Veras Vater Giuliano Gemma ist eine italienische Leinwandlegende. Seinen Töchtern bescherte er eine Kindheit in Glanz und
Glamour, aber auch die Bürde der Berühmtheit. In Tizza Covis und Rainer Frimmels neuem Film VERA wird die Protagonistin in einem römischen Vorort in einen harmlosen Auffahrunfall verwickelt, der in der Folge zwei konträre
Realitäten der Stadt kollidieren lässt. Gutmütig, großzügig, weltfremd bewegt sich Vera durch die beiden Welten voller Hinterhalte
und Fallen und bleibt trotz vieler Zweifel unbeirrbar bei sich selbst.
Die Welt der der Bühne, der Darsteller- und Selbstdarsteller:innen liefert meist den erzählerischen Hintergrund für Ihre Filme.
In VERA steht eine Figur im Mittelpunkt, die Glamour und Glanz des italienischen Kinos einer bestimmten Epoche erlebt hat.
Wer ist Ihre Protagonistin Vera? Wie sind Sie ihr nähergekommen?
TIZZA COVI: Wir sind Vera Gemma 2015 bei den Dreharbeiten zu unserem Film Mister Universo begegnet, da sie zur selben Zeit an einem Dokumentarfilm über Zirkusartisten gearbeitet hat, zu Ehren ihres Vaters Giuliano
Gemma, ein in Italien sehr beliebter Schauspieler. Er ist zwar hauptsächlich für seine Rollen in Westernfilmen bekannt, hat
aber auch einige Filme im Zirkusmilieu gedreht. Als sie uns vorgestellt wurde, empfand ich sie als sehr befremdlich und wir
haben nur ein paar wenige Worte ausgetauscht.
Warum hat sie Sie nicht interessiert?
TIZZA COVI: Die Welt, die sie auf den ersten Blick dargestellt, hat mich noch nie interessiert, ihr offen zur Schau gestellter Reichtum
mit schicken Markenklamotten und dazu passendem Handtäschchen, ihre künstlich erhaltene Jugendlichkeit, ihr Hang, sich immer
und überall selbst zu fotografieren, um es später zu posten, eigentlich alles Dinge, die ich immer gnadenlos verurteile. Zwei
Wochen später sind wir dann bei einem Abendessen in einem Zirkuswagen neben ihr gesessen und wir haben uns wunderbar unterhalten,
denn sie hat eine sehr kritische und unbarmherzig ehrliche Art und Weise, die Dinge beim Namen zu nennen. Das war eine gute
Lektion und wieder einmal die Bestätigung, dass man immer hinter die Kulissen schauen muss. Ich bin dann sehr schnell ihrer
Faszination erlegen, habe sie öfter in Rom besucht, wo sie lebt, habe ihre Autobiografie gelesen und die Filme ihres Vaters
gesehen. Eines Tages habe ich ihr dann eröffnet, dass ich gerne ein Drehbuch über sie schreiben würde, das auf ihren Erzählungen,
den vielen Interviews, die ich mit ihr geführt hatte, ihrer Autobiografie und meinen Blick von außen basieren würde.
Wie stand Vera zur Tatsache, dass Sie ein Drehbuch schreiben wollten?
TIZZA COVI: Ich denke sie war am Anfang wenig überzeugt davon, dass ich das wirklich durchziehen würde. Sie kennt das Showbusiness allzu
gut und weiß genau, wie viel versprochen und wie wenig eingehalten wird. Ich habe mich aber nicht von diesem Vorhaben abbringen
lassen, denn sowohl Rainer als auch ich waren überzeugt, dass sie eine perfekte Hauptdarstellerin sein würde, denn sie ist
nicht leicht einzuordnen, kann sich sehr gut zurücknehmen und kommt mit dem Minimum an Gesten aus; weiters fällt es ihr leicht,
zu improvisieren und sich in jede Situation einzufühlen. Beim Dreh war sie dann vollkommen unkompliziert und hatte einen großen
Spaß, in den absurdesten Pelzmänteln in die Vorstadt zu fahren und sich dem auszusetzen, was dort passieren würde. Sie hat
sich nie über etwas beklagt, außer vielleicht über den Zeitdruck, denn wir mussten meist sechs Tage in der Woche drehen, weil
der nächste Lockdown bereits vor der Tür stand.
