INTERVIEW

Ulrich Seidl im Gespräch über JESUS DU WEISST

 

«Es ist bei meinen anderen Filmen immer um Intimität gegangen, um die Intimität zwischen Menschen, die zwischen Mensch und Tier und jetzt gibt es die Intimität zwischen Gott und Mensch. Wahrscheinlich ist es das Intimste, das es gibt. Es ist jedenfalls eine nicht fassbare Intimität. Es ist ein großes Geheimnis und ein großes Tabu.»

 

In den vorangegangenen Dokumentarfilmen Models oder Tierische Liebe ging es immer wieder um die Intimsphäre der Protagonisten in einem körperlichen Sinn. Mit Jesus, Du weißt kommt man, in eine andere, spirituelle Intimsphäre.

ULRICH SEIDL:  Es ist bei meinen anderen Filmen immer um Intimität gegangen, um die Intimität zwischen Menschen, die zwischen Mensch und Tier und jetzt gibt es die Intimität zwischen Gott und Mensch. Wahrscheinlich ist es das Intimste, das es gibt.

 

Eine Intimität mit sich selbst?

ULRICH SEIDL:  Das kommt darauf an, wie man es sieht. Es ist jedenfalls eine nicht fassbare Intimität. Es ist ein großes Geheimnis und ein großes Tabu.

 

Handelt es sich bei Jesus um ein lange gehegtes Projekt?

ULRICH SEIDL:  Überhaupt nicht. Ich glaube, ich hab zum ersten Mal einen Film gemacht, der nicht aus meinen Beobachtungen heraus entstanden, sondern mir entgegen gekommen ist. Ein Produzent und Freund schlug mir das Thema vor, das zunächst Jesus Christus lautete, ich sagte zu, unter der Bedingung, dass ich das Thema so behandeln konnte, wie ich es mir vorstellte. Nach zwei Tagen war die Sache finanziert. Insofern ist das diesmal ganz anders gelaufen.

 

Als Zuschauer ist man unangenehm berührt, wenn die interviewten Personen ihre innersten oder verbotenen Gedanken erzählen. Ist es Ihnen im Laufe der Arbeit am Film nicht auch so vorgekommen, dass es beinahe irritierender ist, wenn jemand seine Gedanken als wenn jemand seine Sexualität preisgibt?

ULRICH SEIDL:   Mir ist diese Art der Unterscheidung nicht gekommen. Es war ja wieder einmal so, dass ich nicht wusste, ob mein Konzept funktionieren würde. Ich hatte eine Grundidee zum Film, die war das Beten, das Gespräch mit Gott. Voraussetzung für das Gelingen des Films war, Leute zu finden, die bereit sind, ihr Intimstes preiszugeben. Ansonsten wäre es ein Formbeten gewesen, das haben wir schon oft gesehen. Ich hab auch versucht, die Menschen zu überzeugen, dass es darum geht, etwas zu machen, was wir noch nie gehört oder gesehen haben, dass wir so ihren Glauben über diesen Film weitergeben können.

 

Es gibt in Ihrer Biografie einen starken Bezug zur Religion?

ULRICH SEIDL: Ich war im katholischen Internat bei den Jesuiten in Kalksburg, später bei den Schulbrüdern in Strebersdorf und bin sehr katholisch und religiös erzogen worden. Als Kind war ich natürlich Ministrant und es hätte leicht sein können, dass ich Priester werde, es hätte auch den Vorstellungen meiner Eltern entsprochen, es hat sich aber dann anders entwickelt. Aber bestimmte Sachen sind mir geblieben, man kann ja seine Kindheit und seine Wurzeln nicht abstreifen kann und ich komme aus einem Elternhaus, wo der Glaube, die Kirche und der Katholizismus alles war und den Alltag geprägt hat. Ich hab das Thema aus zweierlei Gründen gern für einen Film aufgenommen weil ich an dem Thema interessiert war und es für mich eine Gelegenheit darstellte, in meine Kindheit zurückzuschauen, die ich schon lange abgestreift hatte. Außerdem war der Gedanke verlockend, nach der jahrelangen Arbeit an Hundstage einen kleinen Film zu machen. Es gab diesen Druck, nach dem Riesenerfolg einen nächsten Film machen zu müssen, der noch größer und erfolgreicher werden muss. Und so war es eine sehr schöne Gelegenheit, einen kleinen Film zu machen, wo man wusste, der brauchte nicht dafür anzutreten. Gleichzeitig war es inhaltlich sehr interessant, weil ich mit Menschen zu tun hatte, mit denen niemand von uns vorher zu tun hatte.

