Zunächst fuhr Juri Rechinsky nur bis zur ukrainischen Grenze, unterstützte in den ersten Kriegswochen Freunde, Familie, Geflüchtete
und wurde sich im Chaos an den Grenzbahnhöfen des unfassbaren Ausmaßes bewusst, den dieser Einschnitt in der ukrainischen
Gesellschaft hinterlässt. Das Bedürfnis, eine Reise ins Kriegsgebiet zu riskieren, wurde drängender. DEAR BEAUTIFUL BELOVED dokumentiert die Fahrten des Filmemachers an seine eigenen Grenzen und in die unsichtbaren Zonen des Kriegsgebiets, entlang
der düsteren Routen des alltäglich gewordenen Leids.
Ein Gespräch mit Juri Rechinsky (Regie) und Andrea Wagner (Montage).
Sie leben seit vielen Jahren in Österreich. Wie haben Sie persönlich den Ausbruch des Ukrainekriegs erlebt. Was bedeutet der
Kriegszustand für Sie und Ihre Verbindung zur Ukraine?
JURI RECHINSKY: Der 24. Februar 2022 war absolut katastrophal. Der Start in den Tag – Nachrichten vom Kriegsausbruch, Nachrichten von meiner
Familie, die in der Nähe von Kiew lebt. Sie wachten auf – mit schweren Explosionen und einem Himmel, der von einem surrealen
Rot war. Für mich, wie für viele andere auch, war dies ein sehr schwerer Einschnitt, eine tiefgreifende Veränderung in uns
selbst, ein Umbruch in der Welt und in unseren Lebensbedingungen. Es ist immer noch schwer zu akzeptieren. Nach zweieinhalb
Jahren hat man sich irgendwie daran gewöhnt, aber es ist immer noch kein Sinn dahinter zu erkennen.
Wie ist die Idee herangereift, einen Film zu machen?
JURI RECHINSKY: Ich verspürte zunächst keinerlei Wunsch, irgendetwas zu tun, was mit Film in Verbindung stand. Es war ganz klar, dass jegliches
Handeln als Filmemacher, uns in keiner Weise vor dem Krieg bewahren konnte. Ich war viel mehr auf konkrete und physische Aktionen
fokussiert: An die ungarische Grenze fahren, Verwandte von jemandem treffen; an die nächste Grenze in Rumänien fahren, meine
Schwester treffen, die Frau meines Freundes mit einem kleinen Kind treffen, sie nach Wien bringen, eine Lösung finden, wie
und wo sie leben sollten. Am ersten Kriegstag nahm ich an einer Demonstration teil und mir wurde bewusst, dass all das Singen
und Rufen etwas war, das von anderen erledigt werden konnte. Was sollte ich tun? Was könnte ich noch tun? An der ukrainischen
Grenze zu Rumänien gab es riesige Menschenströme, ich sah ihren emotionalen Zustand und die Sachen, die sie mitgenommen hatten.
Dieser Anblick bot mir ein unmittelbares Bild von dem, was Krieg bedeutete. Es vermittelte eine Idee davon, was für ein Ausmaß
dieser Einschnitt bedeutete, dem ich mich noch nicht stellen wollte. Ich führte dann lange Gespräche mit meiner Schwester
über unsere Möglichkeiten – Wie sollten wir helfen? Wie sollten wir reagieren? Sie war es dann, die vorschlug, ich sollte
meinen Hintergrund als Filmemacher zumindest als Ausgangspunkt nutzen. Zunächst dachte ich an einen journalistischen Zugang,
der direkter und spontaner war. Eines Tages kam ein Anruf von meiner Produktionsfirma, die zum einen besorgt war und zum anderen
mir vorschlug, falls ich vorhatte, etwas im Zusammenhang mit dem aktuellen Kriegsgeschehen zu dokumentieren, es vorzufinanzieren.