Am Anfang des Films passiert ein Autounfall, der die Geschichte in Gang bringt. War diese Kollision zweier unterschiedlicher
Welten der Motor dieses Films oder war es vielmehr Veras facettenreiche Lebensgeschichte?
TIZZA COVI: Zum Thema Autounfall gibt es eine lustige Vorgeschichte, die ich schon länger filmisch aufgreifen wollte. Denn im Zuge von
Recherchen war ich viel mit Regionalzügen südlich von Neapel unterwegs. Dabei ergab es sich, dass ich einen Mitreisenden nach
seinem Beruf gefragt habe und er sagte, dass er Versicherungsbetrüger sei. Er erklärte mir, dass er mit Scouts z. B. auf Fußballplätzen
arbeitet. Wenn sich jemand verletzt, geht der Weg nicht direkt ins Spital, sondern man setzt das Kind in ein Auto, fingiert
einen Unfall und holt sich damit gutes Geld von der Versicherung. Da Vera aufgrund ihrer Gutgläubigkeit schon sehr oft betrogen
worden ist, fand ich, dass diese beiden Geschichten gut zusammenpassen würden.
Beim Autounfall prallen auch die Vorstadt San Basilio und das hippe Trastevere – zusammen. Wie sehen Sie diesen Kontrast?
RAINER FRIMMEL: Trastevere hat sich von einem Arbeiterquartier zu einem sehr reichen Viertel entwickelt, das mittlerweile von Touristen überrannt
wird. San Basilio hingegen ist heute noch ein Arbeiterviertel, das wahrscheinlich noch nie ein Tourist betreten hat.
Wir wollten jedenfalls in einem Vorstadtviertel Roms drehen, haben uns viele angesehen und sind doch wieder bei San Basilio,
wo wir schon La Pivellina gedreht haben, geblieben. San Basilio ist uns vertraut und außerdem liegen dort die Kirche und der
Fußballplatz, die beide eine große Rolle hätten spielen sollen, direkt nebeneinander. Am Ende kommen leider beide Orte kaum
vor, aber das passiert einfach im Laufe eines Projekts, wenn man versucht, alles so dokumentarisch wie möglich zu halten.
Nach Zirkus, Theater und Musik ist es diesmal das Kino selbst, das den Kontext liefert. War es auch Ihnen ein Anliegen, die
Welt des Kinos als Welt des Scheins und mit Ihrer filmischen Suche nach Wahrhaftigkeit in Spannung zu setzen?
TIZZA COVI: Dieses Spannungsverhältnis hat uns wirklich fasziniert und Vera hat uns viel Stoff zur glamourösen Facette des Kinos geliefert.
Es gibt köstliche Geschichten von Vera mit Sergio Leone, mit dem ihr Vater sehr gut befreundet war. Andere mit Pier Paolo
Pasolini; Vera war lange mit Franco Citti zusammen, der in Mamma Roma und Accatone die Hauptrolle spielt. Wir haben einiges
davon eingebaut, vieles ist dann leider dem Schnitt zum Opfer gefallen, denn zu betonen, dass all die großen Persönlichkeiten
des italienischen Kinos einen selbstverständlichen Platz in ihrem Leben hatten, war gar nicht nötig, um Vera strahlen zu lassen.
Unsere Art, Kino zu machen, steht dazu natürlich in einem starken Kontrast, weil wir am Set immer noch zu zweit oder maximal
zu dritt arbeiten und nach wie vor versuchen, mehr einer menschlichen als einer dramaturgischen Wahrheit näher zu rücken.
