INTERVIEW

«Ich betrachte heute die Affäre Waldheim als einen Generationenkonflikt»

Mit Kurt Waldheims Gedächtnislücke über seine NS-Vergangenheit verlor das österreichische Narrativ vom ersten Opfer des Nationalsozialismus seine Grundlage. SeinPräsidentschafts-wahlkampf 1986 polarisierte das Land. Ruth Beckermann, damals Aktivistin, hat für Waldheims Walzer österreichisches wie internationales Archivmaterial zu einem Film montiert, der aus einer Distanz von dreißig Jahren kollektive und eigene Erinnerung in ein aktuelles Spannungsfeld setzt.
 
 
1986 wird Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt, 2000 kommt Schwarz-Blau 1 an die Regierung. Wir treffen uns zu diesem Interview zwei Tage nach der Angelobung der Regierung Kurz/Strache, 17 Jahre nach Schwarz Blau 1. Wie in einem Zyklus von rund 15 Jahren scheint es in Österreichs politischer Landschaft einen Ruck nach rechts zu geben bzw. die österreichische Gesellschaft von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden. Wie sehr scheint Ihnen die Affäre Waldheim symptomatisch für das politische Terrain Österreich, um diese noch einmal aufzugreifen?
 
RUTH BECKERMANN: Ich habe die ersten Recherchen für diesen Film schon vor Die Geträumten begonnen und dann verschoben. Anlass, mich diesem Thema wieder zuzuwenden war, dass ich selbst gedrehtes Material von damals, also 1986, wieder gesehen habe und junge Leute – die Generation meines Sohnes –, die noch nicht einmal geboren waren, mich anstachelten, einen Film zu machen. Das politische Terrain Österreich ist, so absurd es klingt, noch immer vom Nationalsozialismus mitbestimmt. Die Affäre Waldheim war aber die Kehrseite der Phänomene Hofer/Strache und des jetzigen Zustandes. In der Waldheim-Affäre ging es darum, endlich mit der Vergangenheit halbwegs ins Reine zu kommen, d.h. die österreichische Opferlüge aufzubrechen. Man begann endlich, die Beteiligung der Österreicher am Nationalsozialismus aus einer anderen Perspektive zu sehen. Die Wahrheit hat sich schließlich durchgesetzt, auch wenn es lange gedauert hat. Franz Vranitzkys Rede über die Mitschuld der Österreicher fand ja erst 1991 statt. Was Hofer und Strache heute tun, ist das Gegenteil: Sie benutzen Elemente aus der Ideologie des Nationalsozialismus, um die Zukunft zu gestalten. Um das zu verdecken, üben sie ein scheinheiliges Gedenken. Das ist das Schlimme an der aktuellen Entwicklung.
 
 
Waldheims Walzer schlägt eine Brücke zu einem Ihrer Filme aus dem Jahr 1996: Jenseits des Krieges, wo Sie anlässlich der Ausstellung Vernichtungskrieg. Über die Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 die Reaktionen der BesucherInnen bzw. deren Interaktionen beobachtet haben. Was Sie zehn Jahre nach der Affäre Waldheim kollektiv betrachtet haben, haben Sie nun an der Person Kurt Waldheim als Individuum und Symbolfigur unter die Lupe genommen und gelangen dabei an eine der Kernfragen Ihres filmischen Schaffens: Wie konstruieren wir Menschen Erinnerung? Für wie determinierend betrachten Sie Erinnerung bzw. den Umgang damit für gesellschaftliche Entwicklungen?
 
RUTH BECKERMANN: Ich glaube, dass sich Erinnerung immer wieder neu konstruiert. Das betrifft unsere eigene, je nachdem, welche Prioritäten wir gerade in der Gegenwart setzen. Und auch die kollektive und nationale Geschichte wird immer wieder um- und neu geschrieben, je nach den Bedürfnissen der Gegenwart. Insofern war es nicht nur interessant, mit einem Abstand von dreißig Jahren mein eigenes Material wieder zu sehen, sondern auch meine eigenen Erinnerungen zu überprüfen und mir in großem Ausmaß und im internationalen Kontext das Material, das damals zur Affäre Waldheim gedreht wurde, anzuschauen. Auch die eigene Erinnerung trügt. Das legendäre Holzpferd z.B. gab es erst nach Waldheims Wahlsieg, während ich es in meiner Erinnerung schon der Wahlkampfphase zugeordnet hätte.
 
