Sie kommt aus der Ferne, ist ständig unterwegs, doch durch die Begegnung mit ihm kehrt ein bisschen Ruhe in ihr bewegtes Dasein.
Sein Leben hingegen scheint seit Jahren stillzustehen, an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal sieht, gelangt es jedoch ordentlich
in Bewegung. Zwei Welten, die einander fremder nicht sein könnten, streifen einander zufällig bei einer nächtlichen Taxifahrt
durch Wien, halten für einige Tage einander fest, ehe sie wieder in entgegengesetzte Richtungen davonstreben. Nicht jedoch
ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Fremde, der Titel von Götz Spielmanns jüngstem Spielfilm, spielt in Deutsch ganz bewusst mit seinem Doppelsinn, der nicht nur eine
unbekannte Frau, sondern auch das unbekannte Land, das Gegenteil von Heimat bezeichnet. Mercedes, die Schöne aus Mexiko ist
nicht nur eine Fremde in Wien, wo sie zu Beginn des Films landet, sie spürt, wie sehr ihr Freund ihr ein Fremder geworden
ist, aber auch, wie sehr sie sich selbst fremd geblieben ist. Ihre Reise nach Wien hat rein geschäftliche Gründe: ein Kilo
reinstes Koks, im Köfferchen nach Wien geschmuggelt, sollte sich, geht alles nach Plan, umgehend zu einer Million Schilling
machen lassen. Geld genug für ein Retourticket über den Atlantik und einen Neuanfang. Doch in der Wiener Kokainszene ist Panik
ausgebrochen, die Polizei hat Wind bekommen, ein Dealer nach dem anderen geht hoch, die versprochene Connection sitzt bereits
hinter Gittern. Der gut geplante Deal droht zu scheitern. Mercedes bricht mit ihrem Freund und nimmt die Sache selbst in die
Hand. Harry, der zurückhaltende Taxilenker, dem sie schon am Flughafen aufgefallen ist, beginnt eine immer größere Rolle für
sie zu spielen und wächst langsam über sich selbst hinaus. Fragmente des Alltags "Meine Geschichten", sagt Götz Spielmann
über seine Arbeit, "kommen aus dem Sein. Ein Großteil meiner Arbeit, besteht ja aus dem Wachsamsein für Augenblicke, Figuren
oder Bilder. Arbeiten und das Leben sind für mich nicht voneinander trennbar, das Arbeiten ist ein organischer Teil davon.
Ich lebe und daraus ergeben sich Dinge, die es zu erzählen gibt." So entstand auch Die Fremde aus einer Reihe von Fragmenten des Alltags, die zu einer Geschichte zusammenwuchsen.
Das Schlüsselbild, das für den Regisseur und Autor den Anstoss zu dieser Geschichte lieferte, war das einer Südamerikanerin,
die in einem Wiener Gemeindebau sitzt, ein Lied in ihrer Sprache hört und nichts wie nach Hause will. Entstanden ist das Bild
bei Recherchen in einer Wiener Stadtrandsiedlung - dort, wo Harry zu Hause ist, und Mercedes Unterkunft gewährt. Vor einigen
Jahren begleitete Götz Spielmann in Wahlkampfzeiten eine Mitarbeiterin der sozialdemokratischen Partei beim Kassieren der
Mitgliedsbeiträge durch einen dieser riesigen Gebäudekomplexe. Eine einmalige Gelegenheit zu einer umfassenden Milieustudie
über Tristesse, Einsamkeit und Fremdenfeindlichkeit. "Nachdem ich so viel über Ausländer gehört hatte, hatte ich das Bild
von dieser Frau vor mir, die sich nach ihrer Heimat sehnt. Ich wollte wissen, wie sie da hergekommen ist, was sie da macht,
warum sie da weg will".
