INTERVIEW

«Es ist eine Phase voller Mut und Energie und Hemmungslosigkeit.»

 
Monja Art taucht in Siebzehn ins emotionale Wechselbad einer Lebenszeit voll unbegrenzter Möglichkeiten und versäumter Gelegenheiten. Monja Art in einem Gespräch über ihr Spielfilmdebüt Siebzehn. Weltpremiere im Spielfilmwettbewerb des Festivals Max Ophüls Preis 2017.

 
 
 Wie steht man Anfang 30 zum Spirit von 17? Wie viel Nähe, wie viel Ferne haben Sie zu diesem Alter während der Arbeit an diesem Projekt empfunden? Was hat Sie gereizt, sich  dem Coming of Age zu widmen?
 
MONJA ART: Ich wollte schon lange mit Jugendlichen arbeiten. Ich habe davor einen Dokumentarfilm (Forever Not Alone) mit jungen Mädchen gemacht und stellte dabei aber fest, dass ich gerne meine eigene Welt erschaffen würde. Ich fühle mich den 17-Jährigen nicht mehr sehr nahe und empfinde auch kein Bedauern, nicht mehr 17 zu sein. Ich halte diesen Lebensabschnitt aber für einen der interessantesten. Es ist eine Phase voller Mut und Energie und Hemmungslosigkeit, in der das geringste Ereignis sehr schnell zum Drama werden kann. Man ist sich bewusst, dass man aus dem Vollen schöpfen kann und glaubt zugleich, dass gar nichts mehr funktioniert, nur weil man mit einer bestimmten Person nicht zusammen sein kann. Eine tatsächliche Achterbahnfahrt der Gefühle. Mich reizt das Manisch-Depressive dieser Zeit sehr. Ich glaube, dass diese Lebensphase aufgrund der sozialen Medien jedoch schwieriger geworden ist im Vergleich zu meiner Jugend. Heimliche Gefühle sind sehr schnell auf Facebook aus- oder bloßgestellt.
 
 
Das Wesen dieser Lebensphase liegt in einer enormen Offenheit. Entscheidungen stehen bevor, müssen aber noch nicht getroffen werden. Im Film wird das am deutlichsten über die Sexualität ausgetragen, wo es nicht nur um ein Vor und Zurück zwischen zwei Menschen geht, es ist nicht einmal festgelegt, zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt. Der Raum zwischen den Geschlechtern scheint ein völlig freier Raum zu sein, ohne Wertung, ohne Einschränkung in der Bewegung.
 
MONJA ART: An diesen freien Raum möchte ich in jeder Lebensphase glauben, nicht nur in der Jugend. Ich wollte eindeutig keinen Coming-out-Film machen. Alles soll möglich sein, wenn man sich darauf einlässt. Das Erwachen ist dabei für mich ein ganz wesentliches Thema. Auf Paulas Erwachen verweist der Film zu Beginn und auch am Schluss erwacht sie, im übertragenen Sinn. Hier schließt sich eine Klammer. Das sexuelle Erwachen ist natürlich ein Thema in diesem Alter, ich möchte aber auch von einem Erwachen erzählen, das ein Bewusstsein dafür schafft, dass es kein Zurück mehr gibt. Auch kein Zurück mehr in die Jugend.
 
 
Sie siedeln die Geschichte im Alter der beinahe unbegrenzten Möglichkeiten an und doch ist Siebzehn u.a. eine Geschichte der versäumten Gelegenheiten. Was interessiert Sie in diesem Spannungsfeld, das ja schließlich ein Lebensthema bleibt?
 
MONJA ART: Sehr, sehr viel. Für mich ist Sehnsucht ein wichtiges Thema und auch das des „Beinahe-Lebens“. Man hätte mit einer Person sein Leben verbringen können und es ist vielleicht aus einem ganz banalen Grund nichts geworden. Das ist auch in meinem nächsten Filmprojekt Mia Carla, für das ich gerade caste, ein Thema. Eine Beziehung kann aus sehr beliebigen Gründen entstehen oder auch nicht. Jede getroffene Entscheidung ist letztlich immer auch ein Massenmord an anderen Entscheidungsmöglichkeiten.
 
 
Klarheiten und Unklarheiten kippen für die Jugendlichen in Siebzehn ständig. In Ihren Bildern nehmen Sie sich Zeit zum Verweilen, zur Verlangsamung, dann aber ist der Schnitt wieder rasch, oft flüchtig und skizzenhaft. Wollten Sie mit diesem Rhythmus gerade diese seelische Befindlichkeit transportieren?
 