 
Warum interessiert sich Ihrer Meinung nach die junge Generation für dieses Material?
 
RUTH BECKERMANN: Sie sieht das ganz anders. Die spontane Assoziation der jungen Leute, denen ich dieses Material gezeigt habe, ist Donald Trump. Lüge, Fake News, Alternative Facts und das Schüren von Ressentiments. Es war mir sehr wichtig, im Film aus heutiger Sicht den Konnex zur Waldheim-Affäre herauszuarbeiten, zum einen mit dem Lincoln-Zitat am Anfang es Films und mit dem Verweis darauf, wie Alois Mock und Michael Graff, also oberste Repräsentanten der ÖVP erfolgreich Ressentiments schürten. Heute würden die Politiker nicht mehr diesen Diskurs führen. Die FPÖ stimmte der Finanzierung eines Mahnmals für die Ermordeten von Maly Trostinez zu, man lobt Israel, spricht gerne vom „jüdisch-christlichen“ Europa, obwohl die Juden seit Jahrhunderten von Christen verfolgt wurden. Gleichzeitig ist die Rede davon, dass man Asylwerber in Ghettos am Stadtrand stecken will. Die Toten weinen noch in ihren Gräbern, wenn von rechtsextremen Politikern das Gedenken dazu benutzt wird, um in ihrem Sinne Politik zu machen.
 
 
In diesem Film über Erinnern und Vergessen, stellen Sie dem profund recherchierten Archivmaterial Ihre Off-Stimme gegenüber, die Ihre subjektive Position klarstellt. Ihr erster Satz lautet: „Am besten erinnere ich mich an die Szenen, die ich selbst gedreht habe. Das war im Mai 1986“. Wie haben Sie versucht, einen Spannungsbogen zwischen Subjektivität und Objektivität zu halten?“
 
RUTH BECKERMANN: Ich stelle von Beginn an klar, dass es sich um einen Film aus der Position einer Aktivistin von damals handelt.  Ich denke, es ist eine Funktion des Kinos, Stellung zu beziehen und transparent zu machen, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet. Im Gegensatz zum Fernsehen, das die Dinge nivelliert oder zu den sozialen Medien, die in der eigenen Blase agieren. Es macht die Kraft des Kinos aus, widerständig zu sein und gleichzeitig klarzustellen, aus welcher Richtung die Autorin dieses Material aufbereitet. In WALDHEIMS WALZER arbeite ich ausschließlich mit Archivmaterial, das ich heute betrachte und analysiere.
 
 
Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, auch neues Material zu drehen?
 
RUTH BECKERMANN: Nein. Ich wollte auf keinen Fall heutige Erinnerungsinterviews drehen, weil ich das für langweilig halte. Ich habe natürlich mit einigen Protagonisten von damals, die unterschiedliche Positionen vertraten, gesprochen, es kam aber nichts Neues raus. Die damaligen Waldheim-Befürworter, die noch am Leben sind, verteidigen nach wie vor ihren Standpunkt und auf der anderen Seite hat sich natürlich auch nichts geändert. Ich denke, man kann nach einem Film, der historisch bleibt, viel besser über das Heute sprechen als bei einem Film, der die damaligen Protagonisten als ältere Männer befragt, die in ihren Erinnerungen schwelgen. Ich sage bewusst „Männer“, weil es ein Film ist, in dem nur Männer vorkommen, auch etwas, was heute  anders wäre. Die Protagonisten sind alle Väter und Söhne.
 
