Favoriten ist Wiens zehnter Gemeindebezirk – der bevölkerungsreichste Bezirk der Hauptstadt, wo für ca. 40% der dort lebenden
Menschen Deutsch nicht die Muttersprache ist. Ruth Beckermann hat dort über drei Jahre hinweg den mal heiteren, mal sehr fordernden
Alltag einer Volksschulklasse mit ihrer hochengagierten Lehrerin begleitet. FAVORITEN ist ein brisanter Denkanstoß zur gesellschaftlichen Relevanz der Grundschulbildung für das Zusammenleben und den Zusammenhalt
in einer großen Stadt.
Die Dreharbeiten zu FAVORITEN haben im Herbst 2020 begonnen. Zu diesem Zeitpunkt lag ein halbes Jahr Pandemie hinter uns,
somit auch eine Zeit, wo sich das Unterrichten der schulpflichtigen Kinder nach Hause verlagert hatte. Eine neue Ungleichheit
in der Bildung hatte sich aufgetan. War dies für Sie ein erster Anlass, sich für die öffentliche Volksschule zu interessieren?
RUTH BECKERMANN: Nein. Mein Anstoß war der, dass ich einen Film über eine Volksschulklasse machen wollte. Eine Idee, die ich schon lange vor
der Pandemie mit mir herumgetragen hatte. Es sollte eine Langzeitstudie werden, um die Entwicklung der Kinder über die gesamte
Volksschulzeit beobachten zu können.
Wofür steht die öffentliche Volksschule grundsätzlich für Sie? Sehen Sie darin das Sprungbrett in die Chancengleichheit?
RUTH BECKERMANN: Ich denke, Kindergarten und Volksschule bilden eine unglaublich wichtige Grundlage. Ich habe immer die Auffassung vertreten,
dass alles, was man bis zum sechsten Lebensjahr in ein Kind „hineinstopfen“ kann, funktioniert, weil die Kinder schon ab drei
Jahren unheimlich aufnahmebereit sind. In manchen Ländern gehen die Kinder auch schon ab drei, vier Jahren in die Vorschule.
Das gibt es bei uns nicht. Die Volksschule, wie sie in Österreich noch immer heißt, ist sehr, sehr wichtig und wird hierzulande
sehr vernachlässigt. Kinder sind sehr wach. Es tut einem das Herz weh, wenn man zuschauen muss, welche Chancen da vergeben
werden. Kinder könnten anders gefördert werden wie z.B. in England, wo die Kinder mit dreieinhalb, vier in die Vorschule gehen
und alle lesen können, wenn sie mit sechs in die Schule eintreten und die Sprache gut können. Die deutsche Sprache müsste
ein so selbstverständliches Werkzeug sein wie unsere Hände.
Warum haben Sie sich entschieden, in Wiens größter Volksschule zu drehen?
RUTH BECKERMANN: Wir haben uns mehrere Volksschulen in verschiedenen Bezirken in Wien angeschaut und uns natürlich für Schulen interessiert,
wo das Publikum eher gemischt ist. In dieser Schule in Favoriten, wo wir letztlich gedreht haben, wurden wir vom Direktor
sehr freundlich empfangen, da war mir noch gar nicht bewusst, dass es die größte Wiener Volksschule war. Für so ein Projekt
ist es sehr wichtig, in einer Schule zu arbeiten, in der man willkommen ist. Ich hielt diese Schule vor allem deshalb für
sehr interessant, weil sie fast ausschließlich von Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird. Kein Elternteil der Kinder
spricht perfekt Deutsch. Das ist der Punkt, um den es eigentlich geht. Wir haben uns an dieser Schule einige Lehrer:innen
angeschaut, drei waren in der näheren Auswahl, ein Lehrer hatte eine Integrationsklasse, was unseren Zugang noch um den Aspekt
Behinderung erweitert hätte. Das wären zu viele Themen gewesen. Als wir einige Stunden den Unterricht verfolgt hatten, habe
ich mich für Ilkay Idiskut entschieden, weil sie eine dynamische, engagierte Lehrerin ist.
Ist Ihre Wahl auch deshalb auf Ilkay gefallen, weil es sich um eine junge Lehrerin handelt, die in Wien aufgewachsen ist,
aus einer türkischen Familie stammt und für eine gelungene Integration steht und damit auch ein Modell für viele ihrer Schüler:innen
sein kann?
