INTERVIEW

«Die größten Grenzen sind immer im Kopf.»

Zwei Frauen reicht es: mit dem Alleinsein ebenso wie mit der Bevormundung. Toni hat es immer schwer gehabt, Helene hatte als Schauspielerin Ruhm und Geld, doch jetzt über 80 setzt ihr die Einsamkeit so zu, dass sie beschließt, assistiert in der Schweiz einen Schlusspunkt zu setzen. Wie kommt sie allerdings pünktlich zum Termin, wenn ihre Nachkommen sie mit allen Mitteln daran hindern wollen? Sabine Hiebler und Gerhard Ertl schicken in ihrer Komödie 80 PLUS zwei konträre Temperamente auf einen Roadtrip, bei dem es ums Leben und den Tod, vor allem aber um den Trotz gegen eindimensionale Ideen vom Altern geht.
 
 
Anfang 80, Ihr erster Film zum Thema Alter und Selbstbestimmtheit ist beim Publikum 2011 auf große Resonanz gestoßen, auch deshalb, weil gesellschaftspolitisch Themen wie Sterbehilfe noch tabu waren und weil der Umgang mit dem Alter weniger in der öffentlichen Debatte präsent war. Was hat Sie motiviert, dieses Thema ein weiteres Mal aufzugreifen?
 
SABINE HIEBLER:
Bei all diesen Fragen ist gesellschaftspolitisch noch sehr viel Luft nach oben, da muss noch viel passieren, um diesen Lebensabschnitt wirklich individuell gestalten zu können. Nicht nur institutionell, sondern auch in unseren Köpfen. Die größten Grenzen sind ja immer im Kopf.
Und wir hatten einfach auch große Lust, ein so völlig ungleiches Duo auf die Reise zu schicken. In 80 PLUS geht es ja vor allem um eine späte Frauenfreundschaft.
 
GERHARD ERTL: Da sind zwei Schwerpunkte unserer aktuellen Filmarbeit zusammengekommen. Einerseits wollten wir schon lange ein Roadmovie realisieren, andererseits war für uns trotz der aktuell schon größer werdenden gesellschaftlichen und medialen Sichtbarkeit die Altersthematik filmisch noch nicht fertig erzählt. Daraus entstand dann die Idee einer Art Thelma und Louise-Geschichte im Alter.
 
 
Es steht in 80 PLUS bei Helene das Wort Entmündigung im Raum, dafür gibt es jetzt einen korrekteren Begriff „Erwachsenenschutz“. Was hat sich grundlegend in Ihrer aktuellen Recherche zum Thema Alter und Sterbehilfe über die Terminologie hinaus in diesen Bereichen bewegt?
 
SABINE HIEBLER:
Solche Begriffe zeigen natürlich schon auch, dass ein Umdenken stattfindet, aber egal wie es heißt, es bleibt äußerst heikel. Die Grenzen zwischen Schutz und Bevormundung sind einfach sehr fließend und Vieles ist leider eine banale Geldfrage. Und zur Sterbehilfe: Da hat sich in Österreich inzwischen zwar der gesetzliche Rahmen geändert, die Praxis hinkt aber völlig hinterher.  Da ist noch ein weiter Weg, bis das bei uns annähernd so funktioniert wie in der Schweiz oder in den Niederlanden.
 
GERHARD ERTL: Mit der Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs gegen das Verbot des assistierten Freitods ist die gesellschaftliche Brisanz dieser Thematik sichtbarer geworden und das Thema wurde dadurch ein großes Stück weiter aus der Tabuzone geholt. Dabei ist auch, scheinbar sehr zur Verwunderung von konservativen Politikern, klarer geworden, wie breit die Zustimmung in der Bevölkerung zur Sterbehilfe bereits ist. Durch den intensiveren politischen Druck ist spürbar Bewegung in die Thematik Alter gekommen: Es wird „normaler“ alt zu sein und das Alter als Lebensabschnitt wie alle andere auch zu sehen, zu behandeln und zu erleben. Das ist auch primär die thematische Stoßrichtung von 80 PLUS. Es geht in erster Linie um das Leben, um Freundschaft und um die Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung – gerade im Alter und im letzten Lebensabschnitt.
 
 
War es von Beginn an ein Wunsch, den Film im Genre der Komödie oder eher Tragikomödie zu verankern. Vielleicht gerade deshalb, weil es ums Thema Abschied vom Leben geht?    
 
SABINE HIEBLER:
Ja, der Plan war von Anfang an einen möglichst vitalen Film über das Sterben-Müssen und das Leben davor zu machen.
 