 
Die Sequenz, wo Gerhard Waldheim im Rahmen eines Hearings versucht, seinen Vater zu verteidigen und angesichts der Argumente seines Gegenübers nur noch schweigen kann, zählt zu den stärksten Momenten des Films: Ist dieser Moment symbolisch für die Bruchlinie, die erstmals im Nachkriegsösterreich zwischen der Kriegsgeneration und den Nachgeborenen verläuft und eine neue Sicht der Vergangenheit ermöglicht?
 
RUTH BECKERMANN: Gerhard Waldheim ist ein Sohn, der sich zur Verteidigung seines Vaters erstaunlich exponiert. Die Bruchlinie verläuft ja auch innerhalb der Generation der Söhne, in der es auch jene gab, die gerade aufgrund der Waldheim-Affäre ihre Väter massiv kritisierten. Die Waldheims stehen für ein Konzept von Familie, wo es darum geht, um jeden Preis ein Bild nach außen aufrechtzuerhalten. Das Material von diesem Hearing ist ein ganz besonderes Material. Es wurde nie gesendet und ist dennoch ungeschnitten in dieser Länge erhalten; das hat Seltenheitswert und ist natürlich das Herzstück des Films. Durch das dramatische Setting eines Hearings sind beide Seiten im Raum vertreten. Gerhard Waldheim liefert eine sehr beeindruckende Performance, man hat auch Mitleid mit ihm, weil er so massiv angegriffen wird. Aus meiner heutigen Sicht betrachte ich die Affäre Waldheim als einen Generationenkonflikt, der zeigt, wie unterschiedlich sich Söhne zu Vätern verhalten. Einerseits hat Gerhard Waldheim seinen Vater ganz offensiv verteidigt, andererseits gehören ja auch die Mitarbeiter des Jüdischen Weltkongresses derselben Generation an und sind ebenfalls Söhne. Zum Teil Söhne von Vätern, die aus Europa flüchtend in die USA gekommen waren oder jenen Familien angehörend, die ein schlechtes Gewissen hatten, nicht genug getan zu haben, um ihre Brüder und Schwestern zu retten. Es wurde auf beiden Seiten etwas aufgearbeitet, was die Nazi-Vergangenheit betrifft. In Waldheims Walzer geht es auch darum, die völlig unterschiedliche Agenda der Amerikaner herauszustreichen. Ihnen ging es um Waldheims Karriere als UNO-Generalsekretär, um das Beschmutzen der UNO als humanitäre Institution und um ihre Politik in den siebziger Jahren, während es in Österreich um die Opferlüge ging.
 
 
Sie zitieren eingangs Roland Barthes, der anlässlich der Fotoausstellung The Family of Men 1955 geschrieben hat, dass sich der Mythos der Conditio humana darauf stützt, den Grund der Geschichte in der Natur anzusetzen. Sie spielen im Film an die Natur, aber auch an „Naturgesetze“ wie das der Familie an. Welche Rolle spielt der Naturbegriff in Waldheims Walzer?
 
RUTH BECKERMANN: Familie gilt im konservativen Wertekonzept, für das Waldheim bürgt,  als etwas Natürliches, allerdings nur in der traditionellen Form Mann – Frau – Kind. Man heiratet und bleibt bis zum Tod beisammen. Das ist ein „Naturgesetz“. Ich spiele natürlich auch an den Heimatfilm an und darüber hinaus an die eine Weile wunderbar funktionierende Taktik Österreichs, sich mit seinen Naturschönheiten als unschuldig darzustellen. Die Natur als etwas Unschuldiges darzustellen ist eine Lüge. Sie wird aber immer wieder als Mythos hergenommen, um Geschichte zu verleugnen und die Natur als reinen Ursprung darzustellen. Österreichische Filme wie Sissi praktizieren das: In einer späteren Gegenwart, nämlich der der Nachkriegszeit, wird mit jungen Menschen eine frühere Vergangenheit (die der Monarchie) erschaffen, um die Nazizeit auszulassen. Ein genialer Schachzug. Das Böse kommt in den Heimatfilmen natürlich vor, aber – ganz im Sinne der Nazi-Ideologie – als das Moderne, das aus der Stadt kommt; dem wird die unschuldige Natur in Form von Landschaft, Familie, Tracht, Bauerntum, Tradition entgegengestellt. Das wiederum wird in Waldheims Wahlkampf zelebriert: Blasmusikkapellen, die ganze Familie, die für ihn eintritt, die christlichen Werte, die er in den Vordergrund stellt.
 
