Eines will Gina um jeden Preis: Dass sie alle eine Familie bleiben. Die Neunjährige kümmert sich jetzt schon um ihre jüngeren
Brüder. Für das Baby, das bald kommt, will auch sie Sorge tragen. Auf ihre Mutter gibt sie Acht so gut es geht, denn die ist
hochschwanger und ziemlich alkoholkrank. Die Filmemacherin Ulrike Kofler betrachtet in GINA drei Generationen einer Familie, in der sich das Scheitern unwillkürlich reproduziert und sie berührt den heiklen Punkt,
wo die Privatsphäre dringend von außen Hilfe braucht.
GINA ist nach Was wir wollten Ihr zweiter Kinofilm. Versucht man eine Verbindung zwischen beiden Filmen herzustellen, dann
geht es um Fragen rund um Mutterschaft | Elternschaft – der Wunsch danach, der Verlust davon, die Flucht davor, die Facetten,
Elternschaft zu leben, die Grenzen ihrer Vertretbarkeit. Warum ist dieses Thema in Ihrem erzählerischen Schaffen so präsent?
ULRIKE KOFLER: Das ist eine gute Frage, interessanterweise kann ich sie nicht wirklich beantworten. Ich merke, dass mich das Thema der verschiedensten
Formen von Familie oder auch einfach nur
Zugehörigkeit interessiert. Ohne dass ich es jetzt genau benennen kann, arbeitet
auch das Thema der Elternschaft – ob sie nun gelebt, gewünscht, vermieden oder wie in GINA vernachlässigt wird, immer wieder
in mir.
Sie erzählen in GINA von einer alleinerziehenden Mutter, die ihr viertes Kind erwartet, obwohl sie aus verschiedenen Gründen
der Aufgabe, für vier Kinder zu sorgen, nicht gewachsen ist. Wie hat in der Drehbuchphase diese Familie Gestalt angenommen?
ULRIKE KOFLER: Ich habe dafür in einer frühen Phase mit der Wiener Magistratsabteilung für die Jugendwohlfahrt zusammengearbeitet. Die Thematik
der familiären Hintergründe hat mich immer schon berührt, letztlich auch weil ich selbst Mutter eines Pflegekindes bin. In
der Recherche bin ich mit so vielen unglaublichen Geschichten in Berührung gekommen, was Kindern widerfährt, womit sie zu
kämpfen haben. Wer kann sich z.B. vorstellen, dass Vierjährige ihre kleineren Geschwister wickeln, weil es sonst keiner tut?
Diese Erfahrungsberichte, die mir anonymisiert zugänglich gemacht worden waren, haben mich sehr stark inspiriert und daraus
sind meine Filmgeschichte und die Figuren mit insgesamt vier Kindern nach und nach gewachsen.
Warum haben Sie entschieden, die älteste, ca. neunjährige Tochter Gina zur titelgebenden Hauptfigur zu machen, auch wenn die
Mutter eine ebenso tragende Rolle spielt?
ULRIKE KOFLER: Der Film ist ein weibliches Drei-Generationen-Portrait einer Familie aus der Sicht der neunjährigen Gina als älteste von
drei Geschwistern und einem zu erwartenden Baby. Mir geht es in GINA auch viel um Muster, die sich wiederholen und darum,
wie schwierig es ist, dieses sich scheinbar endlos drehende Schicksalsrad zu verlassen. Warum ist Gitte, Ginas Mutter so,
wie sie ist? Warum ist Branca, Ginas Oma so wie sie ist? Wie wird Gina ihr eigenes Erwachsenenleben gestalten? Wird sie es
schaffen, da auszusteigen? Das waren die zentralen Fragen. Dramaturgisch gesehen musste man in der Tat immer wieder auf den
Punkt kommen und klären, wer die Hauptfigur ist, weil natürlich auch die Mutter und die Großmutter viel Potential haben und
ich erzählen wollte, warum sie sind wie sie sind. Dennoch ist die Protagonistin im Film für mich eindeutig Gina.
GINA wirft Fragen zu Kind-Sein und zu Erwachsen-Sein auf. Aspekte, die sich manchmal umkehren. Der Film erzählt von Erwachsenen,
die Kinder bleiben, Kindern, die Verantwortung übernehmen müssen und damit überfordert sind.
