34 Grad im Schatten, kein Wölkchen am makellosen Himmel, die Ruhe der Ferienzeit kumuliert mit der Langeweile des Wochenendes
und das unsüße Nichtstun erreicht an den Ausläufern der Großstadt seinen Höhepunkt. Wer nicht gerade halb entblößt am Rande
eines Swimmingpools oder am Eigenheimbalkon in der prallen Sonne schmachtet, den kitzelt die glosende Hitze langsam an den
leicht entflammbaren Nervenenden. Was sich da in der trügerischen Stille eines Hochsommerwochenendes teils hinter dicht geschlossenen
Fensterläden im Verborgenen hält, das hat der Filmmacher Ulrich Seidl in seiner neuen, erstmals unter dem Titel Spielfilm
abgewickelten Produktion Hundstage gnadenlos ans gleißende Sonnenlicht geholt.
"Hitze", so der Regisseur, "erzeugt eine unterschwellige Aggressivität, die Scham fällt, die Aggression steigt, die Leute
entkleiden sich und geraten auch außer sich. Dass dieser Film in einer Atmosphäre der heißesten Tage im Jahr spielt, war Grundbedingung."
Eine weitere war der Ort des Geschehens: Seidls kleine Alltagsdramen spielen im Süden Wiens, dort, wo es keine Spur von Großstadt
mehr gibt, wo aber auch jede ländliche Idylle noch weit entfernt ist. Irgendwo, im Zwischenland, wo pieksaubere Ensembles
aus Einfamilienhäusern und Reihensiedlungen mit dem einen oder anderen Supermarkt ein lebenswertes Ganzes bilden, nahm Seidls
schonungsloses Sittenbild seinen Ausgang.
Die Inspiration für die sechs Episoden lieferte sein unermesslicher Fundus an Beobachtungen, Notizen und Film- oder Zeitungsausschnitten.
"Es gibt in dem Film", so Seidl, "Ideen, die zwanzig Jahre und andere, die nur zwei Jahre alt sind, irgendwann sind sie zu
einem Film zusammengewachsen. Ich habe beim Schreiben jedenfalls nur auf Menschen zurückgegriffen, die ich kannte und von
denen ich weiß, dass es wirklich so passiert ist." Fiktion oder Wirklichkeit? ist dennoch eine Frage, die Hundstage ebenso
aufwirft, wie alle bisherigen Arbeiten Ulrich Seidls, wenn auch unter umgekehrtem Blickwinkel. Konnte man bisher selten glauben,
dass es sich bei den Protagonisten der vorangegangenen Dokumentarfilme um Menschen aus der Wirklichkeit handelte, so nährt
Hundstage immer wieder die Vermutung, dass so viel Authentizität nichts mit Schauspielerei zu tun haben kann. Nicht zu unrecht,
denn der überwiegende Teil der Darsteller kann auf keine vorherigen professionellen Erfahrungen vor der Kamera verweisen.
Darüber hinaus betont der Regisseur, "ist ein wesentliches Kriterium bei der Besetzung der Profis wie der Amateure, dass die
Leute bereit sind, aus ihrem eigenen Leben, ihrer Privatheit und Intimität etwas einzubringen. Das besondere Wagnis in Hundstage war es, in einer Mischbesetzung zu arbeiten und Profis mit Nicht-Profis innerhalb einer Episode zusammenzuspannen". Dem Casting
kam somit eine entscheidende Rolle in der Anfangsphase der Produktion zu und nahm auch statt der geplanten drei Monate ein
gutes Jahr in Anspruch. "Ich glaube", so erklärt Seidl die ungewöhnlich lange Phase der Suche nach der idealen personellen
Ausgangssituation für den Dreh, "dass man für jeden Film die Methode des Castings neu erfinden muss. Man muss fragen, was
verlangt die Geschichte, welche Leute sucht man wo. Das ist sehr zeitaufwändig, weil es keine Methode gibt, die in jedem Fall
zu einem bestimmten Ziel führt."