 
Bereits bei Jenseits des Krieges haben Sie deutlich gemacht, wie sehr sich Ihr Blick für die Mimik und Gestik Ihrer Gesprächspartner interessiert hat. Die Mimik und noch mehr die Gestik Kurt Waldheims haben ein faszinierendes Vokabular, dem eine besondere Aufmerksamkeit gilt. Wie haben Sie seine Körpersprache in der Betrachtung des Materials erlebt und wie hat es in die Montage Einzug gehalten?
 
RUTH BECKERMANN: Kein anderes Medium als Film kann in Bild und Ton die Oberfläche, d.h. den Körper, die Gesten, die Mimik, die Blicke so gut zeigen. Bei Kurt Waldheim bietet es sich an, den Blick darauf zu richten, weil er vor allem seine großen, langgliedrigen Finger so eindrucksvoll zum Einsatz bringt. Er ist sehr repräsentativ für diese Generation von Politikern und Beamten – seine Körperhaltung, seine Art, einen Anzug zu tragen. Er wirkt wie ein Beamter, der in die Politik geht und war das als UNO-Generalsekretär in erster Linie auch. Ich habe im Film gleich am Anfang den Blick auf seine Hände gelenkt, weil sie so charakteristisch sind. Waldheim war ja kein Nazi, er war ein Offizier und wollte immer zur Elite gehören. Auch wenn er aus eher bescheidenen Verhältnissen stammt, war seine Familie immer sehr stark in der ÖVP verwurzelt. Ihm war sehr jung klar, dass er in der ÖVP und nicht bei den Nazis Karriere machen würde. Da hat er eine gewisse Weitsicht an den Tag gelegt und sich schon für danach positioniert. In der Zeit des Nationalsozialismus hatte er allerdings als Intelligence Officer eine sehr wichtige Position inne und wusste sehr viel. Ob ganz oder nur halb bewusst, es war ihm sicher klar, warum er diese Zeit verschweigt oder herunterspielt.
 
 
Wo und in welchen Medien hat Ihre umfangreiche Archivrecherche angesetzt?
 
RUTH BECKERMANN: Ich begann im ORF sehr breit, d.h. alles von 1986 bis zur Historikerkommission 1988 zu sichten. Es ist jedoch fast nur das gesendete Material archiviert. Was nicht gesendet wurde, wurde auch nicht aufgehoben. Leider. Andererseits ist das eine Gegebenheit, die den Rechercheaufwand limitiert. Erinnern hat ja auch immer mit Vergessen zu tun und es ist auch sehr aufschlussreich zu sehen, was gesendet und somit archiviert wurde. Waldheims Walzer ist somit auch eine Betrachtung der Mediengeschichte: Worauf haben damals die verschiedenen Sender Wert gelegt? Was haben sie gesendet? Am Anfang der Affäre stand der Konflikt zwischen SPÖ und ÖVP im Vordergrund, ausgelöst durch die Frage, die heute völlig irrelevant erscheint: Wer war der Verräter? Wer hat aufgebracht, dass Waldheim etwas in seiner Biografie verschwiegen hatte? Die SPÖ musste sehr schnell erleben, dass man in Österreich einfährt, wenn man die Nazivergangenheit von jemandem aufzeigt. Interessant zu sehen war, wie sich die ORF-Journalisten langsam wandelten: Zu Beginn ganz patriotisch, sprich gegen „die Ostküste“, verstehen sie bald, dass von dort nicht allein überzogene Anschuldigungen, sondern Fakten kommen. Nach einem umfassenden Sichtungsprozess musste ich mich auf die Thematik fokussieren, die ich heute als relevant erachte. Das Interessante an der Arbeit mit Archivmaterial liegt darin, dass man sehr analytisch arbeiten kann und muss und dabei eine Neuordnung dieses Puzzlespiels vornimmt. Man gelangt in eine Doppelposition, indem man etwas Vergangenes anschaut und sich der Aufgabe stellt, es für heute relevant zu ordnen. Das war eine neue und spannende Erfahrung.
 