ULRIKE KOFLER: Mir ist es wichtig, dass Gitte nicht dafür verurteilt wird, dass sie ihre Mutterschaft nur auf sehr unzulängliche Weise ausführen
kann. Ich möchte, dass man sieht, dass auch sie nicht mehr bekommen hat. Auch Branca hat lediglich eine Strategie für sich
gefunden, ihr Leben zu leben, zu überleben, auch das will ich nicht verurteilen. Es ist ihre einzige Möglichkeit durchzukommen,
leider ist sie damit weder ihrer Tochter noch ihren Enkeln eine Hilfe. Ich will erzählen, wie sich Phänomene wie Armut, Verwahrlosung,
Bildungsmangel von Generation zu Generation wiederholen, wie schwer es ist, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien.
Es gibt im Film immer wieder Aufsichten auf die schlafende Familie in verschiedensten Konstellationen. Alle vermitteln sie
ein Bild von Familie und stellen das eine klassische Modell in Frage. Gina meint, wenn das Baby da sei, wären sie eine richtige
Familie. Ist es Ihnen ein Anliegen, das Mainstream-Familienmodell zu hinterfragen?
ULRIKE KOFLER: Diese Auseinandersetzung halte ich auf alle Fälle für ein spannendes Thema. Wenn Gina von einer „richtigen“ Familie träumt,
denkt sie nicht an eine klassische Familienkonstellation, das kennt sie gar nicht. Gina sehnt sich nach Halt, jemand der sie
an der Hand nimmt, jemand, der ihr Sicherheit gibt und sich um ihre Bedürfnisse kümmert. Das ist keine Frage von Blutsverwandtschaft
und auch keine von klassischen Geschlechterrollen oder Geschlechteraufteilung.
Der Umstand, dass alle drei Geschwister im Fokus stehen, bedeutet wohl, dass Sie sich im Schreibprozess sehr tief in die Perspektive
der Kinder einlassen mussten: Was hat das fürs Schreiben, insbesondere der Dialoge bedeutet?
ULRIKE KOFLER: Ich glaube, man muss tief in den eigenen Erinnerungen schöpfen. Das kann sehr intensiv werden, manche Aspekte aus dem Film
sind mir aus eigener Erfahrung nicht ganz fremd. Man versucht Bilder dafür zu finden, wie man als Kind schwierige Situationen
wahrnimmt, und das versetzt einen ein Stück weit zurück in die eigene Kindheit.
Wie zeichnet man einen Haushalt, in dem Kinder vernachlässigt werden?
ULRIKE KOFLER: Tatsächlich geht es oft um basale Versorgungselemente, die nicht mehr gegeben sind. Es gibt zu wenig zu essen, die Kinder
haben Hunger, und beginnen, Essen zu horten, sobald es welches gibt, um für schlechtere Zeiten vorzusorgen. Die vielen anonymisierten
Geschichten vom Jugendamt waren aber sicher die größte Inspirationsquelle. Man wird mit Dingen konfrontiert, die wir uns in
der Bubble, in der wir uns bewegen, überhaupt nicht vorstellen können und die aber oft unmittelbar neben uns geschehen. Ein
wichtiger Motor, diesen Film zu machen, war sicher auch davon zu erzählen, was direkt neben uns passiert.
Sie haben auch die Figur der Vertreterin des Jugendamts geschaffen, die keine einfache Rolle hat. Auch wenn ihr Ziel das Kinderwohl
ist, wird sie eindeutig als Eindringling in die Privatsphäre erlebt. Und es wird augenscheinlich, welch extrem gewaltsamer
Akt eine Kindesabnahme ist. Welche Gedanken haben Sie bei der Darstellung dieses heiklen Terrains beschäftigt?
ULRIKE KOFLER: Ursula Strauss ist für mich die perfekte Besetzung für diese Figur, weil sie trotz der Instanz, die sie darstellt, stets eine
Warmherzigkeit ausstrahlt. Ihre Durchlässigkeit im Spiel lässt einen vermuten, wie schwer es ist, in diesen Situationen als
Eindringling, als ungebetener Gast in einem Familienkonstrukt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eine Kindsabnahme ist
ein extremer Gewaltakt für die betreffende Familie und man kann diese Maßnahme sicher nur nach langem Abwägen ergreifen.