VERA ist auch eine Hommage an das Medium Film: neben den Filmzitaten gibt es das außergewöhnliche Cinema dei Piccoli, einen
Fuhrpark an Fahrzeugen, die in Filmen verwendet worden waren, die Villa am Meer, in der Amarcord von Fellini gedreht wurde
TIZZA COVI: Rom ist immer noch eine Stadt des Kinos. Man begegnet ihm an jeder Straßenecke. Sei es die Menschen, die als Statisten bei
Fellini mitgewirkt haben oder die Orte, die man als Drehorte von De Sica oder Antonioni wiedererkennt. In Rom kann man dem
Kino nicht entkommen.
RAINER FRIMMEL: Reminiszenzen an eine vergangene Kultur spielen bei uns oft eine Rolle. Es freut uns, wenn Kinder Stummfilme anschauen, sie
tun es aber in Wirklichkeit kaum mehr. Die privaten Super-8 Filme der Familie Gemma mit Giuliano als Privatmenschen, das sind
Filme, die wären sonst vielleicht in einem Container verschollen geblieben.
TIZZA COVI: Veras Kinobesuch mit Manuel im Cinema die Piccoli ist tatsächlich sein erster Kinobesuch. Wenn man sich etwas ausdenkt und dann die Gelegenheit bekommt, diese Idee dokumentarisch
festzuhalten, dann finden wir das besonders schön.
Wurde der Drehprozess von VERA stärker als bisherige Filme aufgrund dieses geschriebenen Drehbuchs weitergetragen oder hat
die Protagonistin noch viel im Moment des Drehs eingebracht?
TIZZA COVI: Weitergetragen wurde die Geschichte dieses Mal durch das Drehbuch. Wir wollten einmal die Arbeit mit einer strengeren Dramaturgie
ausprobieren. Es hat geschriebene Dialoge gegeben, die aber keine der Protagonist:innen zum Lesen bekommen hat. Wir haben
die Szenen gemeinsam besprochen, manchmal haben wir uns sehr genau, manchmal gar nicht ans Drehbuch gehalten. Wir wollten
dieses Mal austesten, wie weit man unter diesen Umständen noch den Zufall einfließen lassen kann.
Ein großes Thema von VERA ist die Schönheit
TIZZA COVI: Die Frage, was wirklich schön ist und wer das Recht hat, das zu definieren ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst.
Für uns beantwortet sie sich ganz einfach: Ein schöner Mensch ist jemand, der sich mit dem Leben auf Erden wirklich auseinandersetzt
und sich dadurch eine ganz eigene, unverwechselbare Persönlichkeit aufbaut. Im Film-Business definiert sich Schönheit bekanntlich
anders und führt speziell Schauspielerinnen in eine absolute Auswegslosigkeit: wenn man älter wird und sich nicht operieren
lässt, werden die guten Rollen rar und man gehört schnell zum alten Eisen, und wenn man zur Chirurgie greift, um jung zu bleiben,
und dies fällt auf, dann wird man dafür verachtet. Wie man’s macht, ist es falsch. Vera selbst hat lange darunter gelitten,
dass sie seit frühester Kindheit nie dem gängigen Schönheitsideal entsprochen hat.
RAINER FRIMMEL: Wir sprechen hier allerdings von einem relativen Alter. Bei Vera hat es schon früh angefangen, dass sie glaubte, ihre Schönheit
zu verlieren.
TIZZA COVI: Das Besondere an Veras Geschichte ist der immer wiederkehrende, unerträgliche Vergleich mit ihrem berühmten, wunderschönen
Vater. Es muss schrecklich gewesen sein, wiederholt zu hören, dass die Tochter leider nicht so schön wie der Vater ist.
Es ist eines der Hauptthemen in VERA, die ständig an sich zweifelt und das Gefühl hat, es zu weniger als der Vater gebracht
zu haben. Dazu kommt der Fakt, dass sie ständig ausgenutzt wird, weil man sich mit ihrem berühmten Namen schmücken will. Das
ist das Schicksal vieler Kinder von Berühmtheiten.
