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ELSEWHERE von Nikolaus Geyrhalter

 

Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter hat sein bisher aufwändigstes und ehrgeizigstes Projekt fertiggestellt. Elsewhere ist eine vierstündige Reise ins Abseits der Globalisierung, die in zwölf Episoden einen gelassenen Kontrapunkt zur medialen Aufregung um das Jahr 2000 setzt. Uraufgeführt wurde der Film im Wettbewerb des renommierten Dokumentarfilmfestivals von Amsterdam, wo er mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde.


Das Jahr 2000. Es ist so gut wie vergessen. Dass Monate und Jahre zuvor Medien und Kommerz mit unendlichem Eifer auf den magischen Wendepunkt hinfieberten, kaum noch vorstellbar. Außer einer vagen Erinnerung, dass doch alles unspektakulär weiter floss, bleibt gerade noch die Bestätigung, dass sich Zeit auch unter größter medialer Bedrängnis nicht beirren lässt. Für das Team der Wiener Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion bedeutete Jänner 2000 dennoch ein entscheidendes Datum. Es war der Startschuss für ein außergewöhnliches Unternehmen, das über das gesamte Jahr 2000 angelegt war. Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter begab sich für sein neues Filmprojekt Elsewhere auf Reisen:

Monat für Monat erkundete er insgesamt zwölf Lebensweisen, die sich außerhalb des westlichen Zeitkonzepts, wie es im Arbeitstitel hieß, „fernab des Millenniums“ befanden. „Ich stand vor der Frage“, so der Regisseur, „das Jahr 2000 ganz einfach vorüber ziehen zu lassen oder es als Anlass zu nehmen, filmisch den Versuch eines sinnlichen Erfahrens von Zeit zu unternehmen“. Zwölf Blicke nach Anderswo Jeden Monat ein anderer entlegener Flecken der Welt, drei Wochen Reise- und Drehzeit, eine Woche für Rückkehr und erneuten Aufbruch, dies alles stand für das Dreierteam Nikolaus Geyrhalter (Regie), Christoph Meissl (Kameraassistenz) und Stefan Holzer (Ton) im Kalender 2000 von Anfang an fest. Ein anspruchsvolles Projekt, das nach den beiden letzten Arbeiten Das Jahr nach Dayton (1997) sowie Pripyat(1999), Geyrhalters international vielbeachtete Studie vom Leben und Alltag aus dem Sperrgebiet rund um den Atomreaktor Tschernobyl, einen Quantensprung in Recherche, Organisation und Finanzierung bedeutete. Hatte es sich bei den beiden letzten Dokumentarfilmen bewährt, ohne zeitlichen Druck, über lange persönliche Gespräche eine besondere Qualität des Dialogs mit den Protagonisten zu erarbeiten, so unterwarf sich der Filmemacher für Elsewhere einem extrem rigiden äußeren Rahmen, der gleichzeitig von politischen Umständen, Naturkatastrophen, gesundheitlichen Aspekten u.ä. jede Menge Unwägbarkeiten in sich barg. Genau mit diesem Spannungsfeld der Widersprüche – enormer zeitlicher Druck und gleichzeitige Suche nach Langsamkeit, minutiöse Recherche und Offenheit gegenüber spontanen Gegebenheiten war die Grundbedingung geschaffen, die auch die Eigenwilligkeit der bisherigen Arbeiten Geyrhalters auszeichnet.

Niger, Finnland, Namibia, Irian Jaya, Grönland, Australien, Nordindien, Sibirien, China, Sardinien, Kanada, Mikronesien lauten die zwölf Kapitel von Elsewhere, die den Zuschauer quer durch die Klimazonen und Kontinente zu Formen der Zivilisation führen, die,“ so Nikolaus Geyrhalter, „in dieser Form nicht mehr lange Bestand haben werden, da sich auch diese Menschen den auf den ersten Blick verlockenden Annehmlichkeiten unserer Lebensweise nicht entziehen werden können“. Reise durchs globale Dorf Es ist für den Zuschauer schon erstaunlich zu entdecken, wie weit die Wogen dieses Phänomens längst geschlagen haben, wenn ein grönländischer Wal- und Robbenfänger erzählt, wie Greenpeace und Brigitte Bardot durch ihre Offensiven ihm seine Lebensgrundlage entzogen haben oder wenn eine Lehrerin auf einem winzigen Eiland Mikronesiens, wohin jährlich zu Weihnachten ein Paket voll schäbiger Kleidung aus der Luft abgeworfen wird, ihre Bedenken zur globalen Erwärmung kund tut. Gut zwanzig mögliche Destinationen arbeiteten Silvia Burner und Michael Kitzberger in ihrer im Herbst 1998 gestarteten Recherche aus. Zunächst konzentrierten sie sich auf die Minderheiten selbst. „Wir stellten aber bald fest“, so Michael Kitzberger, „dass wir von der Pragmatik des Films her betrachtet, Menschen brauchten, die einen direkten Zugang zu diesen Gruppen hatten, wenn wir jeden Monat einen Dreh absolvieren wollten“. Ethnologen oder professionelle Reisende stellten das Bindeglied zu den Gruppen oder Einzelpersonen dar, die im Film zu Wort kamen. Sie lieferten die nötige Detailinformation, beschleunigten die Phase der Kontaktnahme und übernahmen z.T. die organisatorische Abwicklung an den jeweiligen Orten. Über Satelliten- oder Mobiltelefon bestand zugleich permanent Kontakt mit Wien, wo die Produktionsleiter Markus Glaser und Michael Kitzberger logistisch den Weg von Etappe zu Etappe ebneten.