Ich hatte zuvor mit ihnen an einem Spielfilmprojekt gearbeitet und am 17. Februar 2022 einen langen und komplizierten Finanzierungsprozess
abgeschlossen. Nur wenige Wochen später war dieses Projekt aufgrund der geänderten Umstände gestorben. Ich nahm also das Angebot
an. Wir fuhren im April mit einer kleinen Crew, der auch meine Schwester angehörte, wieder an die ungarische Grenze und wir
drehten vier, fünf Nächte dort. In Wien habe ich das Material geschnitten und ich hatte den Eindruck, am richtigen Ort das
Richtige zu tun.
Wie entstanden die thematischen Hauptrichtungen? Ich nehme an, es ging vor allem um die Frage, was bedeutet Krieg abseits
der militärischen Operation?
JURI RECHINSKY: Im Mai 2022 begann der Einreichprozess, Schritt eins war, ein Konzept zu entwickeln. Ich begann mit der Recherche und fuhr
zu jedem Checkpoint entlang der ukrainischen Grenze mit Polen, der Slowakei und Ungarn. Auf der Basis meiner Beobachtungen
von freiwilligen Helfer:innen und Geflüchteten schrieb ich das Konzept gemeinsam mit Kseniya Kharchenko, die nach Wien geflohen
war. Ich brauchte Hilfe, nicht nur wegen des Zeitdrucks, sondern auch wegen der Intensität der Erfahrungen bei der Recherche.
Sie ist eine tolle Autorin und war außerdem direkt von der Situation betroffen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich für Andrea Wagner als Editorin of DEAR BEAUTIFUL BELOVED entschieden haben?
JURI RECHINSKY: Andrea ist die Editorin meines Lieblingsfilms Megacities von Michael Glawogger. Ich schaue mir diesen Film immer wieder vor
dem ersten Drehtag eines neuen Projekts an. Er ist eine riesige Inspirationsquelle für mich.
Andrea, was hat Sie an diesem Projekt gereizt?
ANDREA WAGNER: Ich habe den Rohschnitt der Bilder aus Ungarn gesehen, das war nicht mehr als ein Layout. Und ja, es war auf den ersten Blick
ein faszinierendes Projekt über die Realität und ein herausforderndes Thema. Entscheidend war, welche weiteren Themen Juri
filmen würde. Die standen zu Beginn nicht eindeutig fest, er kam mit mehreren Optionen von der Recherche zurück. Das Material,
das er dann aus der Ukraine brachte, war nicht vergleichbar mit den Bildern von der ungarischen Grenze, die uns in gewisser
Weise durch 2015 vertraut waren. Der Fokus auf die Kinder und Babyaugen berührte mich sehr, aber einen wirklich tiefen Eindruck
machten auf mich die Bilder aus der Ukraine.
Es entsteht der Eindruck, dass Sie mit vielen humanitären Initiativen im Austausch waren. Mit wem wollten Sie arbeiten?
JURI RECHINSKY: Als das Konzept geschrieben und die Einreichungen erledigt waren, wurde mir bewusst, wie sehr ich schon seit Februar mit dem
Wunsch kämpfte, in die Ukraine zu reisen, und dieser Wunsch wurde immer stärker. Irgendetwas gab mir die Gewissheit, dass
ich es bis ans Ende meiner Tage bereuen würde, wenn ich diese Reise nicht machen würde. Es gelang mir, die Produktionsfirma
zu überzeugen, und wir prüften verschiedene Optionen, die meine Ausreise aus dem Land absichern sollten, wir scheiterten allerdings.
Ich war aber in einem solchen Zustand, dass wir einfach alles zusammengepackt haben, ohne eine Garantie, dass ich das Land
wieder verlassen konnte. Das war der Punkt, an dem der Film so wirklich begann. Ich hatte einige Leute in der Ukraine, mit
denen ich schon seit vielen Jahren bei Filmprojekten zusammenarbeite, angefangen bei sickfuckpeople und Ugly. Nach unserer
Einreise in die Ukraine galt unsere Hauptrecherche immer noch den Geflüchteten. Ich wollte mehr über ihre Geschichten herausfinden,
bevor sie die ukrainische Grenze überquerten. Nach und nach näherten wir uns den Häusern, die sie gerade verließen, und erhöhten
damit allmählich auch den Grad des Risikos, das wir eingingen.