RAINER FRIMMEL: Der Vater war nicht nur was ihre Schönheit, sondern auch was ihre Karriere betrifft, eine Bürde. Insofern ist es interessant,
dass auch Asia Argento im Film mitwirkt und von ihren Erfahrungen als Tochter eines berühmten Regisseurs erzählt.
Wie oft in Ihren Filmen erzählt VERA von der Medaille und ihrer Kehrseite zugleich.
Alles, wovon die Menschen aus San Basilio träumen, ist Vera eine Last bei ihrer Suche nach ihrer eigenen Identität.
TIZZA COVI: Ich sehe darin das Paradoxon unserer Welt, was ich nicht habe, möchte ich und was ich habe, ist nicht gut genug.
RAINER FRIMMEL: Letztlich geht es ums Geld, nach dem sie alle streben. Für Daniel, dem Vater des Jungen mit dem gebrochenen Arm, sind seine
Betrügereien eine Überlebensstrategie.
TIZZA COVI: Es ist mir ganz wichtig, zu betonen, dass ich Daniel in keiner Weise als böse Figur zeichnen wollte. Daniel ist in einer
sehr schwierigen Situation, er hat kaum Geld, muss für sein Kind und seine Mutter sorgen, hat seine Frau verloren. Er fügt
einer Person einen Schaden zu, weil er davon ausgeht, dass es für diese nicht allzu große Konsequenzen haben wird. Wir haben
ihm auch Raum gegeben, um zu zeigen, dass er ein liebevoller Vater ist.
Erst die Ambivalenz macht aus ihn einen interessanten Hauptprotagonisten.
Gennaro sagt an einer Stelle zu Vera: „Hätte ich einen Vater wie du gehabt, wären mir so viele offene Türen offen gestanden“.
Vera entgegnet: „Für mich haben sich deshalb sehr viele Türen geschlossen“. Wie sehr ist es auch eine Situation, mit der Männer
und Frauen anders umgehen?
TIZZA COVI: Für Vera ist es schwer, das Gefühl, nicht auf der Höhe des Vaters zu sein, abzulegen. Als ich Gennaro, der ein Freund von
Vera und Model ist, kennenlernte, fand ich es sehr interessant festzustellen, dass er unheimlich darunter litt, nur für seine
schöne äußere Erscheinung beurteilt zu werden. Genauso interessant fand ich bei Daniel, dass er seinen inneren Kampf zwischen
Gut und Böse auf seinen Körper tätowieren musste, um zu visualisieren, wie es in ihm drinnen ausschaut. Vera hat sich durch
ihre Schönheitsoperationen ihre eigene Schönheit erfunden, auch ihr provokanter Kleidungsstil ist ein Teil dieser Selbstdarstellung.
So ist sie und sie steht dazu. Berührend finde ich ihre Aussage, dass sie in Trans-Personen ihr Schönheitsideal findet und
gerne so ausschauen möchte.
Veras operierter Körper erzählt ebenso eine Lebensgeschichte wie die perfekt trainierten Körper von Gennaro und Daniel, der
noch dazu stark tätowiert hat. Wie wichtig war für diesen Film die Körperlichkeit beim Casting?
TIZZA COVI: Körperlichkeit ist natürlich immer ein essentielles Thema. Für Daniel haben wir uns nicht nur wegen seiner Tattoos entschieden,
sondern auch wegen seiner Art sich zu bewegen, zu gestikulieren, zu sprechen. Er ist in dieser Vorstadt geboren und hat
die Sprache und Körpersprache der Vorstadt verinnerlicht, im täglichen Überlebenskampf ebenso wie in der Liebe zu seiner Familie.
Daniel ist ein ganz authentischer Mensch und konnte alles, was seine Figur durchmachen musste, überzeugend nachempfinden.
