INTERVIEW

«Eine Verletzung der Intimsphäre eines Menschen.»

Herzlich kann man den Empfang, den Simone bei der Ankunft im Landhaus ihrer Tante, der berühmten Ernährungsexpertin erfährt, nicht gerade nennen. Gerne hätte sie ihre Osterferien dazu genutzt, um mit Claudias Hilfe ein paar überflüssige Kilos loszuwerden. Doch wer Claudias braucht, der geht einen Pakt aus Verzicht und Hingabe ein, aus dem es kein Entrinnen gibt. Peter Hengl köchelt seinen Horror-Erstling FAMILY DINNER langsam und auf leisem Feuer, um am Ende ein schauriges Festmahl zu servieren.
 
 
 
Gesunde und richtige Ernährung, Kochkurse, kulinarisches Wissen, professionelle private Küchen etc. Ernährung ist zum Statusfaktor geworden. War ein kritischer oder ironischer Blick auf dieses Thema der Ansatzpunkt zu Ihrem Erstling, ehe sich das Horror-Genre zum adäquaten Erzählmittel erwiesen hat?
 
PETER HENGL:
Es war eigentlich umgekehrt. Ich bin ein großer Genre-Freund, bin damit aufgewachsen und sozialisiert. Ich war vielmehr in den letzten Tagen meines Filmstudiums auf der Suche nach einem angemessenen Thema für ein Erstlingsprojet. Zum Genrefilm fühlte ich mich ganz stark hingezogen, weil es ein tolles Spielfeld für einen Debütfilm ist; man kann sich ausprobieren, handwerkliches Können zeigen und gleichzeitig mit wenig Mitteln große Effekte erzeugen. Dem Genre haftet oft der Low-Budget-Geschmack an, in Wirklichkeit halte ich es für eine tolle Sache, dass ein großes Publikum bereit ist, sich experimentelle, originelle und sehr kreative Sachen anzuschauen. Das Ernährungs-Thema kam erst in einem zweiten Schritt dazu und der Weg dahin war ein längerer Prozess. Irgendwann hat es Klick gemacht und die Geschichte hat sich zusammengefügt.
 
 
Ein junges Mädchen kommt in den Osterferien zu ihrer Tante zu Besuch. Alles spricht aber gegen eine gastfreundliche Atmosphäre: eine unwirtliche Jahreszeit, niemand heißt sie willkommen, sie bekommt nicht einmal ein Gästezimmer. Welche Gedanken haben dieses Ausgangssetting bestimmt?
 
PETER HENGL:
Ich wollte sehr schnell zeigen, dass der Besuch an einem sehr unwirtlichen Ort und zu einem Zeitpunkt stattfindet, wo das Mädchen eigentlich gar nicht willkommen ist. Simone ist so sehr schnell als Hauptfigur charakterisiert, indem sich gleich sehr viele Widerstände ihr entgegenstellen. Sie wirkt nicht als jemand eingeführt, die besonders tough oder mutig ist und die sich mit Ellbogen Platz verschafft, sie hat aber auch kein Problem damit, diesen Widerständen auf ihre Weise zu trotzen und einen eigenen Weg zu gehen.
 
 
FAMILY DINNER ist ein Kammerspiel mit vier Personen: das Dreieck aus Claudia, Sohn Filipp und Stiefvater Stefan; ihnen gegenüber steht Simone, die einerseits zu diesem Dreieck als Ganzes, andererseits zu jedem Einzelnen eine (völlig anders geartete) Beziehung hat. Das Spannende sind die vielen Kippmomente im Film, wo man sich als Zuschauer:in ständig fragen muss, wer von den vier wann wohl die Wahrheit sagt. Entsprechend viel Arbeit muss in diese Beziehungsstruktur geflossen sein.
 
PETER HENGL:
In der Entwicklungsphase ist da sehr viel Arbeit hineingeflossen. Und es war eine sehr schöne Erfahrung, das Ganze mit den Schauspieler:innen nochmal zu erforschen. Wir hatten eine tolle Besetzung, mit den beiden Routiniers Pia Hierzegger und Michael Pink und auch die beiden Jugendlichen Nina Katlein und Alexander Sladek, die zum ersten Mal in einem Kinospielfilm mitwirkten. In der Arbeit mit ihnen haben sich die vom Drehbuch angelegten Beziehungsachsen sehr schnell manifestiert.
 
 
Wir haben Sie die Schauspieler:innen auf den Dreh vorbereitet?
 