GERHARD ERTL:
Unseren zwei Protagonistinnen gelingt es gemeinsam wieder ins Leben zu finden, in die Spur ihres Lebens, die sie beide jeweils auf ihre individuelle Lebensweise schon verlassen haben oder verlassen mussten. Schon beim ersten Schritt in dieses Projekt war für uns klar, dass diese sich entwickelnde späte Freundschaft unserer beiden Heldinnen humorvoll über die Bühne gehen wird. Ein Buddy-Movie zweier sehr unterschiedlicher Frauen, die mithilfe der jeweils Anderen frische, ungeahnte Perspektiven in ihr Leben bringen.

 
Zwei Frauen beschließen, ins Auto zu steigen und sich nichts mehr vorschreiben zu lassen. Welche Möglichkeiten bietet da das Genre des Roadmovies?
 
GERHARD ERTL:
Dieses Genre kreist ja immer um das Thema Freiheit und Selbstbestimmung und beschreibt deren Möglichkeit oder Unmöglichkeit. In unserem Fall ist es den beiden Frauen möglich, sich von Zwängen und Belastungen, die sie vor dem Antritt oder am Beginn ihrer Reise noch einschränken, zu lösen und freier in ihrem Leben zu werden.
 
SABINE HIEBLER: Und unsere beiden Heldinnen haben diesbezüglich Einiges zu erkämpfen, viele Grenzen zu überwinden: innere wie äußere.
 
 
80 PLUS beginnt mit einer Rahmenhandlung, die eingangs den Schluss nahelegt, dass für die beiden Protagonistinnen im Verlauf der Geschichte etwas schief gegangen ist. Was hat Sie bewogen, den Film als Rahmenhandlung zu erzählen?
 
GERHARD ERTL:
Einen Teil der Schluss-Sequenz vorzuziehen, der nur verrät, dass zwei erstaunte ältere Frauen von einem Polizei-Aufgebot durch Zürich gejagt werden, fanden wir dramaturgisch spannend und stimmig für den Einstieg in unser Roadmovie.
 
SABINE HIEBLER: Wir wollten darauf neugierig machen, was mit den beiden Frauen passiert. So eine Verfolgungsjagd mit der Polizei ist ja auch ein schöner Filmanfang für ein Roadmovie und dann sitzen da die zwei alten Frauen drinnen und man fragt sich, wie es dazu kommen konnte.
 
 
Sie lassen zwei völlig konträre Frauen und auch Darstellerinnen  aufeinandertreffen. Wie sind im Drehbuchprozess diese beiden Persönlichkeiten entstanden? Es ist anzunehmen, dass Christine Ostermayer als Wunschkandidatin feststand, dachten Sie auch beim Schreiben bereits an Margarethe Tiesel für die Rolle der Toni?
 
GERHARD ERTL:
Christine stand für uns von Anfang an als Darstellerin für die Rolle der Helene fest. Sie war auch immer wieder in den Entwicklungsprozess einbezogen und mit uns im Austausch und hat ihre Lebenserfahrung und teils selbst Erlebtes eingebracht.
 
SABINE HIEBLER: Und dann war es uns im Laufe der Drehbuchentwicklung wichtig, eine ebenso individuelle, aber eben ganz andere zweite Figur zu zeichnen, um hier ein möglichst großes Spannungsfeld zu haben. Margarethe Tiesel war dafür eine ideale Besetzung und wir haben die Rolle dann noch einmal auf sie maßgeschrieben.
 
 
Sie stellen zwei Lebensentwürfe von Frauen dar: die erfolgreiche Schauspielerin, die auf eigene Kinder verzichtet hat, die Frau mit wenig Ausbildung, die jung schwanger wird und nach einer kurzen Ehe sich alleinerziehend durchschlagen musste. Frauenleben vor und hinter den Kulissen. Was wollten Sie mit diesem Kontrast deutlich machen?
 
GERHARD ERTL:
Auch unser Buddy-Movie lebt davon, was dieses Genre wesentlich auszeichnet: zwei sehr unterschiedliche Charaktere, die einander fordern, um zu Lösungen zu kommen. Die Herausforderung dabei war, aus diesem Kontrast der Protagonistinnen den Witz und die Energie zu generieren, mit der wir diese Geschichte erzählen wollten. Der Kontrast der Lebensweisen unserer beider Heldinnen weicht im Lauf der Geschichte dem Verständnis und der Akzeptanz des Anderen, des Unbekannten; ein Gemeinsames, in dem Fall eine sehr außergewöhnliche Freundschaft über Klassen- und Bildungsunterschiede hinweg, entsteht.
 
