INTERVIEW

Das große Wort Nachhaltigkeit

 
Die europäische Fahne weht für respektierte Rechte und respektablen Wohlstand. Internationale Konzerne färben ihr Image gerade grün und feministisch ein. Sudabeh Mortezai interessiert sich in EUROPA für die weiten Schattenzonen dahinter. In einem albanischen Tal treffen das eine und das andere Europa aufeinander und legen den Preis für Erfolg und den angestrebten Weg in die Zukunft offen.

Die ersten beiden Einstellungen in EUROPA sind Blicke durch eine Windschutzscheibe: Der erste ein gewaltsamer Zusammenstoß zwischen einer Welt, die sich verschanzt und einer, die chancenlos ihre Ohnmacht erlebt, der zweite ein touristischer Blick zweier Neuankömmlinge aus dem Taxi auf eine fremde Stadt. War es Ihnen für diesen Langspielfilm ein Anliegen, die gläsernen Wände, die innerhalb des Kontinents Europa bestehen, ins Bewusstsein zu holen?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Das ist eine schöne Assoziation, die ich so bewusst nicht reflektiert hatte. Ein Wort, das mir in der Frage gefällt, ist „verschanzen“. Denn das spricht Vieles an, was wir EU-Staaten gerade machen. Wir verschanzen uns gegen eine gefährliche Welt „da draußen“, die aber etwas mit uns zu tun hat und vor der wir uns in Wirklichkeit gar nicht verschanzen können. Es gibt ein Gefälle auch innerhalb Europas, um das es im Film geht – um die Machtbeziehung in einer Hierarchie von reicheren und weniger entwickelten Ländern innerhalb des Kontinents. Ich mag das Bild der gläsernen Wände, auch wenn es vielleicht nur unterbewusst so intendiert war. Die Thematik beschäftigt mich schon länger – die Bankenkrise, die Wirtschaftskrise in Griechenland, die Trojka – sie haben ein extremes Ungleichgewicht innerhalb eines vermeintlich egalitären Systems sichtbar gemacht. In gewisser Weise wurde bewusst, dass Kolonialismus nicht wirklich aufgehört hat, nicht einmal innerhalb unseres Kontinents. Banken werden gerettet, bei Menschen sieht es anders aus. Daraus ging ein Grundimpuls hervor, einen politischeren Film zu machen.
 
 
Mit dem Titel EUROPA verbindet sich eine doppelte Assoziation: da ist einerseits ein erstrebenswertes europäisches Wertegebilde, es heißt aber auch die Firma, für die Ihre Protagonistin agiert, Europa. Das ist ein internationaler Konzern, der sich in Albanien scheinbar unkontrolliert Raum und Macht angeeignet hat und der die hochgehaltenen europäischen Werte ohne Skrupel verrät. Welche Ambivalenzen im Konstrukt Europa wollen Sie thematisieren?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Der Titel ist eine bewusst gewählte Provokation, die auch weh tun soll. Wir reden viel über unsere Wertegemeinschaft und mein Eindruck ist, dass viele linke Intellektuelle aus Angst vor rechten Narrativen zunehmend in einen unkritischen Europapatriotismus verfallen, und das halte ich für problematisch. Diese Bereitschaft fehlt mir zunehmend im Diskurs. Die Konflikte, die mein Film im Kern darstellt, sind natürlich globaler Natur und beschränken sich nicht auf Europa. Es geht um unser neoliberales System, in dem Menschen ebenso wie die Natur und der ganze Planet ausgebeutet werden. Alles ist so sehr vom Profitdenken beherrscht, dass nicht nach echten Lösungen gesucht wird, sondern man versucht, ein System der Ausbeutung über Green-Washing oder Woke-Washing, mit schönen Versprechungen zu verbrämen. Diese Heuchelei wollte ich aufmachen.
 