RUTH BECKERMANN: Ilkay ist in Wien geboren, sie ist in einem Innenstadt-Bezirk aufgewachsen und war die einzige Schülerin mit Migrationshintergrund
in ihrer Klasse. Sie hat natürlich sofort sehr gut Deutsch gelernt, was die Grundvoraussetzung für ein integriertes Leben
in Wien und v. a. auch für eine gute Ausbildung und jedwede Karriere ist. Sie versucht, den Kindern in dieser Klasse einerseits
eine gute Ausbildung zu geben, andererseits kennt sie die verschiedenen Milieus, aus denen die Kinder kommen, ziemlich gut.
Sie kann mit den Müttern der türkischen Kinder auf Türkisch sprechen. Sie ist per Whatsapp zu fast jeder Tages- und Nachtzeit
mit den Eltern in Kontakt ist. Was sie leistet, ist sehr viel mehr als Kinder zu unterrichten.
Man kennt Filme über Volksschulklassen, die eine außerordentliche Lehrerpersönlichkeit in den Fokus setzen. Oft stehen sie
kurz vor der Pensionierung oder die Schule kurz vor der Schließung. Sie haben ebenfalls eine hervorragende Lehrerin als Protagonistin,
Ihr Fokus gilt aber eindeutig der Klasse und dem Alltag in einer Volksschulklasse in einer europäischen Großstadt?
RUTH BECKERMANN: Unsere Lehrerin ist ein Beispiel, wie dieser Alltag ausschauen könnte. Sie ist quasi die nächste Generation, die Realität
in meinem Film ist eine heutige. Mich interessiert vor allem die Zukunft. Diese Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft.
Ilkays Klasse steht für viele Volksschulklassen in Wien oder in Berlin. All das, was sie gemeinsam in der Klasse besprechen,
gilt auch für die Probleme in unserer Gesellschaft. Das Tolle an der Lehrerin ist, dass sie sich auf diese Diskussionen einlässt.
Sie blockt nichts ab, sondern lässt sich auf Debatten ein. Sie hat auch keine Angst, die Kinder zu berühren. Sie ist wirklich
ungewöhnlich. Die Diskussionen in der Klasse sind unglaublich spannend. Da geht es um Fragen wie: Dürfen Mädchen schwimmen
gehen? Dürfen Mädchen
Frauen einen Bikini anziehen? Es geht um Flüchtlingsfragen, es geht um den Ukraine-Krieg. Kinder sind
sehr wache und offene Menschen, manchmal ist es ein bisschen verdreht, was sie sich da zusammenreimen, aber sie kriegen sehr
viel mit. Ilkay reagiert auch stark mit ihrer Meinung, wenn ein Kind sagt: „Ein Christ soll eigentlich nicht in eine Moschee
beten kommen“, dann reagiert sie drauf und fragt nach: „Warum sagst du das? Bist du der Chef der Moschee?“ Sie lässt sich
auch auf Konflikte mit den Kindern ein und bewahrt doch immer vollen Respekt für sie. Was uns an dieser Klasse besonders aufgefallen
ist, war die hohe soziale Kompetenz der Kinder. Natürlich gibt es Wickel, die gibt es in jeder Klasse, aber wir hatten den
Eindruck – wir hatten ja auch alle Eltern kennengelernt und immer wieder getroffen – , dass sich die Eltern zum Großteil sehr
um die Kinder kümmern und das Beste für ihr Kind wollen. Das Beste heißt oft Konsum und materielle Güter. Es gibt andere Werte
als bei Bildungsbürgern. Das, was sie können, leisten die Eltern. Aber das, was sie nicht leisten können, da müssten die Schulen
bzw. die Gemeinden Hilfestellung leisten mit entsprechenden Angeboten. Das fehlt total. Diese Lehrerin gleicht aus, wo das
Schulsystem versagt. Das ist für mich bei dieser Arbeit rausgekommen. Wir waren oft so entsetzt, dass sie alleine ohne Assistenz
in der Klasse steht. Dass es in einer Ganztagsschule kaum Deutschförderunterricht gibt. Dass es an der größten Volksschule
von Wien kein permanentes Angebot an Sozialarbeiter:innen oder Schulpsycholog:innen gibt.
Wofür haben Sie sich in einer ersten Drehphase interessiert? Wie unter diesen schwierigen sprachlichen Voraussetzungen das
Basiswissen für die fortführende Schulbildung vermittelt wird? Oder vielmehr die sozialen Beziehungen? In welche Richtung
hat Sie Ihre Neugier gelenkt?
