«Der dokumentarische Ausgangspunkt interessiert uns beim Filmen am meisten. Das, was einem die Wirklichkeit schenkt, kann
man nicht nachstellen.» Tizza Covi und Rainer Frimmel im Gespräch über LA PIVELLINA.
Mit LA PIVELLINA habt ihr euren dritten Langfilm fertig gestellt. Es ist euer erster Spielfilm. Wer Babooska in Erinnerung hat, wird einige Elemente und auch Personen wieder erkennen. Genau genommen habt ihr nur einen ganz schmalen Weg in Richtung Fiktion überquert. Warum wolltet ihr in Richtung Fiktion gehen
und doch so nahe an der Wirklichkeit bleiben.
TIZZA COVI: Der dokumentarische Ausgangspunkt interessiert uns beim Filmen am meisten. Das, was einem die Wirklichkeit schenkt, kann man
nicht nachstellen. Im Dokumentarfilm sind wir aber trotzdem irgendwann dort angelangt, wo es uns gestört hat, nicht direkt
ins Geschehen eingreifen zu können. Der zweite Faktor, der ins Spiel kam, war die Tatsache, dass wir in beiden Filmen – Babooska und LA PIVELLINA – mit Leuten gearbeitet haben, die eine unglaubliche Natürlichkeit an den Tag legen und wunderbar mit der
Nähe der Kamera umgehen können.
Basiert die fikitive Geschichte von LA PIVELLINA auf einer wahren Begebenheit?
TIZZA COVI: Das Drehbuch habe ich geschrieben. Der Ausgangspunkt war eine Geschichte zu erzählen, die zeigt, wie unsere Protagonisten
leben, ohne dies in einer rein dokumentarischen Form zu tun. Dazu muss man aber auch sagen, dass in Italien wirklich sehr
viele Kinder in diesem Alter ausgesetzt werden, nicht nur Neugeborene. Das ist leider eine aktuelle Problematik.
Wie ist Patty die Protagonistin von LA PIVELLINA geworden?
TIZZA COVI: Wir kennen Patty schon sehr lange, und sie ist für uns mit ihrer Stimmlage und ihrer Art eine Verwandte von der von uns sehr
verehrten Anna Magnani. Sie ist ein explosiver Mensch, hat sich bei den Dreharbeiten aber sehr zurückgenommen.
RAINER FRIMMEL: Was man noch dazusagen muss: die zwei Hauptprotagonisten sind sehr stark in Kombination: Walter und Patrizia sind ein Paar,
so unterschiedlich, ich glaube, verschiedener als diese beiden kann man einfach nicht sein. Dieser Aspekt hat uns natürlich
auch sehr fasziniert.
TIZZA COVI: Patty war gerne bereit, im Film zu spielen. Noch dazu haben wir den Film im Winter gedreht, also zu einer Zeit, wo im Zirkus
geschäftlich überhaupt nichts los ist. Es war also eine willkommene Abwechslung in einer für sie toten Zeit. Wir haben bei
ihnen im Wohnwagen gewohnt, haben abends Karten gespielt, gewürfelt oder sind in die Pizzeria gegangen. Schausteller, die
im Freien auftreten, haben im Winter nicht sehr viel zu tun – Wohnwägen herrichten für den Sommer, Nummern proben und verbessern,
ansonsten haben wir mit den Dreharbeiten einen totalen Wartezustand ausgefüllt.
Es entsteht nicht der Eindruck, dass es ein Drehbuch mit ausgeschriebenen Dialogen gab. Wie sah die Drehgrundlage, wie die
Drehvorbereitungen aus?
TIZZA COVI: Wir haben die Geschichte mit einem sehr konkreten Anfang und einem sehr konkreten Ende geschrieben. Die Dialoge waren nicht
ausgeschrieben. Eine Stunde vor Drehbeginn bin ich zu Patty, Tairo oder Walter gegangen, hab ihnen gesagt, welche Szenen wir
planen und welche Punkte im Gespräch vorkommen müssen. Wie sie es dann konkret formulierten oder in welcher Reihenfolge, war
ihnen überlassen. Eine Schwierigkeit, mit der wir nicht gerechnet hatten, hat sich dann in der Mitte des Filmes ergeben,
wo wir gerne dokumentarische Elemente aus deren Alltag einfließen lassen wollten. Wir haben sehr schöne Momente gedreht,
die dann aber zu weit von der Geschichte der Kleinen weggeführt haben. Das Drehbuch muss man sich als 30-seitigen Plot vorstellen,
der sich im Laufe des Drehs noch stark verändert hat. Da waren wir auch dem BMUKK sehr dankbar, dass sie uns diese Freiheit
und das Vertrauen einräumten, das Drehbuch ohne konkrete Dialoge zu akzeptieren. Diese Freiheit zu haben, im Drehprozess noch
etwas zu verändern, weil man spontan den Eindruck gewinnt, das es dann besser funktioniert, das ist meiner Ansicht nach der
größte Spaß beim Filmemachen.