PETER HENGL:
Wir hatten eine intensive Probenphase. Alles ein bisschen stressig, weil alles sehr kurzfristig war. Ich habe darauf bestanden, dass wir sehr gut vorbereitet in den Dreh gehen. Wir hatten mit Jakob Fischer einen sehr guten Schauspiel-Coach für die beiden jungen Darsteller:innen, gemeinsam mit ihm haben wir vor dem Dreh noch eine intensive Woche Vorarbeit  geleistet. Wir haben alle Szenen, die sie gemeinsam zu drehen hatten, eingeprobt und dann nach Verfügbarkeit die beiden Erwachsenen dazugeholt, damit jeder sich einbringen konnte und ein Gefühl für die Figuren entwickeln konnte.
 
 
Wie haben Sie Ihre erste Arbeit am Set mit den Schauspieler:innen erlebt?
 
PETER HENGL:
Ich habe vor FAMILY DINNER zahlreiche Kurzfilme gedreht und auch mit Jugendlichen gearbeitet. Das war mir vertraut. Der Dreh als solcher bedeutete dennoch eine Herausforderung, selbst die Energie über eine so lange Zeit aufrecht zu erhalten und die Länge des Drehs zu bewältigen. Vom Handwerklichen her hatte ich das Gefühl, gut vorbereitet zu sein. Dieser Cast hat die Schauspielarbeit zu einer sehr angenehmen Erfahrung gemacht.
Die Erwachsenen wurden ganz klassisch besetzt. Bei den jungen Rollen war es ein bisschen schwieriger. Mit dem besonderen Körpertyp, der für die Rolle der Simone erforderlich war, a war uns allen klar, dass es eine Herausforderung würde. Wir haben uns auf ein sehr umfangreiches Laien-Casting eingestellt. Ich weiß nicht, wie viele Kandidatinnen unsere Casting-Direktorin Marion Rossmann gesehen hat. Bei mir waren es noch an die hundert. Erschwerend war, dass wir anfangs coronabedingt nur über e-Casting arbeiten konnten. Nina Katlein kann ein Lied davon singen, wie genau wir dieses Casting unter Einbeziehung der Konstellationen gemacht haben. Es hat sich gelohnt. Wir haben für beide Rollen sehr talentierte Leute gefunden. Nina ist in jeder einzelnen Szene des Films, sie musste ohne Drehpause immer 100 Prozent geben. Das hat sie mit Bravour gemacht. Auch Alexander, der eine große Bandbreite abzudecken hat, hat sich mit viel Können und Talent eingebracht.
 
 
Der Film transportiert trotz Handwerk sehr viel Gesellschaftskritik. Das Haus ist nüchtern und stilvoll eingerichtet, es zeugt von gutem Geschmack, aber auch von einer unangenehmen Austerität. Ging es Ihnen auch darum zu zeigen, wie eine gute Absicht (gute Ernährung) auch in eine ungesunde Ideologie kippen kann?
 
PETER HENGL:
Absolut. Ich hoffe, der Film wird auch auf einer gesellschaftskritischen und auch auf einer emotionalen Ebene gelesen. Mir war wichtig, dass es nicht zu eindeutig in seiner Leseart wird, auch wenn sich der Film zu gewissen gesellschaftlichen Themen eindeutig kritisch positioniert. Ich wollte keine zu einfach gestrickte Moralgeschichte machen. Es sollte schon auch eine Sperrigkeit und Ausweglosigkeit haben, die den Zuschauer dazu bringt, sich zu diesem Themenkomplex eigene Gedanken zu machen. Das Haus war eine Kombination aus einem Glücksgriff und einer tollen Szenenbildnerin Pia Jaros. Ich habe das Haus als „Exilantenbauernhof“ betrachtet. Das klassische Wiener Ferienhaus, mit einer Familie, die sich zurückgezogen und isoliert hat. Sie ist eine Art Fremdkörper in der Landschaft. Man musste die verfügbare Location aufgreifen und sie sinnvoll weiterentwickeln. Wir hatten lange einen passenden Bauernhof gesucht. In dem, der es geworden ist, waren einige Dinge, die im Drehbuch angelegt waren, schon vorhanden. Die nüchternen Wände und auch der Waschbetonboden ging gut mit der emotionalen Kälte und der seltsamen Stimmung einher, die der Film erzählt. Pia Jaros hat das exzellent weiterentwickelt und stimmige Moodboards vorgelegt. Wir haben dann alles daran gesetzt, diese Location zu bekommen.
 
 
Ein Teil der Entstehungsphase von FAMILY DINNER fällt in Coronazeiten. Manipulation unter dem Deckmantel von guten Absichten (Mutterliebe, gesunde Ernährung, Verbundenheit mit der Natur) ist ein zentrales Thema. Man kommt nicht umhin, auch an Menschen zu denken, die in den Pandemiejahren in Parallelwelten gedriftet sind. Hat die Aktualität etwas dazu beigetragen, die Geschichte inhaltlich aufzuladen?
 
