Arnold ist ein anerkannter Architekt. Seine Projekte streben immer höher in die Lüfte und auch sein Familienleben schient
eine tadellose Konstruktion. Doch das Fundament erweist sich als äußerst brüchig, als ihn seine Frau eines Tages mit der Notwendigkeit
einer Spenderniere konfrontiert. Inspiriert vom Theaterstück Die Niere hat Michael Kreihsl in Risiken und Nebenwirkungen zwei solide Paare mit einer einzigen Frage aus ihrem Glückskonstrukt gekippt.
Eine Ihrer Hauptfiguren in Ihrem neuen Film Risiken und Nebenwirkungen braucht eine Spenderniere. Um diese Frage entspinnt sich im Bindungsnetz Ihrer Hauptfiguren ein fragiles und wechselhaftes
Spiel der Kräfte. Wem würde ich eine Niere spenden? Ist eine Grundsatzfrage, die sich jeder Mensch stellen kann, um über sich
selbst und andere etwas herauszufinden. Welche Fragestellungen haben dieses Stück und dieser Stoff für Sie aufgeworfen und
Sie gereizt, ein Drehbuch daraus zu entwickeln?
MICHAEL KREIHSL: Der Film hat als Vorlage das Theaterstück Die Niere von Stefan Vögel. Als ich das zu Stück zu lesen bekam, ist mir das Thema
seitdem nicht aus dem Kopf gegangen, vor allem auch die erwähnte Frage: Wie wäre das mit mir, wenn plötzlich meine Frau reinkäme
und mir diese Frage stellen würde. Würde man sich sofort und bedingungslos entscheiden oder aus Angst ums eigene Leben ausweichen?
Ich dachte mir, wenn es gelingt aus dem Theaterstück, das dem gehobenen Boulevard verpflichtet ist und das für einen einzigen
Bühnenraum geschrieben ist, dreidimensionale Figuren zu schaffen mit all ihren Nöten, ihren sympathischen und weniger sympathischen
Seiten, dann könnte das ein Filmstoff werden. Es ist ein well-made Play mit Menschen in einem Ausnahmezustand, vielleicht
funktioniert das auch auf der Leinwand, denn das Thema stellt eine interessante existentielle Frage, die ans Eingemachte geht.
Dieter und Jakob Pochlatko, die beiden Produzenten, hatten die Rechte am Stoff erworben und nachdem ich schon einige gute
Filme mit Ihnen gemacht hatte, war die Sache klar.
Liebe möglicherweise, der Titel eines Ihrer letzten Filme, bringt das Thema auf den Punkt, das Sie in Ihren Filmen immer wieder
beschäftigt hat – die Risse unterhalb der Oberflächen vieler Beziehungen, wo nach außen hin alles strahlt. Könnte man es als
das Thema bezeichnen, das sie als Filmemacher bewegt und mit dem Sie auch mit dem Publikum in einen Dialog treten wollen?
MICHAEL KREIHSL: Das was sich unter dem englischen Begriff des „human behaviour“ zusammenfassen lässt, interessiert mich. Diese menschlichen
Verhältnisse, diese grotesken Zappelbewegungen, die Menschen vollführen, um glücklich zu werden und dabei oft ins Gegenteil
kippen. Tschechow hat geschrieben, "Die Menschen gehen nicht zum Nordpol und fallen von Eisbergen herunter; sie gehen in Büros,
streiten mit Ihren Frauen und essen Kohlsuppe.“ Das finde ich sehr treffend. Denn zu Hause liegt ein ähnliches Drama unter
der Oberfläche, wie auch am Nordpol der größte Teil der Eisberge bekanntlich unter Wasser liegt. Mich interessieren die Abgründe,
die Glücksverheißungen die schief gehen, für die man aber trotzdem immer wieder neuen Anlauf nimmt. Lernen wir Menschen etwas
aus einer Beziehung? Marcel Proust schreibt dazu: „... der Mensch ist das Wesen das nicht aus sich heraus kann und die anderen
nur in sich kennt und das lügt, wenn es das Gegenteil behauptet.“ Mich fasziniert es dieser Sehnsucht nachzuspüren, warum
Menschen mit Händen und Füßen an einer Idee oder Vorstellung von Liebe und Glück hängen. Schon in meinen ersten Filmen war
diese Auseinandersetzung erkennbar, aber noch stärker auf eine surreale Ebene transponiert.
Risiken und Nebenwirkungen beruht auf einem Theaterstück, genauer gesagt auf einem Kammerspiel. Vor welchen Fragestellungen steht man in der Adaptierung
eines fürs Theater konzipierten Stoffes für die Leinwand? Wo haben Sie die Geschichte fürs Kino erweitert?