 
Sie haben sich ein Land des Kontinents ausgesucht, über das man besonders wenig weiß. Warum fiel Ihre Wahl auf Albanien?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Ich habe ein ärmeres, weniger entwickeltes Land gesucht, das Teil des Kontinents ist und danach strebt, Teil des Westens zu werden. Gerade die Länder mit kommunistischer und diktatorischer Vergangenheit haben eine starke Sehnsucht nach dem Westen und verfallen oftmals schnell und unreflektiert ins andere Extrem des neoliberalen Kapitalismus mit allen ihren Schattenseiten. Albanien ist das perfekte Land, weil die Bevölkerung unglaublich proeuropäisch und prowestlich ist, gleichzeitig ist es als Land eine terra incognita, die höchstens mit einigen Klischees – albanische Mafia, Sworn Virgins, Blutrache – assoziiert wird. Das ist Teil eines Exotismus, es sind überkommene Dinge, die es nur noch in sehr entlegenen ländlichen Regionen gibt. Mich interessiert vielmehr das dynamische Land im Umbruch, das eine harte Geschichte unter der kommunistischen Diktatur von Enver Hoxha durchgemacht hat, und auch sein holpriger Weg in den Kapitalismus, der bisher mit Korruption und einem wirtschaftlichen Zusammenbruch einherging. Man sieht den gesellschaftlichen Wandel, wie das Land versucht, all das hinter sich zu lassen, sich neu zu erfinden.
 
 
Es zeichnet Ihre Filme immer wieder aus, dass Sie in einem semidokumentarischen Setting arbeiten. Wie haben Sie sich Ihr eigenes Bild von der aktuellen albanischen Gesellschaft geschaffen?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Ich bin so wie immer vorgegangen: mit total offenem Geist einfach das Land bereisen, Leute kennenlernen und aus diesen Erlebnissen und Erfahrungen auch Teile der Geschichte und ihre Charaktere finden. Ich war gemeinsam mit Mehrdad Mortezai, dem Produzenten des Films, der auch mein Bruder ist, ab 2019 viele Male in Albanien; jedesmal sind wir tiefer eingetaucht und haben versucht, Beziehungen aufzubauen. Bei unserer ersten Albanienreise war es der Jahreszeit geschuldet, dass wir uns eher im südlichen Teil des Landes bewegten. Wir sind u.a. in Poliçan gelandet, einem Ort, wo unter Enver Hoxha eine riesige Waffen- und Munitionsproduktionsstätte aus dem Boden gestampft wurde. Heute ist es eine ebenso große Industrieruine, die von der Natur überwuchert wird. Ein Teil davon ist im Film zu sehen. Und die ganze Anlage gab es ein weiteres Mal in einem mehrere Hektar großen Bunker im Berg. Enver Hoxha war so paranoid, dass er hunderttausende Bunker im Land hatte bauen lassen. Zur Landesverteidigung sollte auf vier Albaner ein Bunker kommen und es sollte permanent die Möglichkeit bestehen, genügend Waffen zu produzieren. Von dieser Anlage in einem gut versteckten Tal wurde ein „Duplikat“ in den Berg hineingebaut, dass man im schlimmsten Fall die Produktion, aber auch Krankenhaus und Schulen dorthin verlagern konnte. Dieses megalomane militaristische Konstrukt, das gerade verfällt, gab so ein starkes Bild ab. Ich wusste schnell, dass es eine Schlüssel-Location im Film werden würde. Dann hat eins das andere ergeben. Wie z.B. der Umstand, dass die Religionsgemeinschaft der Bektashi dort sehr stark vertreten ist. Ihr wichtigstes Heiligtum ist ebenfalls dort. Es ist alles sehr organisch entstanden.
 