RAINER FRIMMEL: Die anderen Darsteller:innen, die man im Film mit Vera sieht, kommen aus einem Teil ihrer Welt: der Agent, der Schönheitschirurg,
der Friseur, die Castings, das ist Teil ihrer Welt. Aber sie hat sich immer auch für die andere Welt interessiert, denn sie
hat sie sich meist in vollkommen mittellose Männer verliebt und sich für ihre Lebensumstände interessiert.
TIZZA COVI: Was uns bei Vera auch sehr entgegen gekommen ist, ist ihre gute Art, mit Kindern umzugehen. Sie hat sich für den Buben, der
Manuel spielt, wirklich Zeit genommen. Da macht sich auch der Vorteil unserer chronologischen Drehweise bemerkbar. Die allererste
Szene, die der Bub gespielt hat, war der Autounfall. Da war er wirklich noch verschüchtert, hatte Angst vor Vera und wusste
nicht, wohin er schauen sollte. Zum Ende des Films, wenn sie dann den großen Vogelkäfig aufstellen, sind sie ein eingeschweißtes
Team. Ich finde es extrem schön, im Spielfilm dokumentarische Emotionen festhalten zu können. Das ist etwas, was uns ganz
besonders antreibt, weil es uns fasziniert, immer überrascht und nie unseren Vorstellungen entspricht.
Ihr Blick auf die Milieus ist in VERA auch mit einer gewissen Ironie versehen: der untalentierte Regisseur Gennaro, das anmaßende
Verhalten der Regisseure beim Casting, aber auch die Nachbarschaft im Wohnblock der Großmutter. Hat es Spaß gemacht, sich
ein bisschen lustig zu machen?
RAINER FRIMMEL: Auf jeden Fall. Besonders da, wo wir uns über eine Welt lustig machen, die ja noch dazu unsere ist. Und natürlich auch über
andere Milieus. Die Szene, wo wir mit Vera spazieren gehen und sie plötzlich ein Mann anspricht, ob er mit ihr als der Tochter
von Giuliano Gemma ein Selfie machen könne, ist wirklich passiert. Und es war tatsächlich so, dass er nicht aus dem Haus treten
durfte, weil er eine elektronische Fußfessel hatte. Im Viertel, in dem wir gedreht haben, ist die Kriminalitätsrate sehr hoch.
Wenn sich die Gelegenheit bietet, gewisse Details mit einem Schuss Ironie zu zeigen, dann ist das ein großes Geschenk.
TIZZA COVI: Die Darstellerin der Großmutter muss im echten Leben an drei Dealern vorbei, wenn sie einen Weg hat. Das muss man sich mal
vorstellen. Sie ist mit allen Wassern gewaschen und alles andere als eine „klassische“ Oma. In der Vorstadt geht es immer
ums Überleben und Corona hat alles noch einmal verschärft. Dass es dazu eine gewisse Kreativität braucht, kann man ohne erhobenen
Zeigefinger zeigen.
Eine präsente Rolle spielen dieses Mal die (populären) Lieder in Szenen wie in der Pizzeria oder mit Asia Argento. Hat die
Arbeit an Ihrem letzten Film Aufzeichnungen aus der Unterwelt die Sensibilität für diese Art der Musik geschärft?
TIZZA COVI: Wir halten auch in VERA daran fest, in der Handlung keine Filmmusik zu verwenden. Musik gibt es nur, wenn sie im Bild vorkommt
und dieses Mal bei den Anfangs- und Endtiteln. Das ist schon eine große Neuigkeit. VERA ist ein so italienischer Film, dass
wir dieses Mal ungern darauf verzichtet hätten. Der Anfangssong ist den Menschen gewidmet, die sich zwar in den Spiegel schauen,
sich aber nicht erkennen, den Vergessenen, denen, die immer in Schwierigkeiten stecken und den Bösen, die eigentlich gar nicht
so böse sind – er beschreibt fast den ganzen Film. Die beiden traditionellen Lieder in der Handlung sind in der Tat eine Art
Verweis auf Aufzeichnungen aus der Unterwelt. Ob Rom, Wien, Bangkok oder New York – jede Stadt hat ihre Populärkultur, die
meist im Wirtshaus stattfindet.