Wo in der Ukraine haben Sie mit den Dreharbeiten begonnen?
JURI RECHINSKY: Wir drehten im Donetsk-Gebiet zwischen Bakhmut, Slowjansk, Kostjantyniwka. Den Dreharbeiten sind Wochen der Recherche vorangegangen.
Zuerst kam ich nach Kiew, dann schickte mich meine Crew nach Dnipro, was viel näher an der Kriegsfront war. Von dort aus begann
ich, Freiwilligen zu folgen, die Menschen aus ihren Häusern in Donetsk und Zaporizhzhia evakuierten. Ich glaube, die erste
Fahrt ging nach Nikopol, eine kleine Stadt, ganz in der Näher des Atomkraftwerks von Zaporizhzhia, das täglich heftig bombardiert
wurde. An klaren Tagen konnte man am anderen Flussufer die russischen Soldaten sehen und natürlich auch diese enorme Anlage
des Atomkraftwerks. Es war zu einem Zeitpunkt, wo alle ständig in Sorge und nervös waren, ob es explodieren würde oder nicht.
Wie sind Sie mit dem Zustand der Angst umgegangen?
JURI RECHINSKY: Indem man kleinere Schritte macht, als man es normalerweise tun würde. Es hatte nichts mit der Planung eines normalen Drehtags
zu tun. Da war es im Bereich des Möglichen, dass man ohne seine Beine nach Hause kommt, gar nicht mehr zurückkehrt oder in
Gefangenschaft gerät – man kann in echte Schwierigkeiten geraten, die dem eigenen Leben ein Ende setzen oder es für immer
verändern. Unser Ansatz bestand darin, mit Menschen zu sprechen, die sich in genau dem Gebiet aufgehalten hatten, das wir
aufsuchen wollten, wo wir aber zögerten, weil es gerade gefährlich war. Das waren Fixer, Journalisten, Freiwillige, Fahrer
des Roten Kreuzes, Sanitäter, Soldaten – lauter Leute, die zuletzt an solche Orte gereist waren. Im Idealfall am selben Tag.
Im Krieg können sich die Dinge so schnell ändern, dass die Informationen von jemandem, der eine Woche zuvor dort gearbeitet
hat, vielleicht schon veraltet sind. Wir haben also diese Einschätzungen gesammelt und dann am Abend entschieden, ob wir am
nächsten Tag fahren oder nicht. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung von Arbeit im Kriegsgebiet gemacht:
Man lernt, jeden Tag genauere Vorhersagen zu treffen, dennoch bleibt es am Ende eine intuitive Entscheidung.
Manchmal ist diese intuitive Entscheidung so stark, dass sie wider jede Vernunft ist. Jeder nächste Schritt wurde zunehmend
gefährlicher, bis man den Schritt setzt, bei dem man feststellt, dass es um einen Schritt zu weit war. Diesen letzten Schritt
habe ich mit Elisabeth und Jonny gemacht. Ich fuhr mit ihnen am 1. September 2022 nach Bakhmut. Ein halbes Jahr später galt
Bakhmut als ikonische Stadt, die dem Erdboden gleichgemacht wurde. Heute findet man dort nur noch Asche und ausgebrannte Gebäude.
Im August und September 2022 wollte niemand mehr dorthin, seltsame Dinge gingen vor, ohne dass klar war, was es war. Elizabeth
und Jonny fuhren fast jeden Tag hin, voll im Bewusstsein, dass es immer gefährlicher wurde. Sie waren möglicherweise die letzten,
die Menschen von dort evakuiert haben.
Wie ergaben sich die beiden Erzählstränge – die Evakuierung der älteren Menschen und die Transporte der gefallenen Soldaten?