 
Haben Sie auch Lebensgeschichten gefunden, die in Ihre Erzählung eingeflossen sind?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Eher Charaktere würde ich sagen. Ich habe nicht Geschichten der Leute ins Drehbuch eingebaut. Die Filmerzählung war geschrieben. Ich habe mich mehr für die Menschen und die Welt, in der sie leben, interessiert. Jetnor, der die zweite Hauptrolle spielt, ist ein gutes Beispiel: Wir haben in seinem Haus gedreht, seine Frau im Film ist auch seine Ehefrau, die Tiere im Film sind ihre Tiere. Er ist Bauer, für ihn habe ich die Geschichte natürlich adaptiert. Bis auf Lilith Stangenberg und ihren Vorgesetzten sind alle Darsteller:innen Laien. Es sind Menschen aus dem normalen Leben, für die ich die Rolle auch ein bisschen adaptiert habe: Lilli, die das B&B betreibt, ist ein gutes Beispiel; sie habe ich bei einer unserer Reisen kennengelernt und war richtig verliebt in sie: ihre Gastfreundschaft und Herzlichkeit hat etwas Überwältigendes. Ich fand es spannend für Beate, die Protagonistin, die ihre Emotionen immer unter Kontrolle hat, Figuren zu kreieren, die sie mit ihrer Natürlichkeit und Ehrlichkeit entwaffnen. Daher waren die Nebenfiguren sehr wichtig.
 
 
Was hat Sie zur Entscheidung bewogen, erstmals mit einer professionellen Schauspielerin als Hauptdarstellerin zu arbeiten? Wie fiel Ihre Wahl auf Lilith Stangenberg?
 
SUSABEH MORTEZAI:
Die Idee, mit einer professionellen Schauspielerin zu arbeiten, war relativ früh da. Wenn ich Beate wie bisher in meinen Filmen besetzt hätte, nämlich mit Menschen, die im Leben den Figuren ähnlich sind, dann wäre ich mit der Suche nach einer nüchternen Managerin vor einer schwierigen Aufgabe gestanden. Ich habe darüber nachgedacht, die Option aber bald verworfen. Beate ist jemand, die in ihrem Beruf ständig eine Rolle spielen muss, also machte es Sinn, diese Rolle mit einer Schauspielerin zu besetzen. Sie ist praktisch nie Privatperson, nur manchmal schimmert es durch, wenn ihre Contenance ein bisschen ins Wanken kommt. Ich fand es auch richtig, dass sie eine andere Energie hat im Spiel als die Laien. Sie kommt aus einer Welt, in der sie nicht natürlich sein darf.  Lilith Stangenberg hatte mich in Wild sehr beeindruckt, lange bevor die Idee zu Europa im Raum stand. Als Casting-Direktorin Eva Roth sie dann vorschlug und wir uns beim Casting kennenlernten, war ich schnell überzeugt, dass sie Beate sein muss. Sie ist in ihrer Arbeit radikal und unerschrocken, das gefällt mir sehr.
 
 
War es ein ungewohntes Arbeiten für Sie, mit einer professionellen Schauspielerin zu drehen?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Bis zu einem gewissen Grad schon. Wir mussten uns alle zusammenfinden – Lilith, die Laiendarsteller und ich. Die Leute, die zum ersten Mal vor der Kamera stehen, nehmen die Dinge, so, wie man sie ihnen präsentiert und hinterfragen nicht, wie es sonst sein könnte. Ein großer Unterschied bestand darin, dass ich meinen Darsteller:innen in der Regel das Drehbuch nicht zu lesen gebe. Ich gebe ihnen eine Idee von der Geschichte, wir sprechen viel über die Figuren und dann lasse ich sie improvisieren. Lilith hingegen kannte das gesamte Drehbuch, sie hatte auch Zeit, sich in die Rolle einzuarbeiten. Am Set mussten sie dann die Szenen gemeinsam improvisieren. Dass sie als Einzige eingeweiht war, war für ihre Figur wieder stimmig. Sie ist diejenige, die die Macht und die Kontrolle hat. Die anderen sind einfach in ihrer Situation, während Beate mit einer Hidden Agenda hineingeht.
 