Es ist bekannt, dass Drehs mit Kindern nicht gerade einfach sind, wie schwierig ist es mit einem so kleinen Kind zu drehen?
TIZZA COVI: Asia war beim Dreh knappe zwei Jahre alt. Ich muss vorausschicken, dass unsere Art zu drehen ja gar nichts mit einem klassischen
Filmteam zu tun hat. Rainer macht die Kamera, ich den Ton und schlage dazu auch noch die Klappe. Wir sind ja in keiner Weise
furchterregend für ein Kind. Und ein Kind braucht natürlich auch Zeit. In den ersten Drehwochen wäre es nicht denkbar gewesen,
dass sie bei mir oder bei Patty im Wohnwagen einschläft. Ich hab mir sehr viel Zeit für die Kleine genommen, bis sie einmal
in meinen Armen einschlief, dann bei Patty im Wohnwagen und dann ist sie immer dort eingeschlafen. Wenn wir die Kamera oder
den Ton in die Hand nahmen, haben wir uns nicht so verändert, dass es ihr so sehr aufgefallen wäre. Für das Drehen mit Kindern
ist unsere Arbeitsweise wahrscheinlich die denkbar beste.
RAINER FRIMMEL: Die entscheidende Voraussetzung, um so gut mit Asia arbeiten zu können, war auch die Tatsache, dass uns ihre Eltern völliges
Vertrauen geschenkt haben. Sie haben uns das Kind überlassen und sie waren froh, dass wir uns um sie kümmerten. Es erleichtert
die Dreharbeiten ungemein, wenn die Eltern beim Dreh nicht anwesend sind. Es ist natürlich sehr viel spontan entstanden.
So wirklich genau ansagen, was sie jetzt tun soll, kann man in diesem Alter nicht. Da muss man vielmehr die Situation auf
ihre momentane Befindlichkeit einrichten. Das Hauptproblem mit der Kleinen war, dass sie nie vor 2 Uhr morgens eingeschlafen
ist, und dann natürlich bis in den frühen Nachmittag schlief. Da wir im Winter drehten und es sehr früh dunkel wurde, wurde
das eher problematisch für uns und wir versuchten, ein bisschen ihren Rhythmus zu ändern. Wir hätten oft gerne früher gedreht,
aber ein Kind aufzuwecken, führt zu nichts, weil es dann schlecht gelaunt ist.
Wenn man einen näheren Blick auf die Themen wirft, so erzählt der Film etwas vom frühen Erwachsensein müssen – ob Asia das
Verlassensein verkraften muss oder Tairo sehr früh allein war – und es geht auch um ein Miteinander verschiedener Generationen.
TIZZA COVI: Es geht uns sehr stark auch um einen Zusammenhalt. Dass man in dem Gefüge, in dem sie leben, einander gerne und schnell hilft,
dass es selbstverständlich ist, einander zu helfen. Es war uns sehr wichtig, diese andere Form der Gesellschaft zu zeigen.
RAINER FRIMMEL: Und es geht auch sehr um Kindheit. Bei Tairo um seine Kindheit und sein Verlassenwerden. Er ist durch die Scheidung seiner
Eltern „offizieller“ verlassen worden, aber er war auch nur drei Jahre alt und ganz früh auf sich allein gestellt. Es ist
auch eine Art des Verlassenwerdens, mit dem man zurechtkommen muss und trotzdem hat er in diesem Mikrokosmos eine Ersatzfamilie
gefunden. Wie stellt man sich seinen kleinen Bereich zusammen, wo man sich zuhause fühlt, das war ein Thema.
In eurem Italien ist nie das Wetter schön, das Umfeld wirkt ziemlich trist und doch spürt man eine gelassene Einfachheit im
Dasein und einen humorvollen Erzählton.