Kraft und Pathos Ursprünglich schrieb er die Geschichte für eine brasilianische Schauspielerin. Als die schließlich absagte,
bedeutete dies den Beginn einer langen Suche nach der idealen Protagonistin. Genaugenommen nach zwei. Denn so zentral auch
die Figur der Mercedes ist, so entscheidend ist das Titellied, das als Leitmotiv wiederkehrt und vor allem in den ersten Minuten
die Stimmung des gesamten Films vermittelt. Ein Gefühl, das sich in der brasilianischen Musik nicht aufspüren ließ. "Nach
und nach wurde mir bewusst", erinnert sich Spielmann, "dass das Brasilianische nicht das wiedergibt, was ich suchte. Es trägt
viel Sehnsucht in sich, das Spanischsprachige aber, das Rauere also, hatte für mich mehr Kraft, mehr Pathos und mehr an verborgenen
seelischen Grundstimmungen". Das CD-Debüt der mexikanischen Sängerin Lhasa de Sela traf die Vorstellungen schließlich punktgenau.
Damit stand auch fest, dass "die Fremde" des Drehbuchs mexikanischer Herkunft sein musste. Ihre Interpretin, Goya Toledo,
ist eine aus Lanzarote stammende Spanierin, die Spielmann bei einem großen in Madrid organisierten Casting überzeugte. Deutsch
sprach sie kein Wort, doch "bei einer guten Schauspielerin", so der Regisseur, "die mit einer Leidenschaft bei ihrer Arbeit
ist, ist das kein Risiko. Nur sehr viel Arbeit für die Betreffende."
Abseits der Besetzungspfade Neben Goya Toledo hat Spielmann auch ein neues Gesicht fürs österreichische Kino aufgespürt. Sind
die kleineren Rollen alle mit klingenden Namen aus der jungen Schauspielergeneration besetzt - Nina Proll (Beate), Simon Schwarz
(Dealer) oder Fritz Karl (Franz) , so hat er sich bei Hary Prinz in der Rolle des Taxilenkers für einen bisher Unbekannten
entschieden. "Dass der Hary Prinz weniger bekannt ist", so der Regisseur über seinen Hauptdarsteller, "wird sich hoffentlich
bald ändern. Ich kümmere mich nicht um Namen, sehr zum Leidwesen manch früherer Produzenten. Außerdem mag ich es, zu entdecken.
Das hat etwas von Goldgräbertum. Es macht, finde ich, auch die Qualität eines Regisseurs aus, ein Auge und ein Gefühl für
Schauspieler zu haben und nicht auf schon abgesegneten Besetzungspfaden zu wandeln". Neue Pfade ihres Selbst beschreiten auch
die beiden Protagonisten, Mercedes und Harry, die völlig konträr und gerade deshalb komplementär funktionieren.
"Es sind", so Spielmannn, "zwei Figuren, die in der Krise stecken, der eine, weil er zu innerlich, die andere weil sie zu
äußerlich lebt. Und jeder vermisst das andere in seinem Leben. Durch diese Begegnung helfen sie einander, das andere in sich
selbst zurückzuerobern. Beide machen eine gleichgroße, aber konträre Entwicklung durch und entwickeln sich zu einer größeren
Ganzheit hin". Standpunkt ohne Moral In seiner düsteren Seelenstudie Der Nachbar, die in San Sebastian 1992 internationale
Beachtung fand, ging es Spielmann vor allem darum, welche Deformationen der Krieg in den Menschen angerichtet hat, in die
Die Fremde versucht er, der Gegenwart und ihrem Geldrausch zu entgegnen.
Wie in Der Nachbar mit der Ambition, Milieus zu schaffen, die in sich stimmig sind: "Es geht mir um die Genauigkeit im Blick auf seine Zeit und
die Gesellschaft,. Ich versuche immer wieder, Figuren und Milieus aus sich selbst heraus zu begreifen, aus dem heraus, dass
Geld das grausamste Suchtmittel unserer Zeit ist. Wenn ich eine Geschichte mit Drogen erzähle, dann mit der großen Sorge,
sie so wahrhaftig wie möglich zu machen, ohne einen moralischen oder unmoralischen Standpunkt einzunehmen." Dazu ist Spielmann
auch viel zu sehr ein guter Geschichtenerzähler, der im entscheidenden Moment der Fiktion gegenüber der Realität den Vorzug
gibt und den Zuschauer auf dieser Reise durch Innen- und Außenwelten mit lakonischem Wortwitz und einer unmerklich sich steigernden
Spannung in seinen Bann zieht.
Karin Schiefer (2000)