Constantin Wulff ist ein präziser Beobachter. Eineinhalb Jahre tauchte er in den Alltag der psychiatrischen Klinik in Tulln
ein, um mit seinem Film Wie die anderen einen Einblick in die Routine eines Spitalssegments zu bieten, von dem oft nur diffuse Bilder in unseren Köpfen existieren.
Internationale Premiere feiert der Film bei der Dok Leipzig. Ein Gespräch mit Constantin Wulff.
Sie sind nach In die Welt, der den Alltag in einer Wiener Geburtsklinik dokumentiert hat, für Ihr aktuelles Filmprojekt Wie die anderen im medizinischen Umfeld geblieben. Wo würden Sie die Kontinuität zwischen beiden Filmen orten?
CONSTANTIN WULFF: Es gibt in der Tat eine Kontinuität. Auch dieser Film spielt wieder in einem Krankenhaus und der Ausgangspunkt war ein ähnlicher.
Bei In die Welt motivierte mich der Umstand, dass die Bilder, die ich von Geburt im Kino gesehen hatte, nie dem entsprachen, was ich als
Vater zweier Kinder real erlebt hatte. Auch bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte ich den Eindruck, dass die Bilder,
die die meisten von uns im Kopf haben, veraltet, diffus und angstbeladen sind. Dem wollte ich realistische Bilder aus der
Gegenwart gegenüber stellen.
Im Vorfeld der Premiere ist in manchen österreichischen Medien eine Darf-man-da-hinschauen?-Debatte in Gang gekommen.
Warum darf/ soll/ muss man Ihrer Meinung nach der Öffentlichkeit einen Blick in eine Abteilung für Kinderpsychiatrie gewähren?
CONSTANTIN WULFF: Man muss hinschauen. Und man muss hinschauen dürfen. Die Debatte, die Sie ansprechen, meint ja im Grunde gar nicht den Film
und die Tradition des künstlerischen Dokumentarfilms, in der er steht. Die Kritik richtet sich meiner Meinung nach gegen den
Umgang mit Bildern in Boulevardmedien, wovon der Film natürlich weit entfernt ist. Dies haben ja auch die ganz wenigen Kritiker
des Films schließlich eingestanden. Gerade die vielen positiven Reaktionen in den letzten Wochen, wo aus Anlass des Kinostarts
der Film in ganz Österreich präsentiert wurde und begleitet war von vielen Podiumsdiskussionen, haben mich in der Notwendigkeit
des Films bestärkt. Die Reaktionen des Publikums, das sehr aufmerksam die Debatte in den Medien verfolgt hatte, waren einhellig
so, dass nur wer oberflächlich hinschaut, überhaupt auf den Gedanken kommt, in dieser Form dürfe man das nicht. Der Film macht
ja ganz deutlich, was er zeigt und was er nicht zeigt. Und das wurde sehr honoriert vom Publikum, dass der Film mit so viel
Sorgfalt und Umsicht gemacht ist.
Wie wurden die Beteiligten, das Krankenhaus, das Personal und die betroffenen Kinder und Jugendlichen eingebunden?
CONSTANTIN WULFF: Der Vorteil bei der Entstehung dieses Films war, dass ich bereits einen Film zum Herzeigen hatte, mein Porträt über die Geburtsklinik.
So konnten sich das Krankenhaus und das Personal schon ein Bild davon machen, wie ich arbeite. Sie haben gesehen, dass weder
ein beschönigender Werbefilm noch ein Film zu erwarten ist, der auf simple Skandalisierung aus ist. Sondern ein Film, in dessen
Zentrum die Beobachtung steht und der versucht, möglichst nah am Realen zu sein. Wie bei meinem letzten Film gab es auch hier
eine lange Vorlaufzeit von etwa einem Jahr, in der wir gemeinsam mit dem Krankenhaus, der Landeskliniken-Holding und dem Primar
Paulus Hochgatterer die juristischen, medizinischen und ethischen Parameter festgelegt haben. Während des Drehs haben wir
uns immer eng mit dem ärztlichen Personal abgesprochen, welche Szenen für den Film überhaupt in Frage kommen. Insgesamt haben
wir die möglichen Situationen für den Film mit dem Personal, den Kindern und Jugendlichen und auch den Eltern so intensiv
vorbesprochen, dass mir dieser gemeinsame Prozess eine so große Sicherheit gegeben hat, dass dann in der konkreten Dreh-Situation
ein großes Vertrauen auf allen Seiten bestanden hat. Und dieses Vertrauen, habe ich den Eindruck, ist im Film deutlich spürbar.