SABINE HIEBLER: Wir wollten zwei sehr verschiedene, sehr individuelle Lebensentwürfe mit sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen und mit sehr unterschiedlichen Mentalitäten und Strategien im Umgang mit Schwierigkeiten. Beide Frauen haben ihre Stärken und Schwächen, die Kombination macht‘s dann aus. Durch ihre Unterschiedlichkeit können sie sich gegenseitig Wege und Handlungsweisen eröffnen, die ihnen bis dahin nicht möglich waren.
 
 
Das Aufeinandertreffen von zwei Lebensentwürfen vor und hinter den Kulissen, führt bei Helene auch zu einem Lernprozess, sie erkennt, was sie sich selbst in ihrem erfolgreichen Leben nicht zugestanden hat.
 
SABINE HIEBLER:
Ja, sie hat eigentlich alles und ist dennoch lebensüberdrüssig. Alterseinsamkeit, Altersdepression, das sind ja auch alles Themen, die da mitschwingen und dann kommt diese Frau daher, die noch jeden Tropfen Leben auskosten möchte.
 
GERHARD ERTL: Helenes Auseinandersetzung mit Toni wird für sie kathartisch. Es gelingt ihr, mithilfe von Tonis sehr direktem Lebenshunger ihre starre Lebenshülle aufzubrechen und quasi neu ins Leben zu treten.
 
 
Dialoge Schreiben für eine Komödie, in der es um den Tod geht, hat gewiss einen besonderen Reiz. Es ist auch eine Gratwanderung. Welche Erfahrungen haben Sie dabei in der Drehbuchphase gemacht?
 
SABINE HIEBLER:
Wir Österreicher sind ja an sich sehr schwarzhumorig und der Tod soll ja angeblich ein Wiener sein. Für mich persönlich ist es einfach sinnvoll, Witze über ernste Themen zu machen. Durch Scherze wird das Schwere leichter, man kann sich mit Humor einfach besser annähern, finde ich. Die Gratwanderung ist dabei immer ein Thema, ich denke, die Grenzen sind da für jeden woanders.
 
GERHARD ERTL: Sich humorvoll mit dem Tod beschäftigen zu können ist sicherlich ein Privileg das Autorinnen und Autoren möglich ist und befreiende Reize hat. Diesen humorvollen Umgang ins eigene Leben mit reinzubringen ist dann ein zusätzlicher Reiz.
 
 
Eine Konstante in beiden Filmen ist die ungute Nachkommenschaft, die nur an sich denkt und den älteren Menschen Vorschreibungen im Sinne ihres eigenen Vorteils macht. Was macht diese jüngere Generation in ihren Filmen in der Problematik deutlich?
 
SABINE HIEBLER:
Naja, grundsätzlich sind das zunächst einmal einfach alltägliche Interessenskonflikte: Niemand kann sich beruflich einfach frei nehmen, um mit der Oma oder den Kindern Ausflüge zu machen, selbst wenn man das gerne täte. So ist unsere Gesellschaft einfach nicht, das ist eine systemimmanente Problematik.
 
GERHARD ERTL: In beiden Filmen speist sich das, wie Sie es nennen „Ungute der Nachkommenschaft“ aus deren Gefangensein im System, in dem sie jeweils feststecken. Es ist uns in den Filmen wichtig, den gesamte gesellschaftlichen Rahmen auch den unserer Antagonisten zu zeigen, deren Dilemmata und systemimmanente Zwangslagen aber natürlich auch deren Egoismen und Eigeninteressen...
 
 
Ein Cameo-Auftritt von Stefanie Sargnagel verweist auf einen weiteren Film von ihnen, nämlich Sargnagel – Der Film, sie bringt mit ihrem Zitat einen interessanten Aspekt ein: In Würde altern ist eine blöde Floskel. Man sollte laut die ganze Gesellschaft mit der eigenen Todesangst belasten. Hier bringen Sie ein interessantes Paradox auf den Punkt. In der Tat ist ein wesentlicher Punkt, in Würde zu altern, aber …
 
SABINE HIEBLER:
Die Frage ist ja, was man darunter versteht, in Würde zu altern. Anderen möglichst nicht zur Last zu fallen, ist ja nur für die anderen praktisch. Das führt dann dazu, dass alte Menschen sich zurückziehen und mehr oder weniger aus der Gesellschaft verschwinden, sobald sie mit irgendwelchen Einschränkungen rechnen müssen. Da reicht es ja schon, wenn man nicht mehr rasch genug für die Grünphase einer Ampel ist.
 