JURI RECHINSKY: Wir recherchierten in einer Flüchtlingsunterkunft namens Ocean of Kindness und mir wurde bewusst, dass diese erzwungene Übersiedlung
für die alten Leute das Unheimlichste war. Für sie bedeutete es den totalen Kontrollverlust, sie wussten nicht, ob sie diese
Fahrt überleben würden, sie hatten keine Ahnung, wohin sie gebracht wurden. Sie vermissten ihr Zuhause, ihre Routine, ihre
Nachbarn, ihre Tasse Tee, ihren Lieblingshonig. In dieser Gruppe von älteren Menschen erlebte ich jede nur erdenkliche menschliche
Reaktion, die eine einschneidende Veränderung im Leben auslösen kann. Ich war tief erschüttert von diesem Anblick, ohne zu
wissen warum. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass diese Leute, diese Erfahrung immer wieder aufs Neue durchmachen mussten.
Was die gefallenen Soldaten betrifft, gab es mehrere Punkte: Einer davon war der, dass ich selbst ein Auto mit den Leichen
nachts auf einer unheimlichen Straße gelenkt habe. Ich durfte das tun, weil der Fahrer zu müde und eingeschlafen war. Ich
habe beim Fahren eine ganz andere Art von Verantwortung in mir gespürt. So achtsam bin ich noch nie gefahren. Ein Unfall wäre
unverzeihlich gewesen. Als wir am Morgen im Leichenschauhaus ankamen, habe ich selbst erlebt, wie mit den Leichen umgegangen
wurde. Die Mitarbeiter waren mit ihrer Routine beschäftigt, ihre Handgriffe waren alle sehr praktisch und professionell. Als
ich nach so vielen Stunden Fahrt erschöpft dastand und das Gesicht eines Toten betrachtete, empfand ich ein Gefühl von überwältigender
Schönheit. Zumindest für eine Familie ist dieses Objekt, dieses schwere, übelriechende Objekt, das Wichtigste. Ohne es zu
sehen, ohne es zu berühren, könnten sie nicht weiterleben. Von dieser Transformation wollte ich erzählen. Wenn man monatelang
Nachrichten liest, werden Opfer zu Nummern. Was mir in diesem Leichenschauhaus passiert ist, war, dass jede dieser Nummern
zu einem geliebten Menschen wurde.
Haben Sie bereits mit der Montage begonnen, als der Dreh von den Evakuierungen abgeschlossen war?
ANDREA WAGNER: Nach dem Dreh der Evakuierungen der alten Leute hat es eine ganze Weile gedauert, bis das Rohmaterial untertitelt war. Es
ist Winter geworden, Juri war wieder in der Ukraine, um die Geschichte der toten Soldaten zu drehen, als ich begann, mit dem
Material vom Herbst zu arbeiten. Es bedeutete erstes Sichten und Aussortieren, erste Sammlungen, erste rohe, sehr rohe Kapitel
der Evakuierungen und der alten Menschen. Dann kam Juri mit dem Material der Leichentransporte zurück. Wir wussten damals
noch nicht, dass er Österreich für weitere Dreharbeiten nicht wieder verlassen würde.
Die ursprüngliche Idee war ja, wie ich mich jetzt gerade erst wieder erinnere, Menschen zu verfolgen, die ausgebombt werden,
sich auf die Flucht in den Westen begeben, dort eine Zeit lang leben, aber dann wieder – wir dachten natürlich alle damals
der Krieg wäre bald vorbei – nach Hause zurückkehren. Wir wollten sie auf ihrer Reise begleiten bis zu dem Moment, wo sie
ihr Heim wieder betreten. Aber genau das geschah nie. Wir hatten ohnehin schon eine große Menge an Material, daher sagten
wir uns „Verarbeiten wir das Vorhandene“ und irgendwann hat sich herausgestellt, dass wir alles hatten, was wir brauchten.
Es erzählt über den Hintergrund von Kriegsschauplätzen, das war ausreichend.