Wie haben Sie die Publikumserfahrungen rund um die Premiere erlebt?
CONSTANTIN WULFF: Das Publikum hat dieselbe Erfahrung gemacht, die auch ich gemacht habe, nämlich die, mit einer Welt konfrontiert zu werden,
die man nicht kennt. Eine Welt, die sehr stark von der medialen Erfahrung ausgeschlossen ist. Aus diesem Grund fehlen uns
aber auch aktuelle Ideen davon, wie heute eine Kinder- und Jugendpsychiatrie funktioniert. Das Publikum war vom Film sehr
bewegt und erschüttert, aber auch sehr dankbar, weil der Film dazu beitragen konnte, viele Ängste abzubauen. In Wien etwa,
im Rahmen einer Publikumsdiskussion nach der Filmvorführung, hat sich ein junger Mann, Mitte Zwanzig zu Wort gemeldet, der
erzählte, dass er zur Zeit in psychiatrischer Behandlung stehe und dass er sehr lange gezögert habe, Hilfe in Anspruch zu
nehmen. Er sagte, hätte er den Film früher gesehen, hätte er sich schneller Hilfe geholt. Das war natürlich ein sehr bewegender
Moment für alle.
Ein Frühlingsbild des Spielplatzes und Winteraufnahmen der Klinik stecken den zeitlichen Rahmen des Films ab und sind
gleichzeitig die einzigen Außenbilder. Ansonsten taucht man als Zuschauer ins Innere der Klinik, und somit in eine geschlossene
Welt: Abgeschlossenheit bedeutet Schutz, Diskretion, aber auch Ausgrenzung und Tabuisierung. Wie sah Ihr Zugang und Umgang
mit diesem Innen aus?
CONSTANTIN WULFF: Wir haben über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren gedreht, davon waren dreieinhalb Monate reine Drehzeit. Ich habe vor
kurzem einmal die Tage zusammen gerechnet ich habe ein Jahr meines Lebens auf dieser Station verbracht. Für die Kinder
und Jugendlichen dort waren wir einfach da. Es gab übrigens mehr Tage, an denen wir nicht gedreht haben als reine Drehtage.
Bis es zum Dreh einer Szene gekommen ist, gingen dem sehr viele Schritte voraus. Den Kindern und Jugendlichen machte es einen
Riesenspaß und auch das Personal erlebte unsere Präsenz positiv. Manchmal haben wir den Alltag dort auch entspannt, denn eines
der Probleme der Kinder dort ist u.a. fehlende Aufmerksamkeit zuhause. Ein Kamerateam allerdings bringt 100% Aufmerksamkeit.
Viele auffällige Kinder wurden durch unsere Anwesenheit entspannter, einfach aufgrund des Umstands, dass wir da
waren und mit ihnen etwas gemacht haben. Was die wenigen Außenbilder betrifft: Ich wollte von Anfang an vor allem den Alltag
der Institution zeigen, der sich zum größten Teil innen abspielt. Dadurch werden die Außenbilder zu etwas Besonderem und ich
musste aufpassen, dass sie nicht zu sehr symbolisch gelesen werden, sondern einfach das bleiben, was sie sind: Außenaufnahmen
des Klinikgeländes. Denn ich finde, das Poetisierende, dass dem Sujet der psychischen Krankheit im Film oftmals anhaftet,
ist der völlig falsche Weg in der filmischen Darstellung von Krise und Verletztheit.
Wie würden Sie dieses Poetisierende im Kino näher beschreiben?
CONSTANTIN WULFF: Es findet im Kino vor allem im Sinne einer Überhöhung statt: Dass die Welt per se verrückt und deshalb das von der Norm Abweichende
das eigentlich Nicht-Verrückte, das Wahre, Echte sei. Es gibt ein ganzes Repertoire an Bildern und Tönen in der Filmgeschichte,
die eine so genannte verrückte Welt umsetzen. Ich fand das immer kitschig und wollte deshalb von Anfang an einen
ganz nüchternen Blick auf den Alltag in der Klinik werfen.
In Ihrer Arbeitsweise geht es darum, sich unsichtbar zu machen und doch gleichzeitig das Vertrauen, das im Bild herrscht,
sichtbar zu lassen. Wie schufen Sie auf der Beziehungsebene die Voraussetzungen für den konkreten Drehmoment?