 
Wo und mit welcher Fragestellung suchten Sie nach der ORF-Recherche noch über die österreichischen Grenzen hinaus?
 
RUTH BECKERMANN: Ich setzte die Recherche dann in Großbritannien, den USA, Israel und in Frankreich fort, um das österreichische Material mit der anderen Seite in ein Spannungsfeld zu bringen. Es gab übrigens im ORF 2016 einige Dokumentarfilme, als sich die Waldheim-Affäre zum 30. Mal jährte, aber immer nur aus österreichischer Sicht. Nie wurden Leute wie Israel Singer oder Ilan Steinberg, die noch leben und damals auf der anderen Seite aktiv waren, nach ihrer heutigen Sicht befragt. Es blieb seltsamerweise eine nationale Sicht, auch wenn diese kritischer geworden war. Für mich lag einer der Lustmomente an  Waldheims Walzer darin, die Ereignisse in einen internationalen Kontext zu stellen und mir anzuschauen, wie unterschiedlich die Medien die Affäre beleuchtet haben.
 
 
Da Sie für WALDHEIMS WALZER nichts neu gedreht haben, sondern einen Film rein aus bestehendem Material entstehen lassen, war der Montageprozess mit Dieter Pichler gewiss ein anderer als in bisherigen Projekten.
 
RUTH BECKERMANN: Wir haben im Sommer 2016 ca. 150 Stunden von mir und Sebastian Brameshuber vorselektiertes ORF-Material gesichtet. Dazu kam Material, das über Internet zugänglich war. Ich bin dennoch oft selbst in die Archive gegangen, weil man immer hofft, dort dann noch etwas zu finden und auch um die Kühle des Internets zu überwinden. Ich wollte auch ein Gefühl für ein Archiv entwickeln, beim ORF oder der BBC in dem Raum zu sein, wo das Archivmaterial aufbewahrt wird und mit den Menschen, die dort arbeiten, reden. Archivmaterial ist ein sehr kaltes Material und ich brauchte lange, um einen Bezug dazu zu finden. Sich Material anzueignen, das man nicht selbst gedreht hat, ist ein völlig anderer Arbeitsprozess. Im Zuge der Sichtung 2016 haben wir weiter ausgewählt, dennoch blieb ich lange der Idee verhaftet, einen viel größeren Zeitraum abzustecken. Erst als wir uns ganz konkret an die Montage machten, hab ich das Konzept noch einmal überdacht und entschieden, dass wir uns auf die Monate des Wahlkampfs konzentrieren würden. Durch die Chronologie des kurzen Abschnitts von März bis Juni 1986, wird der Film sehr schnell vorangetrieben. Unterbrochen wird diese Chronologie durch assoziative Exkursionen in verschiedene Zeiten und zu anderen Vorfällen, um die Person Kurt Waldheim und die Affäre in einen größeren Kontext zu stellen. Es geht ja zum einen um seine Geschichte als UNO-Generalsekretär und zum anderen um diesen Zeitpunkt Mitte der achtziger Jahre, als der Holocaust auch international erst zu einem so wichtigen Thema wurde. Das hat man heute vergessen. Es war kein Zufall, dass Waldheim erst 1986 und nicht schon vorher gestolpert ist. Ob ihn 1971/72, bevor er UNO-Generalsekretär wurde, niemand durchgecheckt hat oder ob man es wusste und dem Umstand keine Bedeutung beimaß – all das sind offene Fragen.
 
 
Zu Beginn des Films sind Bilder zu sehen, die Sie 1986 als Aktivistin in der Affäre Waldheim selbst gedreht haben. Wie sehr setzten diese Bilder in Ihnen einen Prozess des Reflektierens über das eigene Bildermachen in Gang? Als eine Erinnerungsarbeit in der Erinnerungsarbeit?
 
