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AUF ALLEN MEEREN von Johannes Holzhausen

"Soll ich dir ein Märchen erzählen von einem Kriegsschiff?" fragt der Großvater seinen Enkel, den er am Arm hält und mit ihm über die Weite des graublauen Meeres blickt. "Es war einmal ein riesengroßes Kriegsschiff, das über alle Ozeane und Meere fuhr. Auf diesem Schiff sollten die klügsten und erfahrensten Leute des Landes dienen, weil es das wichtigste Schiff der Kriegsmarine war."

Die stolzen Tage der Kiev, des größten Flugzeugträgers der russischen Marine, ihr trauriger Niedergang und ihr noch absurderes Ende waren keineswegs die Themen, die für Johannes Holzhausen den Ausgangspunkt zu seinem Filmprojekt Auf allen Meeren lieferten. Es war der Lauf der Dinge eines langen Projekts, der sie nach und nach in den Mittelpunkt rückte. Als er 1993 erstmals von ausrangierten russischen Schiffen hörte, die nach ihrem Verkauf von Schleppschiffen über die Meere nach Indien gezogen wurden, um dort verschrottet zu werden, ließ ihn das Motiv vom leeren Schiff in der Weite der Ozeane nicht mehr los. Auf welche Irrfahrt er sich selbst damit begab, konnte er erst acht Jahre später erzählen. Die Beharrlichkeit, mit der er am Projekt dranblieb, zahlte sich jedenfalls aus, denn Auf allen Meeren ist ein vielschichtiges Dokument, das mit dem Schiff als Assoziationsraum die Faszination des Meeres und der Reise in der Grenzenlosigkeit suggeriert und gleichzeitig eine sensible Studie vom individuellen Umgang mit dem Zusammenbruch eines Machtsystems darstellt. "Ich wollte", so Johannes Holzhausen, "keinen Film machen, der auf einer objektiven Ebene die Geschichte dieses Schiffes erzählt, sondern einen Film darüber, wie etwas beschrieben wird, was nicht mehr da ist und so nur über subjektive Zugänge Gestalt annimmt."

Dass die Kiev überhaupt ins Spiel kam, lag daran, dass sie 1996, als der Film finanziert war, als nächster Kandidat für einen Transport zum fernöstlichen Schrotthafen galt. Als einmal das rostende Prestigeobjekt der sowjetischen Marine als "Protagonistin" des Filmes feststand, galt es als westliches Filmteam auf eine Drehgenehmigung für militärisches Sperrgebiet und auf einen Käufer zu warten. Das Papier aus Moskau kam nach eineinhalb Jahren, bis zur lang ersehnten Reise auf dem Schleppschiff der Käufer, das die Kiev schließlich nach China brachte vergingen vier Jahre. Insgesamt unternahm Holzhausen mit seiner Regieassistentin und Dolmetscherin Susanne Kotrba sowie dem Kameramann Joerg Burger zwölf Reisen nach Russland. "Der Dreh", erinnert sich der Filmemacher, "richtete sich immer nach dem Spielraum, den wir hatten. Wir wussten nie, was sich noch ergeben wird. Es war immer wieder ein Ausloten und Anpassen des Gesamtkonzeptes." So begann Holzhausen, zunächst pensionierte Offiziere der Kiev ausfindig zu machen und sie zu interviewen. Es war nicht einfach, unter der Masse der in den Köpfen der Gesprächspartner verankerten Phrasen und Floskeln, das Brüchige und die Verletzung herauszuhören. "Ich wollte herausfinden", so der Regisseur, "was passiert mit Menschen, die in so hohem Sozialprestige standen und plötzlich ins Bodenlose stürzen. Wie gehen sie mit Realität um" Diese Seelenlandschaften, dieses Geflecht von Innen- und Außenwelt interessiert mich". Archivaufnahmen aus den glorreichen Zeiten der Kiev, Interviews und Aufnahmen in Militärakademien, die junge Leute trotz der desaströsen Karriereaussichten weiter ausbilden, liefern ein mehr als plastisches Bild vom Identifikationspotenzial eines militärischen Konstrukts, das niemals ernstlich auf einen Ernstfall vorbereitet war. Dass die Kiev in der Nähe von Peking nun zu einem Vergnügungspark mit einem skurrilen Mix aus Militärkitsch und Seemannsromantik ausgebaut wird, hat etwas von einer tröstlichen Ironie, aber auch vom Happy End eines Märchens, das eingangs versprochen wurde. "Mit dem Märchen", so Holzhausen, "assoziiere ich das Weitergeben von Tradition, von Romantik und Phantasien, die gewisse Dinge auslösen und dass gewisse Phantasien notwendig sind, um überhaupt existieren zu können"

 

Karin Schiefer (2002)