CONSTANTIN WULFF: Ich mag ein Kino, das auf möglichst wenig Inszenierung beruht. Die einzige Vereinbarung, die ich mit den Menschen vor der
Kamera treffe, ist: Darf ich drehen oder nicht? Danach läuft das Geschehen völlig unbeeinflusst von uns vor der
Kamera ab. Das heißt aber nicht, dass unsere Anwesenheit keine Rolle mehr spielt. Für mich sind etwa Bilder mit einer versteckten
Kamera oder die Methode von Michael Moore, der Menschen gegen ihren Willen filmt, indiskutabel. Bei mir wissen alle Beteiligten
immer Bescheid, wann gedreht wird und wann nicht. Überhaupt ist auch die Recherche schon alles andere als zurückgezogene Beobachtung,
sondern die ist auch schon sehr dialogbetont. Und erst recht wird rund um die Dreharbeiten sehr viel mit den Leuten gesprochen.
Diese Methode des Unsichtbar-Machens geschieht vielleicht in der Situation, aber nicht davor und danach. Dass
das beobachtende Kino dann so gut funktioniert, bedarf vor allem zweier Voraussetzungen: zum einen müssen mindestens zwei
Menschen vor der Kamera sein, die miteinander interagieren bzw. kommunizieren. Zum anderen funktioniert das am besten in einer
Institution, weil wir es da im Arbeitsalltag mit so genannten sozialen Rollen zu tun haben, wo der Punkt des Selbstvergessens
vor der Kamera recht schnell erreicht ist.
Die Kamera musste sehr diskret, aber auch sehr beweglich sein. Wie sahen die Vorgaben für den Kameramann Johannes Hammel aus?
Wie funktionierte die Kameraarbeit z.B. bei einer Teambesprechung oder wenn unvorgergesehene Dinge passierten, ich denke an
die Situation der Fixierung oder den Lärm am Gang während der Besprechung?
CONSTANTIN WULFF: Johannes Hammel, der auch schon bei In die Welt die Kamera gemacht hat, ist ein hervorragender Beobachter und ideal für die Form des Direct Cinema. Wir kennen
uns schon lang und verstehen uns oft blind. Trotzdem ist meine Regie mitunter sehr streng, denn auch das Dokumentarische passiert
nicht einfach, sondern lebt von Entscheidungen. So sind viele der Schwenks, der Schärfeverlagerungen und Kadrierungen von
mir im Moment entschieden. Darüber hinaus gibt es aber den schönen Moment, wo der Kameramann in einen Flow gerät und ganz
intuitiv entscheidet, wem oder welcher Situation er folgt. Dieses Vertrauen muss man als Regisseur haben können. Dies basiert
bei Johannes und mir speziell auf viel gemeinsamer Arbeit und eines ähnlichen Verständnisses von Kino.
Wie ist Ihnen die Klinik als Raum, als Architektur begegnet? Wie nahmen Sie sie wahr im Zusammenhang mit einem Ort für Kinder,
wo Spontaneität, Bewegungsdrang, Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit u.ä eine wesentliche Rolle spielen? Wie hat sich diese
Architektur dem Kamerablick geöffnet oder auch verweigert?
CONSTANTIN WULFF: Ein erster für mich sehr wichtiger und auch überraschender Eindruck war der, dass diese Kinder- und Jugendpsychiatrie Teil
eines Krankenhauses ist. Eine Abteilung unter anderen, neben der Geburtsstation oder der Chirurgie etc. Das ist eine gesellschaftliche
Aussage. Also nicht mehr der Narrenturm, irgendwo auf der Wiese, wo man die vermeintlich Verrückten wegsperrt.
Die zweite Überraschung: es läuft dort niemand im Ärztekittel herum. Im Gegensatz etwa zum Rest des Krankenhauses. Dann natürlich:
keine schweren, mit Schlössern abgesicherte Türen, keine Gitter vor den Fenstern, kein bedrohliches Szenario des Wegsperrens.
Es gibt Türen, die abgesichert werden müssen, aber der Eindruck, den die Architektur dort ausstrahlt, ist eher geprägt von
Offenheit und Transparenz, besonders durch die großen Fensterfronten. Was uns kameratechnisch eher vor Probleme stellte, weil
große Fensterfronten immer schwierig zu filmen sind. Die Botschaft der Architektur lautet: wir verstecken die Menschen nicht
und wir wollen es leicht machen, sich Hilfe zu holen. Natürlich, trotzdem bleibt de Ort ein Krankenhaus, mit einer eher kalten,
anonymen Ausstrahlung. Die Klinik ist kein heimeliges Wohnzimmer, im Gegenteil, die Kinder und Jugendlichen sind weg von ihren
Familien. Spannend war für mich, dass dies vom Personal gar nicht so gesehen wird und dass ein großer Teil des Personals bei
der ersten Sichtung des Films zum Teil erschrocken war, ihren Arbeitsort so dargestellt zu bekommen.