RUTH BECKERMANN: Mir ging es vor allem um die Persönlichkeiten der Kinder. Natürlich kann man in einer Klasse mit 25 Kindern nicht alle portraitieren,
aber ich denke, es ist uns bei fünf, sechs Kindern gelungen, dass sie als Personen rauskommen. Es ging uns vor allem um die
Themen, die die Kinder interessieren. Ein bisschen muss man mitbekommen, was sie lernen. Wir haben am Anfang viel Unterricht
gedreht, aber Unterricht kennen wir alle. Wir haben ihn nur andeutungsweise im Film. Zuviel Unterricht ist unerträglich. Es
war schon ziemlich anstrengend, da drinnen zu sitzen. Man kommt sich als Erwachsene ja sofort wieder wie in der Schule vor.
Oft dachte ich schon um neun Uhr, es ist Mittag und habe mich gefragt, wie ich das je ausgehalten habe und wie diese Kinder
das aushalten. An manchen Tagen hatten sie erst um 14 Uhr Mittagessen. Turnen haben sie ein- oder zweimal in der Woche. Wie
kann man so viele Stunden in diesem Raum hocken? Es war so, dass sowohl ich als auch Elisabeth Menasse, meine Ko-Autorin,
in einer Ecke gesessen sind, weil der Kameramann Johannes Hammel und der Tonmann Andreas Hamza sich in der Klasse bewegt haben.
D.h. die haben schon „gestört“ und ich konnte nicht auch noch neben dem Kameramann sein, was ja normalerweise mein Kontakt
ist. Ich konnte nicht viel ins Geschehen eingreifen. Nach ein, zwei Wochen erster Erfahrungen haben wir mit Johannes den Stil
des Films abgesprochen. Unsere Idee war, möglichst nahe an den Kindern dran zu sein. Er musste sich zwischen den Sitzreihen
bewegen, um diese, wie ich finde, sehr gut gelungenen Aufnahmen, die vielen Close-ups, die er alle mit Handkamera aufgenommen
hat, zu schaffen.
Wie lange hat es gedauert, bis die Kinder die Kamera nicht mehr wahrgenommen haben?
RUTH BECKERMANN: Ich würde sagen, das war nach einem Tag erledigt. Am Anfang interessieren sich die Kinder vor allem für das Mikrofon an der
Angel. Kamera kannten sie ja. Aber dieses Pelztier da oben, das hat alle interessiert. Andreas hat ihnen allen auch genau
erklärt, wie das mit dem Ton funktioniert. Die Kinder haben uns sehr schnell vergessen wie auch gemocht. Sie waren sehr froh,
wenn wir gekommen sind, das war etwas Besonderes. Das Tolle an Ilkay war auch, dass sie sehr schnell kapiert hat, wie wir
arbeiten und mitgearbeitet hat. Es war sehr hilfreich, dass auch sie Lust auf diesen Film hatte. Wir haben immer in Blöcken
von drei Tagen hintereinander gedreht. Der erste Tag war meist etwas mühsam, dann ist es immer besser geworden. Dazwischen
ließen wir immer ein paar Wochen Pause.
Sie geben den Kindern eine (Handy)-Kamera in die Hand, um Bilder für den Film zu schaffen. War dies auch ein wichtiger Versuch,
auf diese Weise mit ihnen in Dialog zu treten?
RUTH BECKERMANN: Weil ich als Regisseurin beim Dreh so untätig war, musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich wollte die Kinder nicht interviewen,
aber dennoch etwas anderes von ihnen hören als das, was sie in der Gruppe von sich gaben. Außerdem wollte ich wissen, wie
die Kinder den Umgang mit der Kamera und das Einander-Interviewen per se angehen. Interessant war das Mädchen Melissa, die
wir in einer großen Not beim Rechnen erleben, die aber wirklich Lust am Filmen hatte. Sie hat mit unserem kleinen Stativ ihre
ganz eigene Methode gefunden. Manche Kinder haben auch zu Hause gefilmt und ihre Familie gezeigt. Diese Bilder haben wir dann
nicht verwendet, es wäre mir voyeuristisch vorgekommen. Ich liebe die Einstellungen, wo die Mädchen übers Heiraten reden.
Da kommen so unerwartete Sachen raus. Und man sieht ja schon am Anfang, wenn die Kinder über die Berufe ihrer Eltern reden,
dass diese Eltern die Systemerhalter in der Stadt sind: Vom Bauarbeiter über Pizzabäcker und Putzfrauen in Spitälern bis zu
Krankenschwestern sind das die Menschen, die hier die Arbeit machen. Viele haben nicht einmal die österreichische Staatsbürgerschaft
und können nicht wählen gehen. Das sollte man auch einmal bedenken, wenn man sich den Film anschaut.