TIZZA COVI: Das Bild vom schönen Wetter in Italien ist ein Klischee, der römische Winter ist furchtbar, es regnet ständig. Wir versuchen
nur, ein realistischeres Bild von Italien zu geben.
RAINER FRIMMEL: Wir wollten aber keineswegs einen schwermütigen Film machen.
TIZZA COVI: Und etwas vom Schönsten, das man auch durch unsere Arbeitsweise erreichen kann, ist die Situationskomik. Es gibt tragische
Ereignisse, die durch einen Satz oder einen Witz plötzlich lustig werden, das erreicht man, wenn man die Dialoge nicht exakt
festlegt.
Und es fließen ins oft graue Abbild des Alltags dennoch die magischen Zirkuselemente ein – z.B. der Zauberer mit den roten
Bällen.
RAINER FRIMMEL: Auf diese Elemente wollten wir diesmal nicht verzichten. Ich denke an den Besuch im Zirkus von Tairos Vater oder an den Zauberer
mit den roten Bällen oder auch den Trick mit dem Papiersack. Es geht dabei immer auch ums Verschwinden. Einmal ist die Kugel
gar nicht da und man hört sie dennoch in den Sack hineinfallen. Beim Gastarbeiter, den sie am Spielplatz kennen lernen, verschwinden
die Kugeln und tauchen an einer anderer Stelle wieder auf. Das kann man auch auf die Kleine beziehen, die plötzlich im Leben
von Patty auftaucht und auch wieder verschwindet. Wobei wir den Ausgang der Geschichte bewusst völlig offen lassen.
Rein technisch habt ihr nun schon große Erfahrung, wie man im Inneren von Wohnwägen filmt.
RAINER FRIMMEL: Diese Drehverhältnisse verbergen natürlich ihre Tücken, mit denen man jederzeit rechnen muss. Wir haben wieder auf Super-16
mm, diesmal aber alles ausschließlich nur mit Handkamera gefilmt.
TIZZA COVI: Rainer hat sich eine ganz tolle Bauchstütze gebaut, so dass die Kamera nicht so schwer wiegt und er sich gut damit bewegen
kann. Die Kamera ist bei LA PIVELLINA sehr schön geworden, weil sie kaum wackelt, sondern wirklich flüssig wirkt.
RAINER FRIMMEL: Der Vorteil der Handkamera liegt auch darin, dass man viel schneller ist, keine Zeit mit Stativ-Aufstellen und Bild einrichten
verliert. Aber, wie gesagt, es hat so seine Tücken: wir drehen ja nur mit dem vorhandenen Licht, so kann es z.B. vorkommen,
dass unsere einzige Lichtquelle eine Glühbirne ist und wenn die Stromspannung schwankt, dann variiert plötzlich auch die Lichtstärke.
TIZZA COVI: Wir sind zwar Qualitätsfanatiker, aber letztendlich hat die inhaltliche Qualität gegenüber der technischen Vorrang.
RAINER FRIMMEL: Künstliches Licht würden wir nie verwenden, da wollen wir immer möglichst nahe an der Realität sein. Uns ist es nicht so wichtig,
dass ein Gesicht perfekt ausgeleuchtet ist, im Gegenteil, das würde in einem Wohnwagen bedeuten, dass etwas nicht stimmt,
deswegen verzichten wir da auf jeglichen Aufwand. Die Kamera von LA PIVELLINA ist viel bewegter als in Babooska, wo wir viele
fixe und lange Einstellungen hatten. Das stand für uns seit Babooska fest, dass wir beim neuen Film eine bewegtere Kamera
und einen schnelleren Rhythmus wollen.
TIZZA COVI: Wir bleiben aber dennoch unserem Stil mit den langen Einstellungen, in denen sich etwas entwickeln kann, treu. Für einen Spielfilm
haben wir immer noch wenige Schnitte und viele Szenen, die eine Minute oder eine halbe Minute dauern.
RAINER FRIMMEL: Der Kamerastil ist einfach auch eine Frage der persönlichen Entwicklung. Bei Das ist alles haben wir noch alles vom Stativ
aus gefilmt.
Man geht einfach mit jedem Film einen Schritt weiter, wobei man seinen Stil beibehält und dennoch auch etwas Neues probiert.
Bewährt es sich für euch, personell, technisch und budgetär in dieser Minimalkonstellation zu arbeiten.