Das Portrait einer Institution stellt die ProtagonistInnen auch vor die Frage der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Wie waren
denn die Reaktionen des Krankenhauses selbst: wie steht das Team dem fertigen Film gegenüber?
CONSTANTIN WULFF: Es gab nach der ersten internen Vorführung für das Personal schon eine Überraschung und eine Verunsicherung. Es wurde deutlich,
dass das Selbstbild vieler von der eigenen Arbeit mit den Bildern, die der Film davon entwirft, nicht deckungsgleich war.
Wir haben danach sehr viel darüber gesprochen und ich habe den Eindruck, dass nach der anfänglichen Verunsicherung allmählich
ein großes Verständnis für die Argumentationsweise des Films entstanden ist. Vor allem auch, weil viele des Tullner Teams
sich den Film ein zweites und drittes Mal angeschaut haben und sich der Eindruck bei jedem neuerlichen Anschauen veränderte.
Das hat mich natürlich sehr gefreut.
Der Film zeigt in erster Linie, was es heißt, in einer Abteilung für Kinderpsychiatrie zu arbeiten, weniger, was es heißt,
als Kind dort Patient zu sein. Dies ist gewiss auch auf ethische Überlegungen zurückzuführen. Ist Ihnen darüber hinaus der
Aspekt der Arbeitswelt ein interessanter Blickwinkel in ihrem Betrachten von Institutionen?
CONSTANTIN WULFF: Ja, das ist richtig. Das Personal spielt eine ebenso wichtige Rolle wie die Kinder und Jugendlichen. Im Grunde erfährt man
mehr über die Arbeit des Personals als über die Kinder und Jugendlichen selbst. Es ist das Porträt einer Institution. Eine
Institution im übrigen, die in Wahrheit auch mehr das familiäre System zu verändern versucht als die Betroffenen selbst. Oft
ist die so genannte Elternarbeit viel wichtiger, weil die Kinder und Jugendlichen zumeist doch nur die Symptomträger
von Problemen innerhalb des familiären Systems sind. Das hat auch dazu geführt, dass die vielen Besprechungen des Klinikpersonals
wichtig waren. Und dadurch sieht man auch deutlich, was für ein anstrengender, herausfordernder Beruf es ist, wenn man ihn
mit Empathie und Engagement ausübt.
Wie ließen sich über den dominanten menschlichen Faktor die Bausteine finden, die am Ende das Mosaik Institution
ausmachen?
CONSTANTIN WULFF: Da ich mit In die Welt bereits einen Film in einem Krankenhaus gemacht habe, wusste ich schon recht genau, woran das Institutionelle festzumachen
ist. Manchmal hatte ich auch eine Art Déjà-vu. Aus diesem Grund kamen die Bilder, die das Institutionelle verdeutlichen, relativ
spät in den Film. Darüber hinaus macht sich die Institution natürlich immer wieder an klassischen Situationen fest, wie zum
Beispiel bei einer psychlogischen Testung. Da wird die Macht der Institution sichtbar. Oder in der Szene mit der Fixierung,
die führt die Macht der Institution doch deutlich vor Augen, wenn ein Mensch, auch wenn es zu seinem Besten geschieht, auf
ein Bett geschnallt werden kann. Oder das Bild des Medikamentenlagers: Wenn man den Alltag auf einer Station für Kinder- und
Jugendpsychiatrie beschreibt, dann wird offensichtlich, dass Medikamente eine Rolle spielen.
Für mich als Zuschauerin ist Wie die anderen auch ein Film über die Grenzen des Schützens, über die Grenzen des Helfens und Heilens und auch ein Film über Er-Schöpfung:
Erschöpfung der Möglichkeiten eines Systems in einem gesetzlichen Rahmen und auch Erschöpfung der menschlichen Ressourcen.
Waren diese Punkte auch für Sie Teil der Erkenntnis nach dieser langen Arbeit?
CONSTANTIN WULFF: Das Spannende an der Methode des Direct Cinema ist, dass sich vieles ins Material einschreibt, was man während
des Drehs noch gar nicht so genau wahrnimmt. Gerade die zum Schluss sichtbare Erschöpfung des Personals war mir während des
Drehs nicht so bewusst. Man gewöhnt sich ja selbst auch an den Klinikalltag, an das konstant bleibende Licht, an die Gerüche,
an die Geräusche. Wir wurden bis zu einem gewissen Grad Teil dieser Klinik und sahen gewisse Dinge gar nicht mehr von außen.