MONJA ART: Meine Kamerafrau Caroline Bobek und ich haben ein sehr genaues Storyboard erarbeitet. So haben wir von Beginn an festgelegt, dass wir sowohl mit Stativ als auch mit Handkamera arbeiten wollen. Mit der Handkamera ging es vor allem darum, innere Unruhe zu zeigen. Wir haben einige Szenen als Plansequenzen aufgelöst, die sich wiederum abwechseln mit hochaufgelösten Szenen. Hierbei kann man eine Analogie zur jugendlichen Gefühlswelt erkennen. Für den Schnitt waren ursprünglich auch Jump-Cuts vorgesehen, die sich für mich jedoch im Schnittprozess nicht mehr richtig angefühlt haben.
 
 
Realitäts- und Phantasiebilder gehen in Siebzehn nahtlos ineinander und unterscheiden sich optisch nicht offensichtlich voneinander. Das eine gleitet ins andere und lässt auch den Zuschauer kurz zweifeln, in welcher Welt er gerade ist.
 
MONJA ART: Ich finde, dass es auch im Leben so ist. Sexualität zwischen Paula und Charlotte wollte ich auf alle Fälle nur in der Phantasie ermöglichen. Eben weil es im Leben auch oft so ist. Das Leben ist ja nur dieser eine Moment, der Rest existiert ja nur in unserem Kopf. „Was macht das Erlebte realer als meine Phantasie?“, ist eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt. Die Phantasie kann genauso real sein.
 
 
Sind Sie mit einem sehr offenen Konzept von „Szene“ an die Dreharbeiten herangegangen?
 
MONJA ART: Mein Zugang ist da sehr unterschiedlich. Ich habe an der Filmakademie einen Film mit Kindern gedreht und bin 1:1 am Drehbuch geklebt. Das war die falsche Entscheidung, weil zu viel am Set nebenbei passierte, was spannender gewesen wäre. Beim Dokumentarfilm Forever Not Alone haben wir gar nicht eingegriffen. Aus diesen beiden Erfahrungen heraus bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich beide Zugänge gerne kombinieren möchte, was sich mit jugendlichen LaiendarstellerInnen auch angeboten hat. Ich wollte also einen Spielfilm machen, den ich schreibe, somit Figuren und eine Welt, die ich kreiere, aber mit der Möglichkeit, bei Proben und am Set offen zu sein für Einflüsse, die sich im Moment ergeben. Das Storyboard und somit das Setting waren sehr genau ausgearbeitet. Innerhalb dessen gab es dann Möglichkeiten der Improvisation im Text. Improvisiert wurde nur bei der Probe, für den Dreh stand der Text weitestgehend fest. Bei Szenen mit mehr als drei Personen im Bild waren die Dialoge immer ausgeschrieben. Das Drehbuch war ein extended treatment, das auf 81 Minuten vorgestoppt war. Es sind am Ende 104 Minuten geworden.
 
 
Ein Cast, der praktisch nur aus 17-Jähringen besteht, bedeutete auch Arbeiten mit lauter debütierenden DarstellerInnen. Was war Ihnen beim Casting wichtig? Wie ist die Gruppe zu einer Klassengemeinschaft geworden?
 
MONJA ART: Wir haben im Zeitraum von eineinhalb Jahren ca. 500 Jugendliche gecastet. Am Ende hatte ich keine Zweifel, ich finde sie alle perfekt für ihre Rolle. Bei der entscheidenden letzten Casting-Runde habe ich immer zwei Leute zusammen in den Raum gebeten und ihnen die 36 Fragen zum Verlieben aus dem Internet gegeben und sie diese einander stellen lassen. Da waren auch sehr emotionale Momente dabei. In dieser Runde hat sich für mich sehr klar herauskristallisiert, wer für welche Rolle geeignet ist.
 
 
Gab es dann noch eine längere Vorbereitungsphase vor dem Dreh?
 
MONJA ART: Wir haben zwei Tage geprobt, an denen wir alle emotionalen und intimen Szenen durchgegangen sind. Das war nicht sehr viel, hat aber meiner Meinung nach genügt. Da wir in Niederösterreich gedreht haben, waren wir alle im gleichen Hotel und haben bei Bedarf am Vortag die wichtigsten Szenen noch mal gemeinsam durchgehen können. Bei den Kussszenen wollte ich, dass der erste echte Kuss erst vor der Kamera, nicht schon in der Probe stattfindet. Insgesamt gab es relativ wenige Takes. Eine Ausnahme waren 25 Takes nur für einen Blick, der letztendlich nicht im Film vorkommt. Das Französisch-Lernen für den Wettbewerb z.B. haben wir in einem Guss von 17 Minuten gedreht, die ich zur Gänze gelungen fand. Natürlich ist nur ein Ausschnitt davon im Film.
 
 
Das bedeutet wohl auch, dass im Schnitt noch viele, sehr wesentliche Entscheidungen gefallen sind.
 
