuweisen, woher die Archivfilme kamen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass alles, was aus dieser Zeit stammt, Propagandamaterial ist. Aus dem Fernsehen kennen wir viele zum Standard gewordene Archivbilder, die oft unreflektiert eingesetzt werden und deren Effekt auch gefährlich ist, weil er etwas Voyeuristisches hat. Daher halte ich es für so wichtig, das Material unverfälscht zu zeigen. Dazu kommt der Aspekt, dass Frau Pomsel ja im Propagandaministerium gearbeitet hat, der durch die Archivbilder unterstrichen wird.

 
Als drittes strukturierendes Element kommen die Zitate von Joseph Goebbels dazu. Welche Funktion erfüllen sie?

FLORIAN WEIGENSAMER: Da Brunhilde Pomsel seine Sekretärin war, musste er auch in einer Weise im Film präsent sein. Wir wollten ihn auf distanzierte Form mitwirken lassen, wollten den „Teufel“ aber nicht zeigen. Man sieht ihn nur ein einziges Mal, allerdings in einem völlig ungewohnten Umfeld, wo er weder in Uniform noch in seiner Funktion zu sehen ist – nämlich als „Feingeist“ im Café Florian in Venedig. Die Zitate erfüllen auch eine Funktion der Strukturierung. Vieles davon stammt aus seinem Tagebuch, das vor wenigen Jahren veröffentlicht worden ist. Eine sehr aufschlussreiche, wenn auch beklemmende Lektüre. Es bestätigt Frau Pomsels Ausführungen, wie unheimlich eitel er war und das Tagebuch nur zur Selbstdarstellung. Sehr interessant zu entdecken, in welcher Konsequenz diese große Show, bis ins tiefste Persönliche abgezogen wurde.

 
Hat Frau Pomsel viel über Goebbels erzählt oder doch nicht so viel, wie Sie vielleicht erwartet hätten?

CHRISTIAN KRÖNES: Man kann sie über Goebbels erzählen lassen. Da sie aber nie Vorkommnisse aus dritter Hand erzählt hat, blieben nur die wirklich persönlichen Begegnungen übrig. Von diesen persönlichen Erzählungen gab es sehr viel. Sie waren für uns allerdings problematisch, weil man sich damit nicht Frau Pomsel, sondern auf eine voyeuristische Art Joseph Goebbels näherte, was wir unbedingt vermeiden wollten.

FLORIAN WEIGENSAMER: Es war eine der Herausforderungen in diesem Projekt, Goebbels mitschwingen zu lassen, ohne ihm zu viel Raum zu geben. Dieser Raum war für Brunhilde Pomsel vorgesehen. Und wir wollten es vermeiden selbst in die Propagandafalle zu tappen, weil von Goebbels durch sehr gut inszeniertes Archivmaterial so viel bekannt ist. Und einen posthumen Propagandaauftritt wollten wir ihm in diesem Film wirklich nicht geben.

CHRISTIAN KRÖNES: Es gab einige Stellen im Film, wo wir bereits zu Frau Pomsels Erzählungen Archivmaterial gesetzt hatten, das wunderbar funktionierte. Erst durch mehrfaches Sichten und Hinterfragen wurde uns bewusst, dass wir genau dem etwas entgegensetzen wollten und mussten. Diese Reflexion in Gang zu halten, nicht allzu rasch selbstzufrieden zu sein und an gewissen Archiv-Stellen weiter zu recherchieren und das naheliegende Material durch ein anderes zu ersetzen, das hat sich letzten Endes sehr gelohnt.

 
Wie hat die Zusammenarbeit von vier Regisseuren funktioniert?

FLORIAN WEIGENSAMER: Vier klingt natürlich nach sehr viel. Andererseits war es bei diesem Thema ausgesprochen gut, dieses gegenseitige Korrektiv zu haben, um nicht in gängige Denkmuster zu verfallen.

CHRISTIAN KRÖNES: Es ist klingt vielleicht überraschend, aber man kann Film auch in einem demokratischen Prozess gestalten. Dazu kam dann noch unser Schnittmeister Christian Kermer, der den Look des Films sehr wesentlich mitgeprägt hat. In ihm hatten wir ein sehr strenges Korrektiv. Er hat uns oft motiviert, schon abgeschlossen betrachtete Sequenzen nochmals zu überdenken und querzubürsten.

 
Sie ließen es bereits anklingen, dass die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema des Nationalsozialismus tiefe Spuren in einem persönlich hinterlässt. Was hat dieser Film in Ihnen ausgelöst?

FLORIAN WEIGENSAMER: Das Schlimmste war für mich die Sichtung des Archivmaterials. Das zieht sich bis in die Träume hinein und es dauert sehr lange, bis man die Bilder wieder los wird. Für uns nach dem Krieg Geborene drängt sich immer die Frage auf, was man wohl selbst in der Situation gemacht hätte. Man gibt sich nach dieser Auseinandersetzung gewiss nicht mehr die einfache Antwort, die man gerne geben würde.

 
Hat diese Arbeit auch Ihr Selbstverständnis als Filmemacher neu definiert?

CHRISTIAN KRÖNES: Als wir von der Existenz von Frau Pomsel erfuhren, einer Zeitzeugin, mit der wir nicht mehr gerechnet hatten – das ist ein Moment, wo einem der Himmel auf den Kopf fällt, weil man weiß, dass man aus dieser Situation etwas machen muss. Wir standen vor einem Projekt mit einer damals 101-jährigen Protagonistin. Es war klar, dass wir schnell handeln mussten, auch gegen viele Widerstände. Es war nicht einfach, Unterstützung für das Thema zu finden. Wenn man in so ein Projekt hineingeht, übernimmt man eine Verantwortung. Wir wussten, dass wir dieses Projekt unbedingt realisieren mussten, da es eben nicht nur ein „Filmprojekt“ war, sondern ein zeithistorisches Dokument.

FLORIAN WEIGENSAMER: Es war ein Thema, das einen persönlich nicht loslässt. Daher will man es teilen, ohne mit dem Zeigefinger auf jemanden zu deuten. Wenn die Gelegenheit vor einem liegt, die Geschichte von Brunhilde Pomsel, Sekretärin von Joseph Goebbels, zu erzählen, dann muss man das tun, auch wenn ein egoistischer Antrieb, sich persönlich damit auseinanderzusetzten, im Spiel ist. Auch weil mich die Frage nach der Mitschuld selbst so bewegt. Da kann man nicht aus.


Interview: Karin Schiefer
April 2016
 
«Diese Nähe zum Zentrum der Macht macht ihr Mitläufertum, ihr Nicht-Nachdenken, ihr nur Auf-sich-Schauen besonders spannend.»