TIZZA COVI: Wir hatten ca. € 100.000,- Produktionsbudget, mit den drei Kopien und der Fertigstellung kommen wir auf ca. € 150.000,-. Größere
Budgets rauben einem auch ein Maß an Freiheit und die brauchen wir. Es liegt nicht in unserer Natur, nach einem exakten Plan
zu arbeiten und es würde uns auch die Freude an der Arbeit nehmen. Unsere Arbeitsweise beruht dann auch auf einem Zusammenspiel
verschiedenster Faktoren – es entsteht unter den Leuten eine Begeisterung und ein Entgegenkommen, die uns weiterträgt. Bei
unserem nächsten Projekt, arbeiten wir mit einem jungen, sehr talentierten Burgschauspieler zusammen – Philipp Hochmair –
, der uns sehr entgegenkommt, weil er weiß, mit welchem Budget wir auskommen müssen. Das bewirkt auch eine besondere Energie,
die vielleicht nicht da wäre, wenn unsere Zusammenarbeit auf einer reinen Geschäftsbasis beruhen würde.
RAINER FRIMMEL: Ein Moment, wo wir unter dem kleinen Budget wirklich leiden, ist in der Postproduktion, wenn wir bei diesem schönen Material
Abstriche machen müssen, uns weniger Zeit im Tonstudio leisten können oder bei einer Kopie nicht die bestmögliche Version
herstellen können. Ein Film soll nicht an seinem Budget scheitern und auch nicht daran gemessen werden. Wenn wir weiterhin
die Möglichkeit haben so zu arbeiten, kommt uns das sehr entgegen und wir sehen für uns nicht unbedingt die Notwendigkeit
für ganz große Budgets. In der Postproduktion weniger Abstriche machen zu müssten, wäre ein schöner Fortschritt.
Wenn im Drehbuch nicht alles festgelegt war, dann war der Schnitt wahrscheinlich umso wichtiger?
TIZZA COVI: Wir hatten mehr Material als in unseren bisherigen Filmen, ca. zwanzig Stunden, was vergleichsweise immer noch relativ wenig
für einen Spielfilm ist. Den Schnitt mache ich.
RAINER FRIMMEL: Im Schnitt muss man sehr konsequent denken, das macht Tizza sehr gut und sie kann auch wegschmeißen, was ich nicht kann. Ich
bin ein Sammler.
TIZZA COVI: Wir haben beim Schnitt viele schöne, wirklich gelungene Sachen wegschmeißen müssen, weil sie von der Geschichte zu weit weggeführt
haben. Diesen Fehler machen wir hoffentlich beim neuen Projekt nicht, wir haben gelernt, dass man immer sehr an der Geschichte
dranbleiben muss. Kleine Umwege haben wir uns dennoch erlaubt – wie den Geschichts-unterricht und das Wachsfigurenkabinett.
RAINER FRIMMEL: Da geht es auch um den Umgang mit der Geschichte in Italien, wo Mussolini ja keineswegs nur negativ besetzt ist. Das Wachsfigurenkabinett
zeigt Mussolinis letzte Sitzung.
Cannes bedeutet nun auch für die Verwertung des Films ein wichtiges Sprungbrett?
TIZZA COVI: Wir haben keine Vorstellung, wie das sein wird. Wir freuen uns sehr, denn als Filmemacher erhofft man sich immer ein Publikum
oder zumindest eine Aufmerksamkeit.
RAINER FRIMMEL: Ein großes Festival ist natürlich ein schönes Ziel, das man erreicht hat.
TIZZA COVI: Ich bin in Gedanken schon in unserem nächsten Projekt. Aber Rainer kümmert sich Gott sei Dank mehr darum, die fertige Arbeit
jetzt zu begleiten. Wir sind ja auch so gegensätzlich, dass wir uns zum Glück sehr gut ergänzen. Für mich sind immer die spannenderen
Dinge, die entstehen und nicht die, die entstanden sind. Rainer wollte schon lange einen Film über Wien machen, aber das ist
sehr schwer, da der Blick auf Wien durch verschiedenste Sichtweisen bereits „besetzt“ ist, und es ist nicht einfach, hier
einen eigenen Zugang zu finden. Wir wollten den Film über Wien eigentlich schon vor La Pivellina machen. Es ist aber dann
das Drehbuch innerhalb eines Monats entstanden, wir haben es im September eingereicht und von da an hat nicht einmal eineinhalb
Jahre gedauert, bis der Film seine Uraufführung feiert. Inzwischen ist der andere Film auch gereift.
Interview: Karin Schiefer
April 2009