Unter extremen Bedingungen „Wo sich Elsewhere grundlegend von anderen Projekten unterschied“, resümiert Geyrhalter, „war der enorme Druck, in zwei Wochen etwas Sehenswertes drehen zu müssen. Das bedeutete auch, dass ich mich in den ersten Tagen für einen Protagonisten entscheiden musste, mit dem Risiko, dass es eventuell nicht immer in die Richtung ging, die ich erhoffte.? Der Unsicherheitsfaktor unbekannte Sprache war für den Filmemacher nichts Neues, auch bei Das Jahr nach Dayton und PRIPYAT fasste ein Dolmetscher in den Drehpausen das Wesentliche zusammen, um davon ausgehend, die weitere Linie festzulegen. Dennoch erwies sich der Aufwand in Elsewhere als unvergleichlich höher. „Wir haben am Abend“, erinnert sich der Regisseur, „die Interviews auf einen kleinen DV-Walkman überspielt und sind dann oft die halbe Nacht gesessen, um mit den eingeblendeten Time-Codes handschriftlich eine genaue Übersetzung anzufertigen“. Diese Vorgangsweise war möglich, weil zum ersten Mal nicht mehr mit einer herkömmlichen Filmkamera, sondern mit der neuen HD-CAM gedreht wurde. Sie bot für das strapaziöse Vorhaben den idealen Kompromiss, einerseits leicht wie eine Digi Beta Kamera handhabbar zu sein, dabei jedoch Bildauflösungen in Super 16-Qualität zu liefern und erstaunte selbst die Hersteller angesichts ihrer Robustheit, der Temperaturwechsel von 70 Grad ebenso wenig anhaben konnten wie extreme Luftfeuchtigkeit und unsanfte Transportwege. Eine normale Filmkamera hätte auch keinerlei Möglichkeit geboten, täglich das gefilmte Material einem sofortigen Check zu unterziehen, um unliebsame Überraschungen bei der Rückkehr auszuschließen. Ambivalente Atmosphären Die schwierige Aufgabe, alle Episoden unter einen Bogen zu spannen und gleichzeitig jeder für sich ihre Eigenständigkeit zu bewahren hatte Cutter Wolfgang Widerhofer zu lösen. Er setzte sich erstmals im April 2000 an den Monitor, um schließlich in insgesamt 150 Stunden Material einzutauchen, das er in akribischer Detailarbeit anhand der handschriftlichen, mit Time-Code versehenen Übersetzungen entschlüsselte. „Es ist ein Sichten und Auswerten“, so Wolfgang Widerhofer, „von einem sehr vielschichtigen Material, das Nikolaus Geyrhalter in seiner ganz speziellen Weise, seine sehr geometrische Kamera auf die Welt zu richten, gesammelt hat. Und man darf auch nicht vergessen, dass 20 Minuten pro Episode eine sehr kurze Zeit sind, umso mehr als ein Schnitt im Durchschnitt erst nach 30 Sekunden erfolgt“. Ein Sami zwischen Einsamkeit und Jagdfieber in der nordfinnischen Tundra, ein Dorfpascha aus Namibien, der gerade überlegt, ob er eine dritte Frau nehmen soll, ein Blinder auf einer mikronesischen Insel, der morgens zunächst mit einer Handvoll Bastfasern auszählt, ob ihm ein mehr oder weniger glücklicher Tag bevorsteht, grönländische Frauen, die ihre Sorge um das Leben ihrer Männer auf der Jagd äußern, während diese von ihren erotischen Träumen erzählen, aus denen sie die Aussichten für ihren Beutegang schließen.

Die Protagonisten in Elsewhere berühren und befremden. Interviews, die versuchen, Personen in ihre für sie charakteristische Landschaft zu setzen wechseln mit Atmosphären, die sie auf ihren alltäglichen Handlungen begleiten und öffnen zwölf Fenster in Mikrokosmen, die anderswo in endlosen Weiten oder winzigen Enklaven existieren. Nikolaus Geyrhalter holt den Zuschauer formal noch einmal zurück in das vor kurzem noch so erwartungsbesetzte Jahr 2000 und liefert mit der passenden zeitlichen Verzögerung wieder eines seiner zurückhaltenden und gelassenen Statements im Schatten medialer Aufgeregtheit. „Das Warten“, so Wolfgang Widerhofer, „ist ein sehr wichtiger Aspekt in unseren Filmen. Es geht darum, eine Spannung zwischen Konzentration und Diffusion aufzubauen, den Zuschauer für einen kurzen Moment zu bannen und dann wieder in der Ambivalenz seiner Atmosphären alleine treiben lassen.“ Zwölf Gelegenheiten, sich an irgendeinem Ende der Welt zu verlieren.

Karin Schiefer (2001)