 
Sie zeigen drei Welten von Frauen – die am Land lebenden Ehefrauen, deren Rolle vom Patriarchat diktiert ist und auch hingenommen zu sein scheint, eine Generation der Töchter, die nach einem westlichen, urbanen Leben strebt, und die Protagonistin, die für ein System steht, in dem Frauen Karrierechancen haben, die aber in einer extrem patriarchalen Welt schamlos unter Druck gesetzt wird. Welche Gedanken haben Sie zu Ihren Frauenfiguren beschäftigt?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Es hat mich auf mehreren Ebenen beschäftigt. Beate ist in einer Machtposition. Diese Macht hat aber einen Preis. Ich spiele damit, wenn Beate in ihrer floskelhaften Rede an der Uni von empowerment of young women redet, wie ihre Firma jungen Frauen eine Chance bieten will. Sie manipuliert die jungen Frauen, aber sie glaubt auch selbst daran, weil sie ja Macht hat. Seht her, ich habe es geschafft, ihr könnt das auch. Nur, was heißt Empowerment? Wenn eine Frau in einer menschenverachtenden oder destruktiven Struktur Macht bekommt, ist es dann besser, weil sie eine Frau ist? Natürlich nicht. Für mich ist das eine sehr wichtige Frage. Das macht ihr Handeln weder besser noch sympathischer, nur weil sie eine Frau ist. Große Konzerne schmücken sich gerne mit Frauenpower, Diversity, Klimaschutz … alle wichtigen Diskurse der Zeit werden gerne für Imagepflege verwendet. EUROPA erzählt davon, dass man – wann immer man entscheidet, in unserem hierarchischen, profitorientierten und eigentlich entmenschlichten System zu arbeiten – den Preis bezahlt. Egal ob Mann oder Frau. Wer bereit ist zu zahlen, kann aufsteigen. Für eine Frau kostet es noch viel mehr, in eine Position zu gelangen und diese zu halten. Die Figur der Besa als Vertreterin der jungen Generation, besonders der jungen Frauen, war mir besonders wichtig, weil sie eine Schlüsselposition im gesellschaftlichen Wandel einnehmen. Die jungen Frauen, mit denen ich in Albanien gesprochen habe, stehen positiv zu ihrer Familie und ihrer Kultur. Aber sie würden nicht zögern alles zu tun, wenn sich die Gelegenheit bietet, für eine große Firma zu arbeiten und Karriere zu machen. Auswanderung ist in Albanien ein großes Thema. Ich glaube, es leben mehr Menschen albanischer Abstammung außerhalb des Landes als im Land. 
 
 
Übersetzung spielt eine mehrfache Rolle. Sie machen Sie bewusst zum Bestandteil der Szenen in der ländlichen Gegend. Das Unverständnis auf beiden Seiten ist nicht nur ein sprachliches, sondern auch ein wertebezogenes. Die Länge, die Szenen durch das Übersetzen bekommen, ist gewiss eine gewollte. Die beiden Übersetzer:innen (der Guide und die studierende Tochter) gelangen auch in die klassische Rolle der Verräter. Was sehen Sie über den sprachlichen Aspekt hinaus in der Übersetzung?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Zur Präsenz der Übersetzung in den Szenen war klar, dass albanische Bergbauern im entlegenen Tal kein Englisch sprechen und dass es zu Situationen kommen muss, wo es Übersetzungen braucht. Jenseits des Realismus hat mich auch die Position dieser Figur interessiert. Traduttore traditore … oder auch native informant ist eine Bezeichnung aus den Postcolonial Studies und ist die Person, die nicht nur übersetzt, sondern dem eindringenden Kolonisator die autochthone Kultur nahebringt und ihm so ermöglicht zu holen, was er holen will. Albi, der Guide ist natürlich eine zwiespältige Figur. Und auch Besa übersetzt nicht nur Sprache, sondern vermittelt zwischen Beate und ihrer Familie oder vielmehr versucht sie mit allen Mitteln ihre Eltern von Beates Argumenten zu überzeugen.
Wir wussten, dass wir für die Übersetzungen im Material eine Lösung suchen mussten. Darüber habe ich mit der Editorin Julia Drack viel nachgedacht. Wir haben uns genau angesehen, wo wir bewusst die Doppelung der Übersetzung drinnen lassen, an anderen Stellen lassen wir es auch weg und es fällt gar nicht unbedingt auf. Wir haben auch bei der Untertitelung darauf geachtet, in wessen Wahrnehmung wir gerade sind. In der Szene mit dem Bektashi-Baba haben wir nur die Übersetzung untertitelt und bleiben so in der Wahrnehmung von Beate. Man erfährt erst durch den Übersetzer, was der Baba zu ihr sagt. So können wir die Wahrnehmung von der Figur, die spricht, zur Person, die zuhört, leicht verschieben. Wenn vermittelt wird oder Zweideutigkeiten vorkommen, haben wir die Übersetzung gelassen. Das ist z.B. in den Szenen mit der Tochter der Fall, die das, was gesagt wird, ein bisschen ausschmückt bzw. die Partei ergreift. In diesen Momenten geht es um mehr als bloße Übersetzung, vielmehr um die Positionen der Figuren im ganzen Gefüge.
 