 
Was hat Sie bewogen, Stefanie Sargnagel in dieser Geschichte kurz auftauchen zu lassen? Wie stehen Sie zu ihrem Satz?
 
GERHARD ERTL:
Steffi taucht als die genre-typische Schamanenfigur auf halber Strecke des Films auf und gibt unseren Reisenden etwas mit auf den Weg.
Das ist natürlich ein typisch-angriffiger Sargnagel-Sager. Sie fordert damit provokant Präsenz und Selbstbewusstsein der älteren Generation ein. Ein gesellschaftliches Anliegen, das wir, nicht nur im Film, mit ihr teilen.
 
SABINE HIEBLER: Ja, es geht in Steffis Satz um Selbstermächtigung von Frauen und Alten. Darum sich nicht bescheiden zurückzunehmen um Anderen, Jüngeren, Stärkeren das Feld zu räumen.
 
 
Welche Erinnerungen haben Sie an die Dreharbeiten, was das Zusammenwirken der beiden Schauspielerinnen oder den Roadtrip mit schönem Oldtimer betrifft?
 
SABINE HIEBLER:
OMG! Der schöne Oldtimer: das war in Wahrheit eine einzige Zitterpartie, ob der das überhaupt durchhält. Der Wagen war ein Betreuungsfall und wahnsinnig unbequem dazu! Damit hatten wir nicht gerechnet, allein das Ein- und Aussteigen und dann war es drinnen auch noch irrsinnig heiß. Christine und Margarethe haben das so großartig gemeistert, wirklich beeindruckend.
Und die Chemie zwischen den beiden war einfach toll.
 
GERHARD ERTL: Eine bessere Konstellation für ein Odd-Couple in einem Buddy-Movie ist für mich kaum vorstellbar. Die beiden bringen sehr unterschiedliche Qualitäten mit ins Spiel und entwickeln dann gemeinsam ein neues Ganzes, eine Synergie, die es für dieses Projekt genau gebraucht hat.
 
 
Helene betont, dass sie als Lehrende viele gute Beziehungen zu jungen Menschen hatte. Eine besondere hat sie zu Thea, die in Zürich eine Rolle spielt, mit der sie selbst als junge Frau großen Erfolg gehabt hat: Clarice in Simone Beauvoirs einzigem Theaterstück Die unnützen Mäuler (Les bouches inutiles, 1945). Wie kamen Sie auf dieses Stück?
 
GERHARD ERTL:
Wir sind in der Recherche darauf gestoßen und es war sofort klar, dass es in den Film muss. Das Stück Die unnützen Mäuler verhandelt gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen eine Grundfrage unseres Projekts.
 
SABINE HIEBLER: Wir haben dieses Stück für unseren Film wiederentdeckt – es war ja quasi verschollen. Es wird darin von den Männern einer belagerten Stadt erzählt, die beschließen, ihre Alten, Kranken, Kinder und Frauen – die "unnützen Mäuler" eben – dem Feind auszuliefern, um das eigene Überleben zu sichern. Es werden Fragen erörtert, wer das Recht hat, über das Leben und Sterben Anderer, Schwächerer zu bestimmen. Fragen, denen auch wir in unserem Film nachgehen, wenn auch in einer anderen Form und mit anderen Mitteln.
 
 
Am Ende kommt es zu einer Verschmelzung von Fiktion und echter Hommage an Christine Ostermayer. In der Szene der Ehrung im Filmtheater kommt es zu einer filmischen Hommage an wichtige Rollen in ihrer Karriere. Wie kam die Auswahl dieser Szenen zustande?
 
GERHARD ERTL:
Wir wollten für diese Filmsequenz einen historischen Querschnitt durch Christines Bühnen- und Filmschaffen und waren erstaunt, wie wenig Material in den Archiven verfügbar war.  
 
SABINE HIEBLER: Vor allem aus ihren jungen Jahren gab es wenig. Es ist trotzdem ein schöner Bogen von der noch ganz jungen Christine Ostermayer bis zu ihrem Spätwerk geworden. Helene spricht in unserem Film ja auch an, dass man vor allem als älter werdende Schauspielerin auf "alt und sterbend, alt und dement, alt und krank" reduziert. Wir haben versucht, diese Szenen sparsam einzusetzen.
 
GERHARD ERTL: Wobei unser Sterben im Film ja auf das Leben davor abzielt.


Interview: Karin Schiefer
September 2024