Österreichische Schule geht nicht ohne Religionsunterricht. Wie haben Sie dazu Ihren Zugang gefunden?
RUTH BECKERMANN: Wir haben in Österreich das Konkordat, daher muss Religion in der Schule unterrichtet werden und diese Realität wollte ich
auch zeigen. Das Interessante für uns war, dass es in der Klasse kein einziges katholisches Kind gab und dass alle Kinder
aus Ex-Jugoslawien vom Religionsunterricht abgemeldet waren, während fast alle muslimischen Kinder den Religionsunterricht
in der Schule besuchen. Wir waren öfter beim muslimischen Religionsunterricht, der zweimal die Woche stattfindet, dabei und
haben bemerkt, wie die Kinder da aufblühen. Da sind sie in ihrer Welt. Da kennen sie sich gut aus und das haben sie gern.
Doch religionsübergreifenden Unterricht oder Ethikunterricht hielte ich für sinnvoller und integrierender.
Sie haben die Klasse drei Schuljahre lang begleitet. Wie haben Sie es geschafft, letzten Endes auf eine Filmfassung von unter
zwei Stunden zu kommen?
RUTH BECKERMANN: Wir haben sehr viel gedreht, obwohl ich grundsätzlich eigentlich versuche, ökonomisch zu drehen. Man weiß halt in einer Schulklasse
nie, wer etwas sagen wird und wann etwas Interessantes passiert. Johannes hat wirklich anstrengende und gute Arbeit geleistet.
Ich habe dann mit dem Editor Dieter Pichler viel Zeit im Schneideraum verbracht. Was bei der Reduzierung des Materials geholfen
hat, waren Sichtungen, die Elisabeth und ich mit Dieter zwischen den Drehblöcken hatten. Eigentlich waren wir mit unserer
Dreieinhalbstunden-Fassung schon sehr zufrieden, haben den Film jedoch immer wieder liegen lassen, verdichtet und verdichtet.
Rausgefallen sind Meta-Gespräche wie das zwischen den Elternvertretern und dem zwischen Ilkay und dem Direktor, das wir sehr
lange drinnen hatten. Irgendwann dachte ich mir, wenn man nicht über den Film versteht, woran es in diesem Schulsystem mangelt,
dann funktioniert der Film nicht. Ich wollte eine Konzentration auf das Geschehen in der Klasse und auf die Aufnahmen, die
die Kinder mit den Handys voneinander gemacht haben.
Sie sprechen in der Synopsis von einer Zeit der Heiterkeit, die Sie gemeinsam verbracht haben. Wie sieht Ihr Blick zurück
auf diese Dreharbeiten aus?
RUTH BECKERMANN: Ich habe das Buch gemeinsam mit Elisabeth Menasse geschrieben, die als ehemalige Direktorin des Wiener Zoom-Kindermuseums
viel mit Kindern und Schule zu tun gehabt hat und die einen ganz anderen Blick darauf hatte als ich. Elisabeth hat auch Regieassistenz
gemacht und wir waren bei den Drehs immer zu viert in der Schule. Es war nicht nur eine schöne Zusammenarbeit, es war eine
meiner schönsten Arbeiten, immer wieder die Energie der Kinder zu spüren. Manchmal waren wir mit Ilkay essen und sie hat uns
erzählt, wie es ihr ging. Es war alles sehr harmonisch.
Da es in Österreich keine allgemeine Mittelschule gibt, kommt es in der 4. Volksschulklasse auch zu einem Moment der bitteren
Wahrheit – die Semesternoten, die für 10-Jährige die weitere schulische Zukunft bestimmen. Es wird klar, dass trotz der guten
pädagogischen Begleitung durch diese Lehrerin keine Wunder geschehen. Mit Gymnasium ging es nur für wenige weiter.
RUTH BECKERMANN: Es kann nicht funktionieren. Da kann die Lehrerin noch so gut sein. Die Kinder verstehen das, was sie lesen, nicht gut genug.