Die Menschen, mit denen Sie drehen, sind ständig in Bewegung, sei es in Kleinbussen, in Autos, in Zügen; sie werden evakuiert,
übersiedelt, rückgeführt oder sie verlassen ihr Zuhause. Erzählt diese Bewegtheit etwas über die Entwurzelung der Menschen,
über den Verlust aller Gewissheiten, die ein Krieg bewirkt?
JURI RECHINSKY: Meine Frage war: Was heißt Krieg? Ich habe ihn über die Medien und von der anderen Seite der Grenze aus miterlebt, solange
ich in Österreich war. Ich bin aber in die Ukraine gefahren, um ihn direkt zu erleben. Über die Medien betrachtet ist der
Krieg eine Sache. In vielen verschiedenen Realitäten ist er etwas ganz Anderes. Er ist ein Ereignis, das zur Bewegung zwingt.
Man kann keinen Film über Krieg ohne Bewegung drehen, weil alles in Bewegung ist. Es ist wie ein Ameisenhaufen während eines
Sturms. Gleichzeitig hatten einige der älteren Menschen, die wir evakuiert und begleitet haben, zuvor ihre Wohnungen seit
Jahren schon nicht mehr verlassen. Das war für mich noch unheimlicher und brutaler als das, was sie in diesem Moment erlebten.
Sie ähnelten meinen Protagonisten in sickfuckpeople – diese unsichtbaren Menschen, die Teil der Gesellschaft sind, aber nicht
wahrgenommen werden.
Es ist mir bewusst, dass ich immer wieder zwischen verschiedenen Fragmenten verschiedener Geschichten hin- und herspringe;
ihr müsst mir das verzeihen. Ich versuche, nicht so viel über meine Erfahrungen zu reden, denn die Erinnerungen versetzen
mich in einen gewissen Zustand. Ich erinnere mich an zu viel. Es war eine so intensive Erfahrung, und es gibt so viel, was
ich noch nicht verarbeitet habe.
Andrea, können Sie uns erzählen, worin die großen Herausforderungen für Sie bestanden?
ANDREA WAGNER: Es war nach langer Zeit, so richtige Arbeit für mich. Ein großes Privileg, da hineinschauen zu dürfen, ohne ein Teil davon
sein zu müssen. Als ich das Material der toten Soldaten im Leichenschauhaus zum ersten Mal sah, bekam ich Angst. Nur drei
Sekunden eines heiklen Takes zwangen mich, die Arbeit zu unterbrechen. Mein erster Gedanke war – wie soll ich an diesem Film
weiterarbeiten? Und kann ich diesen Film überhaupt machen? Ich kenne Kameraleute, die schnell kadrieren und im Moment der
Aufnahme ihre Augen schließen, wenn vor der Kamera Dinge passieren, die sie nicht in sich hineinlassen wollen. Aber im Schneideraum
funktioniert das nicht. Da muss ich hinschauen. Ich brauchte eine Woche, dann begann ich, mich den Bildern zu stellen.
Als Juri zurückkam, musterten wir gemeinsam aus und trafen eine Auswahl, die für mich in Ordnung war. Ich muss gestehen –
und es fällt schwer es zu sagen – aber man gewöhnt sich an bestimmte Bilder. Im Laufe von mehreren Monaten der Arbeit verliert
man alle Emotionen, die man beim ersten Mal hatte. Ich sah nur mehr schwarze und weiße Säcke und war nicht mehr berührt von
ihrem Inhalt. Das war eine der größten Herausforderungen diesen Film zu schneiden.
Anfangs habe ich also alleine gearbeitet und Sequenzen für gemeinsame Sichtungen vorbereitet. In der zweiten Hälfte des Schnittprozesses
arbeiteten wir dann fast ausnahmslos gemeinsam. Juris Blick war für mich auch deshalb sehr wichtig, weil er die Sprache beherrscht
und daher, wenn es um Worte geht, alle Nuancen einer Sequenz erkennt.