 

Wie sind Sie an die Suche nach geeigneten Leuten herangegangen?

ULRICH SEIDL: Als ersten Schritt haben wir jemanden beauftragt, der im Internet und per Telefon dieses Feld aufgearbeitet hat. Damit hatten wir die Infos, wo wir ansetzen konnten, da das Angebot so unüberschaubar und komplex ist. Dann sind zwei Mitarbeiterinnen ausgeschwärmt, die in Pfarren oder zu andere kirchlichen Institutionen gegangen sind. Es ging uns von vornherein um Menschen, die an Jesus Christus glauben oder Menschen, für die Jesus Christus den Mittelpunkt ihres Lebens darstellt, nicht um die katholische Kirche.

 

Mit welcher Aufgaben- bzw. Fragestellung verlief das Casting?

ULRICH SEIDL: Es wurden zum Teil Straßencastings durchgeführt oder Leute befragt, wenn sie aus der Kirche kamen. Fast jeder Mensch, der vor der Kamera war, hat seine eigene Welt, weil es für jeden irgendwie anders war. Es waren viele Leute dabei, die eine große Bekehrung erlebt hatten, die z.B nach einer schweren Krankheit erleuchtet wurden. Ich suchte aber Leute, die keine Glaubensextremisten waren, sondern Frauen, Männer, Junge, Ältere, Leute, die man so sieht, wenn man in die Kirche geht, einfach das normale Kirchenvolk. Ich wollte keine Leute in ihren religiösen Auswüchsen zeigen, das wäre leicht gewesen.

 

Wie lange hat das gedauert?

ULRICH SEIDL:  Zwei Monate wurde gecastet, ich habe die Bänder gesichtet und dann mit den Leuten, die mich interessiert haben, Kontakt aufgenommen. Zunächst trafen wir uns im Kaffeehaus, dann bin ich zu ihnen nach Hause gegangen. Das dauerte zweieinhalb, drei Monate, dann begann der Dreh, der sich über den ganzen Sommer hingezogen hat. Ich begann mit drei Leuten zu arbeiten, um zu sehen, was da passiert oder nicht passiert. Ich habe mit viel mehr Leuten gedreht, als letztendlich im Film sind.

 

Welche Fragen stellten Sie den Protagonisten?

ULRICH SEIDL: Ich hab die Leute gefragt, mir Jesus Christus zu beschreiben: äußerlich – wie sieht er aus, innerlich – was ist er für ein Mensch. Das war sehr interessant und lustig, weil jeder einen anderen Christus sieht. Es hat schon etwas mit den Bildern, die uns die Kirchen mit ihrem Malereien und Skulpturen vorgeben, zu tun, aber der eine sieht in mit großen Zehen, der andere mit kleinen Fingern. Ich hab versucht, dass sie ein möglichst genaues Bild entwerfen, von dem was die Menschen in sich tragen von diesem so viele tausend mal abgebildeten Jesus Christus. Diese Ebene war zwar toll, ich hab sie aber letztendlich beim Schnitt ausgespart weil es eine Interviewsituation gespiegelt hat, die dann zu den anderen Situationen, die ja eher Spielfilmszenen sind, nicht dazu gepasst hat. Da wäre es für mich zu sehr ins Dokumentarische gegangen.

