Im Pferdeschlitten durch die verschneite Landschaft rasen, ein Pferd nach dem anderen bei lebendigem Leibe fressen und dann
mit der Peitsche, mit der man zuvor die Pferde in Todesangst vorangetrieben hat, die Wölfe verscheuchen. So stellt sich Margit
ihr Russland vor. Und tut das auch vor versammelter, ukrainisch-österreichischer Hochzeitsgesellschaft kund. Dass so die Phantasien
mit der Mittvierzigerin durchgehen, das gab es früher nicht. Ihre Welt war stets wohlgeordnet. Ein hübsches Haus mit Garten
am Stadtrand, ein sicherer Job bei der Bank, zwei anständige, erwachsene Kinder, ein adretter Lebensgefährte und sie selber
mitten drin.
Als Margits Sohn beschließt, die hübsche und ehrgeizige Ukrainerin Anna zu heiraten, aus diesem Anlass deren Familie vom kleinen
Bruder bis zur neunzigjährigen Großmutter nach Wien gereist kommt und die zukünftige Schwiegertochter anklingen lässt, dass
sie das ausgebaute Obergeschoß in Schwiegermuttis Haus nicht wirklich interessiert, gelangen jedoch Margits Lebensfundamente
ins Wanken. Bitterböse und doch heiter-ironisch blickt Barbara Gräftner in ihrem Spielfilmerstling Mein Russland der ganz normalen Biederlichkeit hinter die Gardinen und legt in einer Komödie der Wirklichkeit Schicht für Schicht wunde
Punkte bloß, ohne ihre Protagonisten als Karikaturen bloßzustellen. Sie bedient sich formal der banalen Beiläufigkeit des
Homevideos, umso unvermuteter trifft sie die Zuschauer mit ihren messerscharfen Dialogen und subtilen Schlagabtauschen. Der
Zusammenprall der beiden Kulturen ist nur die oberste Schicht durch den Mein Russland über einen Konflikt der Generationen
an die Lebenskrise einer Frau vordringt, der beim ersten Verdacht auf Kontrollverlust gleich das gesamte, sorgsam verwaltete
Familienheil aus der Hand zu gleiten scheint. Überzeugend Andrea Nürnberger in der Rolle der Margit, zwar keine russischen
Pferde, aber ihre Familie verschlingt und so lange ihre Machtspielchen variiert, bis sie wieder neue Opfer vor ihren Schlitten
spannen kann, die sie durch ihre fixen Vorstellungen vom Dasein ziehen.