PETER HENGL:
Absolut. Das Buch ist natürlich älter als die Realität, aber auch ich hatte in der Schlussphase stark das Gefühl, dass die Realität gerade dabei war, die Phantasie einzuholen. Es barg schon starke Überraschungsmomente, dass jemand wie Attila Hildmann, ein deutscher Ernährungs-Guru, in rechts-rechte Szene nach Crazy-Land abgedriftet ist. Er war mit Büchern wie Vegan for Fit, Vegan for Fun erfolgreich und ist dann in der Rechts-Außen-Aussteigerszene gelandet mit Behauptungen wie Angela Merkel wolle als Teil der Weltverschwörung die deutsche Bevölkerung austauschen. In der Schlussphase des Drehbuch-Schreibens überlegte ich für eine Zehntelsekunde, ob ich das stärker reinholen sollte. Ich konnte mir vorstellen, dass eine Figur wie Claudia in so einer Zeit auf eine starke Internet-Gefolgschaft hätte setzen können. Ich habe mich aber dann aber dagegen entschieden, weil FAMILIY DINNER auch eine zeitlose, märchenhafte Charakteristik hatte. Außerdem ändert sich die Stimmung gerade wieder. Xavier Naidoo hat sich öffentlich für seine Haltung entschuldigt. Die Relevanz dieser Leute hat wieder abgenommen. Mir gefiel es besser, Claudias Verhalten als Auswuchs dessen zu betrachten, dass sie sich nicht anerkannt fühlt und die Geschichte in der leicht phantastischen Blase zu halten. Der Film fühlt sich ja ein bisschen der Realität entrückt an. Ich wollte bewusst die Außenwelt draußen halten. Wenn Simone am Anfang im Landhaus ankommt, spürt man nicht wirklich, aus welcher Welt sie kommt. Der Film spielt in einer fast hermetischen Phantasiewelt, da hätte es mich gestört, sie in einer Aktualität zu verankern. Ich hab es vorgezogen, es universell zu halten. Es ist mir lieber, dass man das Thema leise spürt, als es allzu eindeutig zu verlinken.
 
 
Das Stichwort ist gefallen. Es sind in FAMILY DINNER auch einige Referenzen zu den Brüdern Grimm zu finden. Wie wichtig ist der Märchenaspekt in Ihrem Zugang zum Horror-Genre?
 
PETER HENGL:
Absolut wichtig. Wir wollen natürlich das Ende nicht verraten, aber es gibt sehr große Parallelen zu bekannten Märchen. Den Auslöser sehe ich darin, dass in der Erzählung eine sehr starke Archaik steckt. Sowohl im Märchen als auch in der Psychologie darum gibt es archaische und universelle Gedanken, die mich inspiriert haben und die beim Publikum etwas auslösen. Das wollte ich unbedingt anzapfen und den märchenhaften Touch auch in der Inszenierung spürbar machen.
 
 
Will man bei der kulinarischen Metapher bleiben, so köchelt der wachsende Suspense in FAMILIY DINNER sehr langsam und auf sehr kleinem Feuer. Sie gehen sehr subtil, mit viel Geduld und Zeit auf den Showdown zu.
 
PETER HENGL:
Ich mochte die handwerkliche Komponente des Genre-Films immer sehr und ich wollte von Beginn an keinen „Geisterbahnfilm“ machen. Ich schätze so etwas und konsumiere so etwas sehr gerne, aber für meinen Film wollte ich auf subtile Weise am psychischen Druck ansetzen. Das Drehbuch ist immer einer anschwellenden Kurve gefolgt, entsprechend war das auch in der filmischen Gestaltung oberste Maxime. Wir waren sehr genau und haben präzise Storyboards angelegt. Mit 25 Drehtagen hatten wir gar keine andere Wahl. Innerhalb der Szenen hatten wir kaum den Luxus, etwas zu drehen, was möglicherweise wieder rausfallen konnte. Im Schnitt ist natürlich noch einiges passiert, gerade darin, wie sich der Suspense im Detail aufgebaut hat. In der Kameraarbeit wussten wir, dass wir kaum Spielraum hatten. Da zieht es mich auch sehr hin – zu dieser Präzision und genauen Arbeit. Es war ganz eindeutig mein Wunsch, die Spannung sehr lange in Schwebe und in einer unangenehmen Anspannung zu halten.
 
 
Wie sehr hat der Umgang mit dem Ton eine weitere entscheidende Rolle gespielt?
 