Außerdem hatte ich ukrainische Assistenten, mit denen ich kommuniziert und dabei Geschichten parallel mitbekommen habe. Oft
war ich ungehalten, weil ich Untertitel nicht zeitgerecht bekommen hatte, bis ich erfuhr, dass es einfach keinen Strom gab,
weil wieder ein Angriff auf Kiew stattgefunden hatte. Es war eine ganz besondere Situation im Schneideraum, diese andere Realität
der Assistenten mitzubekommen, die sich täglich aus einer Welt des Krieges meldeten, von ihren Verlusten zu erfahren und ihre
Ängste zu spüren. Das hat in der Sekunde immer sehr Vieles relativiert, was hier bei uns stattfindet.
Es gibt gegen Ende des Films eine frappierende Sequenz, in der über eine längere Strecke Menschen am Straßenrand knien, um
dem durchfahrenden Konvoi mit den toten Soldaten ihre Reverenz zu erweisen. Können Sie uns zu diesen Bildern mehr erzählen?
JURI RECHINSKY: Andrea und ich hatten lange Diskussion über die am Straßenrand knienden Menschen.
ANDREA WAGNER: Als ich diese Bilder zum ersten Mal sah, war ich überwältigt. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Juri hat einen anderen
Standpunkt vertreten. Für mich war es ein sehr schönes Bild, um zu zeigen, wie die Gesellschaft Anteil nimmt und reagiert.
JURI RECHINSKY: Das war auch das Argument, das ich verstehen konnte und akzeptiert habe. Es ist wirklich eine Respektsbekundung und das ist
bewegend, auch wenn ich das Förmliche und Zeremonielle daran nicht mag. Das Auto fährt vorbei, die knienden Menschen stehen
wieder auf und das Leben geht weiter. Die Mutter des Soldaten wird nie wieder einfach weitermachen. Diese Respektsbekundung
kann nicht der Ausgleich für den Verlust eines Sohnes sein. Man kann der Mutter dieses Kindes nichts geben, was seinen Tod
kompensieren könnte.
Wie haben Sie’s letztlich geschafft, zwischen Ukraine und Österreich hin- und herzureisen?
JURI RECHINSKY: Ich fuhr zweimal in die Ukraine. Wie ist es mir gelungen, die Grenze zurück nach Österreich zu passieren? Mit nachdrücklicher
Unterstützung verschiedener Institutionen. Ich bin immer noch überrascht, wie viele Menschen mir helfen wollten. Ich konnte
auf offiziellem Weg, aber nicht ohne Schwierigkeiten zurückreisen. Die schlimmste Erfahrung während dieses ganzen Projektes
war der Moment, als die Dreharbeiten in der Ukraine fertig abgeschlossen waren und ich auf die Ausreiseerlaubnis warten musste.
Was war für Sie das entscheidende Motiv, trotz des Risikos dorthin zu reisen?
JURI RECHINSKY: Ich wollte mit Mitteln, mit denen ich gut umgehen kann, an diesem Krieg teilnehmen. Ich kann nicht ignorieren, dass ein Krieg
im Gange ist. Verglichen mit dieser enormen Gegebenheit bin ich ein Staubkorn, aber dieses Staubkorn will etwas tun und kann
nicht einfach sein Leben weiterführen, als ob nichts geschehen wäre. Es war kein Spaß, neun Monate lang täglich mit Leichen
konfrontiert zu sein. Als ich 2022 in die Ukraine fuhr, hatte ich keine Vorstellung davon, was mich dort erwarten würde. Keine
Vorstellung davon, was es bedeutet, durch ein Minenfeld zu gehen, jemandes Großmutter aus dem fünften Stock zu tragen, während
die Stadt unter Beschuss ist oder in einem Kühlschrank voller Leichensäcke nach einem toten Freund zu suchen. Ich habe diese
Erfahrung gemacht und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie mir noch einmal zumuten würde. Ich hatte den Drang verspürt, es
zu tun. Jetzt, wo ich die Situation kenne, frage ich mich, ob ich es noch einmal tun würde. Ich ertappe mich bei dem Gefühl,
dass es eigentlich gegen jede Vernunft wäre, aber ein gewisser Reiz trotzdem da ist.
Interview: Karin Schiefer
Juni 2024