 
Die männliche Hauptfigur, ein Bauer und Imker, der um keinen Preis weggehen will, ist tief in seinem Glauben verankert und vertritt etwas, was als klares Kontrastprogramm zur herrschenden Logik steht – er ist zufrieden, mit dem, was er hat. Könnte bei uns ja gerade Zeitgeist werden. Wie schmerzhaft ist es zu sehen, dass ein Weg eingeschlagen wird, von dem man weiß, dass es kein guter Weg ist? 
 
SUDABEH MORTEZAI:
Das große Wort Nachhaltigkeit ... Natürlich macht es mich traurig und wütend. Es gibt noch Lebensformen, sogar hier in Europa, die in einem nachhaltigen, bescheidenen, aber guten Leben bestehen, das auf Grundbedürfnissen und auf einem Grundglück beruht. Es ist ja eigentlich unsere Utopie, nicht so gierig und verschwenderisch zu sein. Es gibt Gemeinschaften, die das noch leben, unser Wirtschaftssystem zerstört sie aber. Wir gehen in den teuren Bio-Laden und kaufen fair trade. Wenn man in Albanien Gemüse oder Fleisch kauft, ist alles bio und regional, weil es dort gar keine industrielle Landwirtschaft und keine Massentierhaltung gibt und zwar aus Tradition. Sie leben unseren Traum, kleiner und nachhaltiger zu werden und es tut weh zu sehen, wohin die Reise für sie geht, wenn sie vom Westen aufgenommen werden. Ich will das jetzt auch nicht romantisieren, aber diese nachhaltige Lebensweise wird im Namen einer vermeintlichen Modernisierung der Logik der corporate Gier weichen. Es gibt in diesen Ländern Bewusstsein dafür und die Leute kämpfen für ihre Interessen, gleichzeitig gelangen sie schnell in ein Dilemma. Das sind Herausforderungen, vor denen sie stehen und das Spannungsfeld, in dem der Film spielt.
 
 
Die ländliche Landschaft und die bombastische Architektur in Tirana bringen diese extreme Spannung auf den Punkt, der die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt war. Wie wichtig war Ihnen Architektur als Zeuge des gesellschaftlichen Wandels?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Räume sind mir sehr wichtig. Es war klar, dass die Räume die jeweilige Welt auch reflektieren. Das ist nicht nur symbolisch, sondern auch in der Realität so. Die corporate Welt ist kalt und besteht aus Glas und Beton. Was man im urbanen Bereich als edel und chic empfindet, das lässt sich in Tirana finden. Es ist auch realistisch, dass ein Business-Setting, wie ich es erzähle, dort stattfindet. In einem visuellen Medium wie Film spielen die Business-Welt ebenso wie das Chaotisch-Archaische der alten Bauernhäuser eine inhaltliche Rolle. Wir haben am Land in den Häusern der Leute gedreht, auch wenn man nicht vergessen darf, dass da eine sehr subtile Arbeit der Ausstatterin Julia Libiseller drinnen steckt, bei der kaum zu erkennen ist, wo das Dokumentarische aufhört und das Gemachte anfängt. Es ist viel hergestellt, im Einklang und Spirit mit dem, wie es dort aussieht. Ähnlich ist es mit dem Kostüm. Wir arbeiten viel mit den Garderoben, die die Leute haben, aber es ist alles Gestaltung. Sie tragen nichts zufällig, sondern es ist klar gesetzt.
 