Ich glaube, es gibt kaum ein Kind in der Klasse, dass vollkommen sattelfest bei den deutschen Artikeln ist. Sie sind in einer
Klasse, wo keiner wirklich gut Deutsch spricht. Auch wenn sie sich auf Deutsch miteinander verständigen müssen, bleibt das
ein sehr einfaches oder falsches Deutsch oder sie reden dann doch Türkisch oder Serbokroatisch miteinander, auch wenn sie
das nicht sollen. Nach der Schule sind sie in ihren Großfamilien. Deutsch ist nur die Sprache der Schule. Es sind fünf Kinder
ins Gymnasium gekommen, ob sie es schaffen, wird man sehen. Es ist nicht so, dass die Eltern das nicht wollen. Es ist alles
eine Frage der Sprache. Man merkt auch, dass sich die Kinder mit Englisch viel leichter tun, weil sie auf YouTube und TikTok
Englisch hören. Oft ist es so, dass nicht einmal ihre Muttersprache perfekt ist. Es gibt Kinder, wo jeder Elternteil eine
andere Sprache spricht und auch die Eltern nicht perfekt in einer Sprache miteinander kommunizieren. Wären die Klassen besser
durchmischt, sagen wir die Hälfte mit Muttersprache Deutsch, dann würden die anderen das sofort lernen. Ich verstehe nicht,
warum man die Klassen nicht mehr mischt. Das würde bedeuten, dass man die Kinder mit Schulbussen in einen anderen Bezirk bringen
müsste. Das würde zu einem Aufstand der österreichischen Eltern führen, wenn ihre Kinder – Gott behüte – , nach Favoriten
in die Volksschule gebracht würden. Es ist hier alles sehr konservativ und verkrustet.
Befremdend ist am Ende (nach dem sehr emotionalen Abschied von der Lehrerin, die in Mutterschutz geht), dass es in einer öffentlichen
Volksschule der reichen Stadt Wien keine Lehrperson gibt, die diese Klasse sofort und samt einer angemessenen Übergabephase
übernehmen kann.
RUTH BECKERMANN: Es ist wirklich sehr im Argen. Dass hier nicht gehandelt wird, wird unserer Gesellschaft auf den Kopf fallen, weil in der
Volksschule die Fundamente für die Zukunft gelegt werden. Manche Kinder sind gut in Mathematik, aber sie verstehen die Textbeispiele
nicht. Wie sollen sie die richtigen Antworten finden? Jetzt sind sie noch liebe, charmante Kinder. Wenn sie in die Pubertät
kommen, weiß man noch nicht, wie sie sich entwickeln werden. In den Mittelschulen sind wieder alle ohne Deutsch als Muttersprache
zusammen. Favoriten ist ein total spannender Bezirk, den ich jetzt kennengelernt habe, mit so vielen Menschen aus verschiedenen
Ländern mit ihren Küchen und Sprachen. Man kann dort sehr gut leben, ohne Deutsch zu können, aber man wird nicht in eine andere
Gesellschaftsschicht kommen. Solche vergebenen Chancen sind eigentlich ein Verbrechen. So ein verschleudertes Potenzial. Wir
brauchen ja die Arbeitskräfte auf hohem Niveau.
Haben Sie das Gefühl, dass sich gerade eine Idee vom öffentlichen Schulwesen auflöst?
RUTH BECKERMANN: Das ist sehr interessant und sehr erschreckend. In meiner Generation sind ja alle in öffentliche Schulen gegangen außer ein
paar, die ins Lycée Français gingen. Jetzt geht die Schere auseinander. Wer will und kann, gibt seine Kinder in teure Privatschulen
oder konfessionelle Privatschulen. Dadurch gibt es immer mehr Segregation. Man weiß viel weniger voneinander. Das zeigt sich
ganz deutlich. Das hat auch mit den schlechten öffentlichen Schulen zu tun. Nicht alle sind schlecht. Aber viele sind überfüllt
und es herrscht ein Mangel sowohl an Lehrer:innen als auch anderen Kräften, die diese entlasten. Den Politikern ist das egal.
Alle denken sich irgendwelche neuen Dinge aus. Es liegen Unmengen an Prospekten irgendwelcher Initiativen in den Schulen herum.
Das kommt erstens bei den Eltern der Kinder, die Unterstützung nötig hätten, nicht an und es ist immer nur ein Schrebergarten
von Leuten, die gute Ideen haben. Es ändert nichts am Grundkonzept. Das ganze Schulsystem gehört total verändert.
Ein Appell an die Bildungsverantwortlichen?
RUTH BECKERMANN: Sie sollen sich mal eine Woche in eine Klasse reinsetzen und nicht nur zu Besuch kommen, wenn alles geputzt ist und alle
ihnen etwas vorsingen, sondern mal schauen, was wirklich los ist.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2024