RAINER FRIMMEL: Vera begegnet in der Pizzeria möglicherweise einem Lied, das nicht ihrer Welt entstammt, es hat aber etwas spontan Verbindendes.
Das sind Lieder, die einfach schön sind und die uns alle berühren können. Das Lied, das Vera mit Asia singt, ist auch ein
sehr populäres. Ich finde es schön, dass solche Musik keine Grenzen zwischen Milieus zieht, sondern etwas sehr Verbindendes
hat.
Wie hat sich Veras Filmfigur im Laufe des Prozesses entwickelt? Sie spielt eine sehr leichtgläubige Person, die immer wieder
auf die Nase fällt. Haben Sie auch mal daran gedacht, dass sie sich ändern wird, misstrauischer wird?
TIZZA COVI: Nein. Vera sagt über sich selbst, dass sie immer wieder demselben Irrtum unterliegen wird. Sie will geliebt werden, und macht
den Fehler, zu versuchen, diese Liebe immer mit großzügigen Geschenken zu festigen. Und da ist noch was anderes: Viele Menschen
versuchen, von ihr zu profitieren. Vera hat uns von Anfang an gesagt, dass wir, wenn wir mit der Kamera mit ihr unterwegs
sein werden, Acht geben sollen, denn alle werden versuchen, uns auszunehmen.
Interessant ist ja auch, dass sie einen Vornamen trägt, der auf die Wahrheit und das wahre Leben verweist, das Ende von VERA
ist ein ambivalentes und scheint auch ein fiktionalisiertes zu sein?
TIZZA COVI: Soviel zur Fiktionalisierung: Vera ist tatsächlich einmal von einem ihrer Verlobten in einem Hotelzimmer betäubt worden und
hat zwei Nächte lang geschlafen. In der Zwischenzeit wurde ihre Wohnung ausgeräumt. Als es nach der Anzeige zur Gerichtsverhandlung
gekommen ist, hat sie alles wieder zurückgezogen. Natürlich haben wir uns von dieser Geschichte inspirieren lassen. Gleichzeitig
ist Vera inzwischen eine ganz andere Person als damals, auch anders als die Filmfigur, die sie spielt. Aber in unserer Arbeit
vermischt sich Realität und Fiktion immer so sehr, dass wir am Ende selbst nicht mehr wissen, was wahr ist und was wir erfunden
haben.
RAINER FRIMMEL: Wir schöpfen daraus, dass alle Figuren aus ihrem emotionalen Gedächtnis heraus handeln und etwas spielen, was sie in Wirklichkeit
erlebt haben. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt für unser Arbeiten. Das gilt auch für Walter, wenn er seine Messergeschichte
erzählt und unbewusst auf Erlebtes zurückgreift, wenn er attackiert wird.
Gerade deshalb können unsere Figuren so authentisch wirken.
TIZZA COVI: Die Szene, wo Vera in der ausgeräumten Wohnung aufwacht, war gerade deshalb für uns so faszinierend, da in ihr eine innere
Erinnerung wach geworden ist. Sie hat alles schon einmal durchgemacht und musste es nun noch einmal durchmachen. Aber es war
uns am Ende besonders wichtig, dass es kein hoffnungsloses Ende ist. Wir erzählen, dass es Menschen gibt, die immer weitermachen
werden und nie aufgeben werden: denn das ist etwas, was jeder Mensch kann und machen soll.
RAINER FRIMMEL: In Veras letzten Gang kann man sehr viel hineininterpretieren.
Was genau, bleibt bei uns wie immer den Zuschauer:innen überlassen.
Interview: Karin Schiefer
Juli 2022