 

Die Leute sprechen, als wäre keine Kamera da, sehr lange ungeschnitten und ohne Zwischenfragen. Wie sah die Vorbereitung aus, dass die Leute beim Dreh ziemlich genau wussten, was beim Dreh passieren muss?

ULRICH SEIDL:  Es bedurfte einer gewissen Vorbereitung, um den Leuten, die ich mir ausgesucht habe, zu vermitteln, worum es mir geht. Trotzdem ist es dann so, dass man am ersten Drehtag da steht und niemand macht das, was man gerne hätte. Beim Drehen braucht man dann noch einmal einen Prozess, um sie dort hinzubekommen, dass sie sich allmählich öffnen und verstehen, worum es eigentlich geht. Natürlich sagt dann jeder Mensch, wenn ich jetzt sage, was bei mir zu Hause passiert, gebe ich das einer Öffentlichkeit preis. Ich war aber sehr überzeugend zum einen, zum anderen haben sich diese gläubigen Menschen auch gesagt, wenn dieser Film gemacht wird, dann will es Jesus Christus so, dann muss ich auch dafür Zeugnis ablegen. Insofern hat mir Jesus dabei sehr geholfen. Oft entwickeln sich auch Dinge, die von vornherein überhaupt nicht geplant sind. Bei dem jungen Paar hatte ich nur mit ihm vorbereitet und wollte ihn wie die anderen als Einzelperson nehmen. Am ersten Drehtag hat sie ihn begleitet, ich sprach kurz mit ihr, drehte zuerst mit ihm und fragte dann sie, ob sie nicht auch mitmachen wollte. Da drehte ich sie dann beide, wo sie auf der Kirchenbank sitzen und miteinander sprechen, das hat sich dann so langsam entwickelt.

 

Es gibt eine Art Zwischentitel, wo jeder bei einer Aktivität gefilmt wird: die Frau beim Bügeln, die anderen bei einer sportlichen oder spielerischen Aktivität. Sind die als Metaphern zu verstehen? Haben die Leute die Aktivität selbst gewählt?

ULRICH SEIDL: Nein, das dürfen sie bei mir nie. Es ist zum einen etwas Atmosphärisches, zum anderen gibt es nach dem, was man hört, was die Leute sprechen und wie sie beten, dem Zuschauer eine Kleinigkeit, vielleicht eine Emotion dazu. Wenn man Frau Ahmad zu Hause beim Bügeln sieht und ihr Mann geht hinten vorbei, dann kommt da etwas dazu, und man stellt sich die Frage, wer von beiden ist jetzt ärmer dran, wer von leidet mehr unter dem anderen, sie unter ihm oder er unter ihr. Die Voraussetzung war, dass es sprachlose Szenen sein mussten. Das andere war im Schwimmbad, dieser Mann betreibt viel Sport. Es ging immer um etwas, was die Leute tun und der rennt quasi gegen seine Einsamkeit an.

 

Sehr bestechend ist die Kamera, die immer noch ruhiger, noch linearer und geometrischer wirkt?

ULRICH SEIDL: Das hat sich natürlich angeboten. Wenn man in einer Kirche steht, ist die Architektur zentral ausgerichtet und es gibt nur diesen Standpunkt. Natürlich kommt das meiner Art, Bilder zu komponieren und zu kadrieren sehr entgegen. Der Schauplatz hat sich mit meiner Art zu filmen, die ich schon immer hatte, völlig gedeckt. Ein Kritiker hat einmal geschrieben, meine Tableaus sind wie Altäre, vielleicht gab es da einen unbewussten Bezug. Außerdem war es wichtig, dass man nicht durch die Kamera in irgendeiner Form ablenkt, sondern, dass es hier das Gotteshaus gibt und da ist der kleine Mensch, der dann hinaufschaut und betet.
 

Der Film hatte internationales Echo, war bereits auf einigen Festivals. Wie reagiert das Publikum?