MICHAEL KREIHSL: Beim Theater gibt es den schönen Begriff der Absehleistung. Gibt es den wirklich? Jetzt bin mir nicht sicher, dann erfinde
ich ihn jetzt... also: ein Schauspieler setzt eine Pappkrone auf und wir glauben das ist Richard III., drei Stunden lang.
In Filmen wie Risiken und Nebenwirkungen funktioniert das nicht. Man muss sich diese Glaubwürdigkeit jede Sekunde erarbeiten. Die DarstellerInnen müssen präzise und
zugleich spielerisch daran arbeiten, ihre Not auf die Leinwand zu bringen. Ich habe das Stück um die Figur der Tochter und
ihren Freund erweitert, im Theaterstück gibt es ja nur die beiden Paare. Diese Personen erzeugen eine weitere Dimension und
erweitern das emotionale Umfeld von Kathrin und Arnold. Auch die Rolle Götz habe ich weitergedacht, um ihn dreidimensionaler
zu zeigen. Wenn er z.B. im Streit mit Diana sagt: „Interessant, was da alles hochkommt“, dann gibt er mit dieser kleinen Bemerkung
etwas über deren Beziehung preis und die Zuschauer können mutmaßen, was in dieser Beziehung noch so alles vergraben ist. Mich
berührt auch die Szene mit der Putzfrau, die im Stück gar nicht vorkommt. Sie wird von Katrin angeschnauzt, und schenkt ihr
darauf ein Heiligenbild, um sie zu trösten, was es sonst niemand macht und Kathrin versteckt ihre Tränen darüber. Ich hielt
es auch für wichtig, dass Kathrin diese Angst selbst erlebt und aus dieser Erfahrung heraus handelt. Sie glaubt ja tatsächlich
von Anfang des Films an, dass sie eine Spenderniere braucht und erst aus dem ambivalenten „Verhalten“ ihres Mannes, entsteht
die Idee einer Vergeltung, die man dann auch nachvollziehen kann, weil sie ja tatsächlich Todesangst gehabt hatte. Dass die
Frau von Beginn an, wie im Theaterstück, ohne selbst eine Niere zu brauchen, einen Racheakt von an Anfang an gegen ihren Mann
inszeniert, hätte sie im Film eindimensional und uninteressant gemacht. Auch wollte ich keine Schablonen, zeigen, ich beschreibe
an den Personen einen Schritt des Menschwerdens. Arnold hat ja auch einen guten Kern, er ist aber ein Egoist, fast ein Autist,
der einfach gewohnt ist durch Konflikte durchzumarschieren und gleich mit einer Agentur das „Problem“ von ihm wegorganisieren
will. Er versucht seine Emotionen auszulagern. Er will nicht „zu sich“ kommen. Keine meiner Figuren passen in ein Schwarz-Weiß
Muster, alle haben beides in sich. Ich muss auch alle meine Figuren gleich gernhaben können, alle müssen die gleichen Chancen
haben, damit wir ihnen näherkommen und uns in ihnen wieder finden können. Ich bin überzeugt, dass darin einer der Gründe liegt,
warum Menschen ins Kino gehen.
Arnold, die Hauptfigur, ist Architekt, ein Beruf, der mehrschichtige Deutungsansätze erlaubt. Was hat gerade Arnolds Beruf
an filmischen Möglichkeiten geboten und an Anforderungen an das Set Design und Locationsuche gestellt?
MICHAEL KREIHSL: Wir haben lange nach einem „Architekten“-Haus gesucht, das zu unseren Hauptfiguren passen könnte. Wir haben uns dann auf diese
Villa geeinigt, die wir für sehr geeignet hielten. Dazu hatten wir das Glück, dass in Wien permanent gebaut wird und der Rohbau
einer Großbaustelle zur Verfügung stand, der ja fast eine symbolische Dimension für das Innenleben unseres Architekten hat.
Er ist immer am Bauen, will immer in die Höhe – ohne jetzt die Boulevard-Witze rund um den Turmbau zu strapazieren –, die,
wie sie im Film angesprochen werden, auch wieder zum Schmunzeln sind. Arnold merkt es gar nicht, wie unmöglich er ist. Er
lebt in einer Parallelwelt und hat den Kontakt zu alltäglichen Dingen und zu seinen echten Gefühlen verloren. Vielleicht kann
er sie nicht zeigen, vielleicht hat er sie nie. Er gehört zu den Menschen, die in den anderen nur sich selbst spiegeln. Risiken und Nebenwirkungen wechselt immer wieder zwischen der weiblichen und der männlichen Perspektive. Letztlich gewinnt eindeutig die weibliche Sichtweise
die Oberhand und der Schluss des Films ist die logische Konsequenz hin zu einer Selbstbestimmung, einer Emanzipation.