RUTH BECKERMANN: Ich komme aus einer Zeit, in der Drehen noch etwas Besonderes war. Drehen ist für mich etwas ganz Spezielles und hat mit einem Anliegen oder einer Stimmung zu tun. Ich konnte und kann eine Kamera nicht permanent ins Leben integrieren. Darum drehe ich ganz selten. Das Material hat dann aber besonderen Wert für mich. Ein Teil des Materials wurde von Michael Palm gedreht, der auch auf Seiten der Protestierer war; ich habe vergeblich unter Kolleginnen und Kollegen nach weiterem Material gefragt. Heute gäbe es von Demonstrationen jede Menge Handybilder, allerdings ist fraglich, wieviel davon aufbewahrt wird.
 
 
Hat Sie Ihr damaliger Kamerablick nun nach 30 Jahren eigenem Filmschaffen und einer Revolution im Umgang mit dem Medium überrascht?
 
RUTH BECKERMANN: Mein Blick und mein Fokus haben sich eigentlich nicht geändert, das hat mich sehr gefreut, umso mehr, als ich sehr lange gebraucht habe, meine eigene Bildarbeit ernst zu nehmen. Ich habe ja erst in Those who go Those who stay (2014) meine eigenen Bilder ausgestellt. Ich habe das Filmen damals gar nicht ernst genommen und einfach spontan gedreht. Aus heutiger Sicht bin ich sehr stolz auf meinen Rundschwenk von den Demonstranten, die „Waldheim, nein!“ schreien und auf denen ich sehr lange verweile zu dem Mann, der „Waldheim, ja!“ ruft. Ich bedaure lediglich, dass ich als Aktivistin nicht mehr mit meiner eigenen Kamera festgehalten habe.
 
 
Sie weisen zu Beginn bereits auf Ihre Rolle zwischen „halb demonstrieren und halb dokumentieren“ hin. Ist das eine Prämisse, die Ihre Arbeit immer wieder prägt?
 
RUTH BECKERMANN: Ich bin jemand, der in der Emotion gute Ideen hat, viel mehr als am Schreibtisch vor einem weißen Blatt. Ich halte beides für notwendig, mag es aber sehr, wenn Action ist. Eine Demo will ich nicht vom Straßenrand in einer Totalen beobachten, sondern mitten drin, nahe an den Menschen und den Gesichtern.
Es war keineswegs mein Plan, dass Waldheims Walzer aus österreichischer wie auch aus internationaler Sicht so sehr an politischer Aktualität gewinnt. Lieber wäre mir, die politische Situation wäre eine andere. Gerade im Lichte von Fake News betrachte ich diesen Film aber als eine Manifestation dafür, dass solche Dokumentarfilme, die weder mit Stars noch tollen Bildern werben, eine wichtige Funktion haben und  deshalb in Kinos gezeigt werden müssen, um den Menschen auch einen Ort zu bieten, wo sie zusammenkommen und darüber diskutieren können, was heute los ist. Analytische Filme haben ihre Wichtigkeit. Heute vielleicht mehr als in den letzten Jahrzehnten, als die Politik relativ in Ordnung war und wir große Hoffnungen in Europa und die USA gesetzt haben. Ich halte es für sehr wichtig, Vergangenes so genau darzustellen, dass wir dabei heute an Charlottesville, Donald Trump, Ungarn oder an die österreichische Bundesregierung denken müssen.
 
Interview: Karin Schiefer
Dezember 2017
 
«Das Interessante an der Arbeit mit Archivmaterial liegt darin, dass man sehr analytisch arbeiten kann und muss und dabei eine Neuordnung dieses Puzzlespiels vornimmt. Man gelangt in eine Doppelposition, indem man etwas Vergangenes anschaut und sich der Aufgabe stellt, es für heute relevant zu ordnen. Das war eine neue und spannende Erfahrung.»