In dem Moment, wo die Sozialarbeiterin sieht, dass Gitte trinkt, leitet sie alles in die Wege, versucht aber der Familie immer
noch eine Chance zu geben. Das ist eine unheimlich schwierige Gratwanderung. Alkoholismus ist in unserer Gesellschaft ein
großes Thema, das nach wie vor verharmlost wird. Die Szene, wo Gitte in der Disco umfällt, als das Baby weg ist, erzählt davon
in welcher Einsamkeit diese Frau lebt. Wie einsam diese Sucht macht.
Wie haben Sie überlegt, diese hochemotionale Szene der Übergabe des Kindes zu inszenieren?
ULRIKE KOFLER: Es war mir wichtig es so zu erzählen, wie es auch in der Realität ablaufen würde. Ich wollte diesen Moment in der Klarheit
zeigen, in der er passiert. In diesem Moment sind alle einsam. Die Mutter. Das Baby. Die Geschwister.
Die Rolle der Gitte spielt Marie Luise Stockinger und Sie hatten drei Kinder in wichtigen Rollen zu besetzen, die auch als
Geschwister gut zusammenpassen mussten. Wie verlief der Casting-Prozess, insbesondere die Auswahl von Emma Lotta Simmer als
Gina und auch die Dreharbeiten mit den Kindern?
ULRIKE KOFLER: Das Suchen und Finden der richtigen Kinder war ein recht langer Prozess, in dem mich meine Casterin Rita Waszilovics und
auch Paul Ploberger, der das Kindercasting organisiert hat, sehr unterstützt haben. Schlussendlich sind wir fündig geworden
und das Drehen mit diesen drei Kindern (und auch den Babys, die ja bei der Suche noch nicht mal auf der Welt waren) war für
mich ein ganz großes Glück. Wir waren gut vorbereitet, wir hatten genug Betreuungspersonen und mit Christine Hartenthaler
und Paul Ploberger zwei Kindercoaches; sie alle haben mich in der Regiearbeit mit den Kindern sehr unterstützt. Es hat mir
unheimlich viel Spaß gemacht, mit den Kindern zu drehen, sie sind so ehrlich, sie sind immer bei sich, immer authentisch.
Und ein wesentlicher Faktor für das Gelingen der Inszenierung waren sicher auch die Eltern der Spielkinder, auch sie haben
uns sehr unterstützt.
Mit Marie Luise Stockinger war es eine wunderbare Zusammenarbeit, sie hat sich ohne Hemmung und mit so viel Energie auf diese
schwierige Figur eingelassen und hatte auch eine sehr enge und humorvolle Bindung mit „ihren“ Kindern während des Drehs. Wir
haben alle zusammen sehr viel gelacht.
Gittes Familie lebt nicht in einer beengten Wohnung, sondern in einem sehr heruntergekommenen, aber großen Haus mit einem
Garten, wie ihn sich viele Kinder wünschen würden. Bringt dieses Haus die Zerrissenheit, die Ambivalenz der Situation für
die Kinder auf den Punkt?
ULRIKE KOFLER: Mir war es wichtig, auch helle und schöne Momente zu zeigen. Das Haus ist sehr heruntergekommen, hat aber für mich auch eine
wilde Schönheit gerade durch den Garten und dieser Ort lässt eine Freiheit spüren. Aus rein drehtechnischen Gründen wollte
ich auf keinen Fall in einer kleinen Wohnung drehen, aber auch aus visuellen Gründen. Ich wollte der Familie ein Stück Schönheit
und Freiheit geben.
Ein „messy“ Haus einzurichten war vielleicht auch eine lustvolle Arbeit?
ULRIKE KOFLER: Ja, absolut. Es war zunächst unheimlich schwierig, ein passendes Haus zu finden. Es ist durch puren Zufall im letzten Moment
geschehen. Gerald Freimuth hat das Szenenbild großartig umgesetzt. Es war tatsächlich ein lustvoller Prozess, aber natürlich
auch viel Arbeit. Das Haus war komplett leer, die schäbige Küche, die Tapeten
alles musste erst hineingebaut werden.
Das zentrale Kleidungsstück ist Ginas zu großer Badeanzug; er erzählt von zu wenig Geld, um einen passenden zu kaufen, von
zu großer Verantwortung für ihr Alter, vom Nicht-Schwimmen-Können,
Welche Aspekte haben Sie versucht, übers Kostüm zu transportieren?