ULRICH SEIDL: Vielfach mit Schweigen hab ich das Gefühl. Die Menschen sind, wenn der Film aus ist, eher nachdenklich, nicht verstört wie bei meinen anderen Filmen. Der Film entwickelt, glaube ich, eine ziemliche Intensität, das geht natürlich auf den Zuschauer über. Das funktioniert bei Menschen, die gläubig sind, ebenso wie bei Menschen, die nicht gläubig sind. Das hat damit gottseidank nichts zu tun.

 

Es gab Preis in Karlovy Vary, eine Menge Festivaleinladungen. Kann man sagen, dass nach dem Erfolg in Venedig der Stein ins rollen gekommen ist?

ULRICH SEIDL: Ich würde das bei diesem Film nicht so sehen. Dieser Film war immer als kleiner Fernsehfilm geplant und hat nur einen Bruchteil von dem gekostet, was Hundstage gekostet hat. Ich hab ja immer so genannte kleine Fernsehfilme gemacht. Für mich war das ein Zwischenfilm und hab überhaupt nicht damit gerechnet und auch nicht geplant, dass der Film, ins Kino kommt und einen so großen Festivalerfolg hat. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass die Leute von Hundstage wissen und neugierig sind, was der nächste Film ist. Aber wenn der Film nicht gut wäre, würde mir Hundstage gar nichts nutzen.

 

Für Ihr nächstes Projekt wechseln sie vom Set auf die Theaterbühne?

ULRICH SEIDL:  Ich habe von Frank Castorf eine Carte blanche für eine Theaterinszenierung. Der Premierentermin steht fest, das ist der 26. Februar 2004. Ich habe sehr lange gezögert, zuzusagen. Erstens habe ich Respekt vor einem Metier, das ich nicht kenne, zweitens finde ich, dass Theater meistens langweilig ist. Auf das Angebot hin, hab ich mir die Volksbühne angeschaut und auch Stücke gesehen und dann kann man natürlich nicht ausschlagen. Die machen großartiges Theater, wir waren seit einem Jahr im Gespräch und irgendwann kam das ultimative Angebot – das ist der Premierentermin, wollen Sie's machen oder nicht. Dann sagte ich mir, ich habe zwar kein Stück, aber ich sag einmal ja. Ich kann auch noch nicht sagen, was der Inhalt sein wird. Ich werde Schauspieler aus Wien mitnehmen, aber natürlich mit dem Ensemble dort arbeiten. Es werden nur Schauspieler spielen, keine Laien, wobei ich es so machen werde, dass etwas Dokumentarisches, etwas das man in der Realität vorfindet, die Basis für die Schauspielerarbeit sein wird. Es wird keine geschriebenen Dialoge geben, aber natürlich muss ein sehr strenges Konzept vorhanden sein.

 

Was steht abgesehen vom Theater noch auf dem Plan?

ULRICH SEIDL: Es gibt ein Spielfilmprojekt mit dem Titel Import-Export, das ich nächstes Jahr mit eigener Produktionsfirma drehen möchte. Das Projekt wird jetzt eingereicht. Es sind zwei Geschichten, die parallel ablaufen: die eine ist die Geschichte einer jungen Frau, die aus der Ukraine kommt, die dort arbeitslos und Gelegenheitsprostituierte ist, sie kommt nach Österreich und wird hier Putzfrau im Krankenhaus. Die andere Geschichte ist die eines arbeitslosen Jugendlichen in Österreich, der sein Scheitern satt hat und in den Osten geht. Es sind zwei Gegenbewegungen, zwei Geschichten von zwei jungen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und Sinn im Leben sind. Da ich jetzt eine Produktionsfirma gegründet habe, worüber ich sehr glücklich bin, gibt es jetzt vier oder fünf Projekte, die parallel entwickelt werden sollen. Das nächste ist Import-Export, ein anderes heißt All Inclusive, ein Projekt über Massentourismus in einer globalisierten Welt, dann gibt auch das Spielfilmprojekt zu Grasl. Jedenfalls sind es lauter Eigenprojekte, die allein stellen schon einen Fünfjahresplan dar.

 

Interview: Karin Schiefer (2003)