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ATLANTIC DRIFT von Michel Daëron

Mauritius im Indischen Ozean. Der jüdische Friedhof von St. Martin. Seine Grabsteine, versehen mit Inschriften wie geboren in Bratislava, in Danzig, in Wien oder Berlin ließen bereits eine Geschichte erahnen und lieferten einen ersten Anstoß zur Recherche.

In Haifa entdeckt Michel Daëron, Regisseur von Atlantic Drift, eine Liste von Überlebenden der Deportation der Atlantic im Jahre 1940, nach und nach erhält er Antwort von Überlebenden, aus Toronto, Jerusalem oder Sydney. Ihre Erinnerungen stimmen auf erschreckende Weise überein. Im Herbst 1940 verlässt ein völlig überfrachteter Donaudampfer Bratislava in Richtung Istanbul. Wer die unvorstellbaren sanitären Bedingungen überstanden hat, besteigt die Atlantic in Richtung Haifa, doch von oberster englischer Behörde ist längst beschlossen, dass diese Route nicht in die Freiheit führen würde. Nach kurzer Internierung zwingt man die rund 2000 Flüchtigen erneut auf das Schiff und deportiert sie nach Mauritius, wo sie fünf Jahre bis drei Monate nach Kriegsende in einem napoleonischen Gefängnis gefangen gehalten werden. Neben einer Reihe von Überlebenden, sind es vor allem die stummen Zeugen, die in Daërons ergreifender Rekonstruktion einer unfassbaren Irrfahrt zu Wort kommen: das Tagebuch von Ruth Sanders, Kilometer von Mikrofilm, die den Verrat durch das englische Außenamt offenlegen und die Skizzen eines gewissen Fritz Händel, über den zu sprechen sich als Unmöglichkeit erweist. Gemeinsam mit dessen 56-jährigen Sohn Schlomo, dem das Schicksal seines vor seiner Geburt verstorbenen Vaters bis dahin verschwiegen blieb, begibt sich der französische Filmemacher in Begleitung der damals inhaftierten Mutter Hannah in diese Grauzone der Erinnerungen und zurück auf die Insel im Indischen Ozean. Atlantic Drift erschließt mit den bestechenden Bildern von Georges Diane und einer packenden Dramaturgie das Geheimnis um Schlomos Vater und holt ein ins Vergessen abgedriftetes Randkapitel Geschichte ins Bewusstsein zurück.(ks)