ULRIKE KOFLER: Ich habe Monika Buttinger gebeten, alles Second Hand zu kaufen. Letztlich geht das leider nicht, weil man manche Stücke in
mehrfacher Ausführung braucht. Zum Badeanzug gibt es eine Beobachtung vor einigen Jahren, die überhaupt ein wichtiger Auslöser
für diesen Film geworden ist. Ich war in Litschau am Herrensee schwimmen, dort ist es sehr schön, durch das Theaterfestival
kommen viele eher gut situierte Leute hin, die sogenannte Bildungsschicht. Mir fiel ein Mädchen auf, das wie Gina etwa neun,
zehn Jahre alt war, sie trug Schwimmflügel und einen zu großen Badeanzug. Ich habe sie dann länger beobachtet und mich auch
gefragt, warum sie nicht schwimmen kann, sie war ganz alleine im Bad
So kam es zum Badeanzug und den Schwimmflügeln und
auch zur Idee des Schwimmenlernens am Ende.
Mit vielen Close-ups auf Details, Blicken auf Schattenbilder oder Fingerspiele, Perspektiven von der Schaukel aus
scheint
die Kamera sich einem kindlichen Blick anzunähern. Wie haben Sie mit Kameramann Robert Oberrainer die Bildsprache entwickelt?
ULRIKE KOFLER: Wir haben versucht, so viel wie möglich aus einer kindlichen Perspektive zu erzählen, immer wieder die Augenhöhe der Kinder
einzunehmen. Robert Oberrainer, mit dem ich schon lange zusammenarbeite, arbeitet sehr intuitiv und hat sich die Fähigkeit
bewahrt, einen kindlichen, verspielten Blick einzunehmen. Oft sagt er, wenn wir schon fertig sind, „Komm, das drehen wir noch
schnell“, nicht immer zur Freude des restlichen Teams
Aber oft sind es auch Bilder, die dann im Schnitt bleiben.
Für den Schnitt zeichnet dieses Mal Bettina Böhler. Haben Sie als sehr erfahrene Editorin, die Montage zur Gänze abgegeben?
ULRIKE KOFLER: Ich kannte Bettina Böhler von ihren Arbeiten, jedoch nicht persönlich. Es war eine tolle Zusammenarbeit mit ihr. Den Schnitt
abzugeben, ist für mich schon eine Herausforderung, aber auch unerlässlich.
Sie zeigen eine fragile Familiensituation voller Ambivalenzen, aber auch eine öffentliche Infrastruktur, die Hilfe leistet.
Wie wichtig war es Ihnen, auch diesen Aspekt zu zeigen?
ULRIKE KOFLER: Ich wusste von diesen Einrichtungen aufgrund eigener Erfahrungen. Ich habe auch das Drehbuch vor dem Dreh von einer in diesen
öffentlichen Strukturen tätigen Person lesen lassen und dann auch noch Details in den Abläufen korrigiert. Wenn man so eine
Geschichte erzählt, spielt das Jugendamt natürlich auch eine große Rolle. Die Instanz, die von den betroffenen Familien meist
nicht geschätzt wird, aber eben dennoch sehr wichtig ist.
Gina fragt gegen Ende des Films nach der Bedeutung des Wortes Schicksal. Auch ihre Oma hat für ihr viertes Kind nicht selbst
Sorge getragen. Was die Großmutter „So ist das halt bei uns“ nennt, hat auch mit der Weitergabe von Traumata zu tun. Wie sehr
hat Sie auch die Frage beschäftigt, wie Kinder dies überwinden können?
ULRIKE KOFLER: Das eine ist das Überwinden von Traumata, das andere sind praktische Hilfestellungen, damit Mängel wie Armut und Verwahrlosung
behoben werden können. Eine junge erwachsene Person, die in der eigenen Kindheit von den Eltern nichts bekommen hat, kann
auch nichts weitergeben. Ich glaube, dass es Möglichkeiten gibt, diesem Hamsterrad zu entkommen, auch wenn es schwer ist,
aber es bedarf der sozialen Unterstützung und einer offenen, wachen Gesellschaft.
Interview: Karin Schiefer
Juni 2024