Sechs lose miteinander vernetzte Episoden liegen jetzt als das Ergebnis eines Projekts vor, das ursprünglich für 14 linear
aneinander gereihte Geschichten angedacht war und aus 80 Stunden Rohmaterial zu einer unbequemen Milieustudie hinter den Fassaden
kleinbürgerlicher Durchschnittlichkeit verdichtet wurde. Ein bildhübsches Mädchen und ein Autofreak, der jedes Mal außer Rand
und Band gerät, wenn sich ein männliches Augenpaar auf seine Auserwählte richtet; ein alter Herr, Zwangsneurotiker und Hundebesitzer
mit seiner Haushälterin, die ihm zuliebe gelegentlich ein Kleid seiner Verstorbenen an- oder alle Hüllen ablegt; ein gut situiertes,
geschiedenes Paar, das unter einem Dach weiterlebt und in einer verstörenden Sprachlosigkeit versucht, ihrer Trauer um ihr
verunglücktes Kind Herr zu werden; eine Lehrerin und ihr vulgärer Liebhaber, der sie in ein fatales Dreiecksspiel mit seinem
Freund treibt und schließlich zwei Einzelgänger: der eine, als Vertreter für Sicherheitsanlagen ein gefragter Mann im Mekka
der kleinen, abgeschotteten Welten. Die andere, eine verrückte Autostopperin, die ihre Zeit damit vertreibt, mit Unbekannten
durch die Gegend zu fahren, um sie mit ihrem schamlosen Geschwätz zu bombardieren. Ein Panoptikum, schräg und banal zugleich,
das zunächst kleine Geschichten aus der Normalität von Nebenan verspricht, bevor der Regisseur langsam aber mit unerbittlicher
Zähigkeit die Schichten bis an die wunden Punkte der einzelnen Persönlichkeit freilegt.
Mehr als eine kurz umrissene Beschreibung ihrer Rolle erhielten die Darsteller nicht, die Dialoge, die im Drehbuch noch nicht
festgehalten waren, entstanden durch Improvisation am Set. Die prozesshafte Entwicklung der Handlung erforderte einen strikt
chronologischen Dreh, auch wenn dies eine mehrmalige Rückkehr zum selben Drehort notwendig machte und sich so der zeitliche
und materielle Aufwand erhöhte. Nur so war es möglich, jegliche Wendung bis zum Schluss offen zu lassen und auch einen konsequenten
Schritt weiter in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Authentizität zu gehen. Sie zieht sich als Leitmotiv
durch sämtliche Seidlschen Arbeiten, die sich sukzessive hin zum erzählerischen Dokumentarfilm bewegten. Mit Hundstage gleitet Seidl erstmals in die Fiktion, ohne den hohen Anspruch auf Echtheit der Figuren zurückzuschrauben. "Ich hab einfach",
resümiert Seidl, meine Arbeitsweise in den Spielfilm übernommen und sie noch weiter und extremer betrieben." So weit, dass
so mancher Darsteller nahe daran war, das Handtuch zu werfen, es dem Regisseur dennoch einmal mehr gelang, seine Akteure zu
einer irritierenden und provozierenden Offenheit vor der Kamera zu bewegen. "Die Authentizität ", so Seidl "ist die Stärke
dieses Films. Ich glaube dadurch schafft man es auch, Zuschauer in eine Welt hineinzuziehen. Es wird ihm nicht so leicht gemacht,
sich davon zu separieren und nur im Kino zu sitzen, um sich eine Welt vorführen zu lassen. Er wird hineingezogen und muss
sich dabei mit sich selber konfrontieren".
Hundstage zeichnet Menschenbilder aus der Peripherie einer Stadt quer durch Generationen, quer durch Schichten. Wie in einem Fotoalbum
lenkt es den Blick auf Lebensausschnitte, hinter Momentaufnahmen nehmen langsam Geschichten voller Sehnsüchte und Enttäuschungen
Gestalt an, die Kamera bleibt unbarmherzig dort drauf, wo der Betroffene ebenso wie der Zuschauer lieber wegschauen würden.
Hundstage brüskiert in seiner tabulosen Direktheit, schafft wunderbare Portraits von der Ambivalenz der menschlichen Seele
und liefert schließlich im Ungesagten die stärksten Bilder von verinnerlichter Aggression und sprachloser Verzweiflung.
Karin Schiefer (2001)