 
Haben Sie den Film zur Gänze in Albanien gedreht?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Ja. Wir hatten einen Vordreh und einen Hauptdreh. Der Vordreh fand im Sommer 2021 statt, weil jährlich im August das Wallfahrtsritual der Bektashi-Gemeinschaft auf dem Berg Tomorr stattfindet. Ich wusste, dass ich diese Wallfahrt einbauen wollte und habe Vater und Tochter daran teilnehmen lassen. Dieser Dreh fand mit einem minimalen Doku-Team statt. Im Frühjahr 2022 folgte dann der sechs Wochen lange Hauptdreh, der vollständig in Albanien abgewickelt wurde. Wir haben, wie ich das sehr gerne habe, fast nur chronologisch gedreht. Einzig die Szenen, die in Tirana spielen, haben wir gebündelt in die Mitte des Drehs gelegt. Wir haben darauf geachtet, dass wir als Team gemischt sind und nicht wie die Invasoren am Drehort einfallen, sondern viele Leute auch vor Ort miteinbeziehen. Ich habe extrem gern in Albanien gearbeitet und tue es gerne wieder.
 

EUROPA ist der erste Langfilm, den Sie mit Ihrer Firma Fratella-Films gedreht haben. Was waren die wichtigen Schritte für Sie?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Es war eine große Herausforderung, auch noch in einer neuen Rolle unterwegs zu sein. Produziert habe ich den Film gemeinsam mit meinem Bruder Mehrdad Mortezai, der die Hauptproduktionsarbeit geleistet hat. Mehrdad und ich haben 2020 unsere Produktionsfirma, Fratella gegründet und gleich einen Spielfilm gemacht, der zur Gänze im EU-Ausland gedreht wurde. Es war ein Kraftakt, den wir mit guter Arbeitsteilung gestemmt haben. Wenn ich Regie führe, will ich mich natürlich komplett darauf konzentrieren. So habe ich in der Finanzierungs- und Vorbereitungsphase in der Produktion mit angepackt. Sobald ich mich auf die Regie konzentrieren musste, konnte ich mich aus den Produktionsagenden rausnehmen.
 
 
EUROPA ist wahrscheinlich Ihr bisher am stärksten fiktionaler Film. Wie haben Sie dieses Arbeiten erlebt und wohin wird es Sie fürs nächste Projekt ziehen?
 
SUDABEH MORTEZAI:
Ich habe EUROPA nicht als einen so großen Sprung gegenüber bisherigen Arbeiten wie Joy oder Macondo erlebt. Es hat sich wie eine natürliche Entwicklung angefühlt, weil es mich gerade in diese Richtung gezogen hat. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, wieder stärker dokumentarisch zu arbeiten. Ich könnte mir sogar vorstellen, wieder einmal einen reinen Dokumentarfilm zu machen. Oder vielleicht auch wieder einen fiktionalen Spielfilm. Meine Arbeitsweise entwickelt sich aus dem Thema bzw. der Geschichte heraus. Ich muss dennoch sagen, im dokumentarischen Arbeiten ist schon mein Herz.
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juni 2023
 
 
 




«Wenn eine Frau in einer menschenverachtenden oder destruktiven Struktur Macht bekommt, ist es dann besser, weil sie eine Frau ist? Natürlich nicht. Für mich ist das eine sehr wichtige Frage.»