MONJA ART: Die erste Schnittfassung war drei Stunden fünfzehn lang. Sie hätte mir auch gut gefallen. Davon ausgehend mussten wir jedoch kürzen. Ich habe zunächst mit Claudia Linzer geschnitten, in der zweiten Phase habe ich dann übernommen. Ich schneide sehr gerne und ich finde, dass man die letzte Drehbuchfassung im Schnitt schreibt. Da ich auch das Drehbuch geschrieben habe, schien es mir konsequent, dass ich auch diese letzte Fassung im Schnitt „schreibe“. Ich bin auch sehr zufrieden mit dem Endergebnis. Könnte ich nochmals beginnen, würde ich nichts Grundlegendes anders machen. Inhaltlich ist das Thema Coming of Age für mich damit abgeschlossen. Das, was ich über die Jugend erzählen wollte, habe ich mit diesem Film erzählt. Ich finde, dass Siebzehn sehr facettenreich von der Jugend erzählt, wie wir es sonst primär aus Serien kennen. Wir treffen in Siebzehn zudem auf sehr unterschiedliche Charaktere, auch auf sehr starke weibliche Figuren. Ich denke, dass es gerade für junge Mädchen noch zu wenige starke weibliche Role Models gibt. Siebzehn ändert diesen Zustand ein klein wenig.   


Wohin zieht es Sie nun thematisch?
 
MONJA ART: Ich arbeite zurzeit an einer Liebesgeschichte, die ich über mehrere Jahre erzähle und in der es mir ganz stark um Abhängigkeitsstrukturen und Machtverhältnisse innerhalb dieser Beziehung geht. Wir befinden uns gerade mitten im Casting. Ich schreibe außerdem an einer Tragikomödie sowie habe ich vor kurzem mit einem Science-Fiction/Horror-Stoff begonnen. Und für den ORF schreibe ich an einer Komödie. Was das Schreiben betrifft, bin ich zurzeit sehr beschäftigt.
 
 
Außer einem behinderten, sprachlosen Vater und einem neurotischen Lehrer gibt es in Siebzehn kaum Erwachsene. Warum ist die Erwachsenenwelt so absent?
 
MONJA ART: Paulas Vater ist jemand, der sich nach dem Tod seiner Frau total zurückgezogen hat. Er will mit der Welt nichts mehr zu tun haben. Florian Tangler, der Französisch-Lehrer, hingegen ist jemand, der gerne mit der Welt zu tun hätte, der aber nicht weiß, wie es geht. In dieser Unbeholfenheit unterscheiden sich die beiden Erwachsenen im Film voneinander. Ich habe darüber hinaus auf erwachsene Figuren weitestgehend verzichtet, weil ich glaube, dass Jugendliche so sehr auf sich selbst und auf die Probleme und Leidenschaften untereinander fokussiert sind, dass das erwachsene Umfeld nicht sehr relevant ist.
 
 
Unter der leichten Oberfläche schwingt etwas mit, das darauf hinweist, dass das scheinbar unbeschwerte Leben auch belastet ist: Paula z.B. wächst ohne Mutter mit einem behinderten Vater auf. Es ist den Jugendlichen bewusst, dass in den kommenden Jahren große Entscheidungen anstehen, die unvermeidbar sind.
 
MONJA ART: Es kommt eine große Wende auf sie zu, von der es kein Zurück mehr gibt. Ich erinnere mich selbst an meine Schulzeit. Ich hatte jahrelang Angst vor der Matura, nicht aus Leistungsgründen, sondern weil mir bewusst war, dass etwas zu Ende gehen würde, was damit unwiederbringlich verloren sein würde. Für mich kam das einem Todesfall gleich. Das Abschied-Nehmen beginnt ja früh im Leben.
 
 
Im Französisch-Unterricht bzw. beim Wettbewerb rücken zwei Werke aus der französischen Literatur in den Fokus. Haben Sie zur französischen Literatur eine besondere Affinität?
 
MONJA ART: Nicht besonders. Madame Bovary haben wir in der Schule gelesen und es war für mich ein unheimlich einprägsames Buch in meiner Jugend. Ich denke heute noch oft daran. Diese Lektüre war auch der Grund, warum Paula in Siebzehn gut in Französisch ist. Ich wollte, dass sie in einer Sprache gut ist, dass es Französisch geworden ist, hat mit diesem Buch zu tun. Marcel Proust fließt im Zuge des Sprach-Wettbewerbs ein. Ihn erwähne ich, weil ich das, was er über Sehnsucht sagt, für diesen Film für so treffend erachte. Auch dass er sagt, dass man besser Reiseführer liest, als die Reisen wirklich zu machen. Das hat etwas mit Illusion und Phantasie zu tun. Real verlieren ja manche Dinge ihren Zauber. Die Sehnsucht stirbt ja an der Schwelle zur Erfüllung.
 
 
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2017
«Das sexuelle Erwachen ist natürlich ein Thema in diesem Alter. Ich möchte aber auch von einem Erwachen erzählen, das ein Bewusstsein dafür schafft, dass es kein Zurück mehr gibt. Auch kein Zurück mehr in die Jugend.»