In der Analyse am Schneidetisch sieht man das aber wieder plötzlich neu. Gerade in der Szene, in der Paulus Hochgatterer von
den beiden Oberärztinnen zur Rede gestellt wird, verdeutlicht sich ja auch, welch großes Vertrauen von Seiten der Krankenhausverwaltung
gegenüber dem Film geherrscht hat. Es ist nicht leicht für eine Institution, so mutig zu sein und das zuzulassen. Da habe
ich großen Respekt.
In mehreren Fällen werden aber auch die Grenzen des Helfens, wie ein Arzt sie erleben muss, ersichtlich.
CONSTANTIN WULFF: Ja, diese Grenzen werden natürlich deutlich. Für mich läuft der Film ja auf das längere Gespräch zwischen dem behandelnden
Arzt, Dr. Machowetz, und Sophie hinaus. Das ist ein Gespräch, das einige Minuten dauert und das im Verfahren des Schuss/Gegenschuss
aufgelöst ist, wie eine Art Showdown. Man sieht, dass zwischen den beiden um kleinste Schritte gerungen wird. Und das schien
mir auch wie eine Art Quintessenz dessen zu sein, was ich dort erlebt habe: das alltägliche Ringen um kleinste Veränderungen.
Das Tolle an der Szene ist aber auch, dass Sophie so stark ist. Sie setzt den guten Absichten des Arztes etwas entgegen, worauf
er wieder etwas entgegensetzt, weil er eine klare Vereinbarung auf einer klar messbaren Basis will. Alles vor dem Hintergrund
der Frage, wann zum nächsten Schritt aufgebrochen werden kann. Ein Stereotyp über die Kinder- und Jugendpsychiatrie
beinhaltet ja auch, dass die Betroffenen dort ewig bleiben. Das stimmt aber überhaupt nicht. Die Abteilung in Tulln
ist mehr eine Durchgangsstation, wo die Kinder und Jugendlichen eher kurzfristig sind, das ist unterschiedlich, das reicht
von wenigen Stunden über ein paar Tage bis zu einigen Wochen. Von den Kindern und Jugendlichen, die im Film sind, ist übrigens
niemand mehr dort.
Wenn ein Prozent des gedrehten Material im Film zu sehen ist, dann verweist das auch auf die fundamentale Arbeit, die am Schneidetisch
mit dem Schnittmeister Dieter Pichler stattgefunden hat.
CONSTANTIN WULFF: Ohne Dieter Pichler gäbe es diesen Film in dieser Form nicht, er ist sehr wichtig für mich. Er ist das erste Publikum des
gedrehten Materials. Wir sichten gemeinsam und analysieren es. Das Material des Direct Cinema sperrt sich zunächst
ja in seiner Offenheit gegen ein Erzählt-Werden. Es ist mit offenem Blick gedreht und ohne vorgefasste Intention. Dadurch
ist der Schnitt ein sehr intensiver Prozess, der diesmal wieder ein knappes Jahr gedauert hat. Für mich ist das eine wunderbare
Arbeitsphase, weil sie mir bewusst macht, was wir im Zuge des Drehs erlebt haben. Dieses gemeinsame Herausfinden, wie eine
filmische Erzählung entsteht, das genieße ich immer sehr.
Dieser Prozess bedeutete auch, sich von 99% des Materials zu trennen. Wie gehen Sie damit um?
CONSTANTIN WULFF: Ich habe keine großen Trennungsängste. Killing your darlings ist für mich kein Problem.
Kann man sich im Hinblick aufs nächste Projekt nun auf eine Trilogie einstellen?
CONSTANTIN WULFF: Nein. Bei mir ist die Wahl eines Themas für ein neues Filmprojekt nie geplant. Die Filme, die ich drehe, haben sehr viel
mit mir zu tun. In die Welt hatte etwas damit zu tun, dass ich Vater geworden bin; mein Porträt über Ulrich Seidl basiert auf einer langjährigen Freundschaft
und der Film über die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat seinen Ursprung darin, dass ich mich über die Bekanntschaft mit Paulus
Hochgatterer dafür zu interessieren begann. Meine Filmografie basiert weniger auf Kalkül als auf Spontaneität. Das soll auch
in Zukunft so bleiben.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2015