PETER HENGL:
Die Tongestaltung war ein ganz wesentlicher Faktor und entspricht ganz meinen Vorstellungen. Ich muss auch betonen, dass ich sehr stolz und dankbar bin, mit so talentierten Leuten zusammengearbeitet zu haben: Theda Schifferdecker für den Set-Ton, Lenja Gathman als Sounddesignerin und Peter Kutin als Komponist. Gerade für diese Art der Spannungskurve war der Ton sehr wichtig. Eric Spitzer, mein Professor für Tongestaltung an der Filmakademie hat etwas gesagt wie: Es ist leichter wegzuschauen als wegzuhören. Das trifft bei FAMILY DINNER sehr stark zu. Was sehr gut aufgegangen ist, ist mein Wunsch, einen auf unangenehme Weise stillen Ort zu erzeugen. Wir haben viel Dialog im Nachhinein im Flüsterton im Tonstudio aufgenommen. So hatte ich die Dialoge von Beginn an im Kopf, mir war aber klar, dass es am Set, im Moment des Drehens sicher nicht so gut hinzukriegen war. In der Postproduktion haben wir viele Dialoge in sehr leisem Flüstern mit entsprechender Mikrofonierung aufgenommen. ASMR war auch ein Konzept, das ich in der Tongestaltung aufgreifen wollte. Es entsteht, wenn man Ton mit Großmembranmikrophonen sehr nahe und sehr leise aufnimmt. Das erzeugt psychologisch eine Nähe, die beim Publikum manchmal als angenehm, oft aber als sehr unangenehm wahrgenommen werden kann. Z.B. in der Szene, wo man aus Simones Sicht beobachtet, wie Claudia ihren Sohn Filipp ins Bett bringt. Die Stimmen wirken wie ganz nahe am Ohr, man ist wie ein Eindringling in dieser intimen Situation, die gleichzeitig etwas Unheimliches und Seltsames hat. Ich wollte ein Gefühl erzeugen, dass man sich unwohl fühlt und eigentlich gar nicht da sein will. Es ist laut, bedrohlich und hat etwas von der Verletzung von Intimsphäre. Für mich ist der ganze Film eine Verletzung der Intimsphäre eines Menschen. Es geht mir ums Erzeugen einer Übergriffigkeit.
Lenja Gathman hat kongenial Vogel- und Tiergeräusche eingesetzt, um diese unangenehme Stille zu erzeugen, denn wenn man im Haus Vogelstimmen wahrnimmt, dann heißt es, es muss sehr leise sein. Peter Kutin hat einen eindrucksvollen Score angelegt, der messerscharf auf einer Ebene mitläuft, die in der Ruhe eine Anspannung erzeugt. Vieles ist ein subtiles Spielen mit Stille und dem, was man letzten Endes hört.
 
 
FAMILY DINNER ist nicht nur ihr erster Langfilm als Autor und Regisseur, der Film wurde von der jungen Produktionsfirma Capra Film produziert, deren Mitbegründer Sie sind. In welche Erzählrichtung soll es mit dieser Produktionsfirma und in Ihrem eigenen Filmemachen gehen?
 
PETER HENGL:
FAMILY DINNER ist ein Werkstattprojekt, das für viele der erste Langfilm war oder zumindest einer der ersten Langfilme. Das hat geholfen, dem Ganzen eine sehr positive Energie zu geben. So viele Leute hatten Lust, ihr Können zu zeigen. Als Firma sind wir zu dritt: Lola Basara und der Autor und Regisseur Marc Schlegel, mit dem ich schon gemeinsam Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben habe und der auch schon als Regisseur in Deutschland einige Projekte umgesetzt hast. Als Firma haben wir uns anspruchsvoller Unterhaltung verschrieben und wollen auf alle Fälle auch im Genre-Film weiterarbeiten. Ein Genrefilm unter der Regie von Marc Schlegel ist unser nächstes großes Projekt. Es handelt sich dabei um einen historischen Horrorfilm, der im Wien der 1920-er Jahre angesiedelt ist. Die Geschichte zweier Frauen, in der es um Besessenheit geht. Gemeinsam mit meiner Frau, Lola Basara, schreibe ich gerade an einer Beziehungskomödie, was eine sehr lustige Beschäftigung für ein Ehepaar ist. Und natürlich möchte auch ich dem Genre treu bleiben und habe da mehrere Stoffe in Entwicklung. Ich bin sehr gespannt.
 

Interview: Karin Schiefer
Juni 2022

«Es war ganz eindeutig mein Wunsch, die Spannung sehr lange in Schwebe und in einer unangenehmen Anspannung zu halten.»