In Ihrer Vierer-Konstellation Arnold/Katrin und Diana/Götz gibt es einen, der nicht über seine Arbeit definiert wird. Genau
er ist der, der menschlich und als einziger nicht berechnend agiert. Was erzählt Risiken und Nebenwirkungen auch darüber, wie sehr die Berufswelt in der Gesellschaftsschicht des gebildeten Bürgertums die menschliche Ebene überlagert?
MICHAEL KREIHSL: Und ein Bibelzitat dazu: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Woher kommt fehlende
Empathie? Warum sind manche Menschen hilfsbereit, ohne Gegenleistung? Über Götz wird auch im Film gesagt er sei harmoniesüchtig
etc. aber erhalten nicht gerade Menschen wie er das Gleichgewicht auf der Welt, zwischen den Gerechten und Ungerechten. Ich
glaube nicht, dass es die Berufswelt einer Gesellschaftsschichte allein ist, die die menschliche Ebene überlagert, eher der
jeweilige Charakter. „Der Charakter ist mein Schicksal“ könnte Arnold sagen. Würde er seine Frau lieben, hätte er Empathie,
wäre alles anders gelaufen. Eine Beziehung so zu führen wie eine Firma muss zwangsweise scheitern. Das wäre ungefähr so, als
würde man Begriffe aus der Wirtschaft, wie z.B. Effizienz, in die Kunst hineintragen. Sagen sie mir welche Effizienz ein Streichquartett
von Haydn hat? ... eben... und Arnold versucht genau das, er will mit Emotionen so umgehen, als wären sie Investments ...
Ingmar Bergman, dessen Filme oft im gebildeten Bürgertum spielen, hat treffend dazu gesagt: „Wir sind Analphabeten, wenn es
um Gefühle geht.“
Wie haben Sie Ihre Casting-Entscheidungen getroffen?
MICHAEL KREIHSL: Ich wollte mit Leuten arbeiten, die Zusammenarbeit nicht als Einbahn verstehen, ich wollte mit Natürlichkeitsfanatiker*innen
arbeiten. Ich bin ein Simultanübersetzer des Natürlichen, das ist mein Job und dafür braucht man das passende Gegenüber. Mit
Schauspiel ist es ähnlich wie mit Musik, es gilt eine Bach-Sonate so zu spielen, als sei sie einem gerade eingefallen, als
hätte man sie in diesem Moment erfunden. Mit Samuel Finzi wollte ich schon länger zusammenarbeiten. Er ist ein Vollblut-Schauspieler,
der in Deutschland an vielen großen Theatern spielt. Er hat eine Leichtigkeit im Schweren und umgekehrt. Inka Friedrich ist
mir durch Andreas Dresens Sommer vorm Balkon sehr stark in Erinnerung geblieben. Sie zeigt eine interessante Kombination aus
Kontrolle und Komik. Während Arnold sich ständig windet, spricht sie in klaren Sätzen. Sie ist in ihrer Rolle als Katrin sehr
kontrolliert und analytisch. Pia Hierzegger hat einen untrüglichen Instinkt für die trocken Pointe und eine große Intuition
als Schauspielerin. Sie trägt ein Geheimnis in sich, strahlt eine besondere Aura aus. Thomas Mraz bewegt sich vor der Kamera
wie ein Fisch im Wasser und hat Instinkt für Sensibilität. Ich habe bei ihm nicht das Gefühl meinen Regie-Beruf auszuüben,
ich beobachte und staune.
Das Hin und Her um die Spenderniere führt auf recht komische Weise vor, wie unterschiedlich Frauen und Männer mit einer schweren
Diagnose umgehen. Wie wichtig war Ihnen trotz der dramatischen Umstände immer das komische Moment? Eine Komik, die vielleicht
nur auf halbem Weg lustig ist
MICHAEL KREIHSL: ... und die einem im Hals stecken bleibt. Ich mag den skurril-komischen Aspekt an dramatischen Situationen. Ich beobachte
gerne Menschen z.B. im Kaffeehaus und es genügt, die Körpersprache der Personen zu sehen, um nach einer Minute zu wissen,
wie die Macht- und die Ohnmachtsverhältnisse liegen, ohne nur einen Satz gehört zu haben.
Gute Komödien erzählen von Menschen, die aus ihrer Not heraus herumzappeln und wir unten im Publikum finden das lustig. Komödie
ist immer todernst. Die Figuren müssen ums Leben spielen und ich entlasse sie nie, bevor das nicht gelungen ist. Das Genie
Chaplin war todernst. Es geht in seinen Filmen oft um Armut, um Verfolgung und dann lacht man doch drüber. Lachen als Bewältigungsmechanismus.
Man lacht ja auch oft, weil es gerade nichts zu lachen gibt. In meinem Film spielt Arnold übergangslos den eingebildeten Kranken,
muss sofort umsorgt werden, liegt am Sofa, kann nicht ins Büro, spürt gleich alle Organe und Körperteile. Katrin geht hingegen
analytisch mit der gleichen Situation um, ohne viel Getue. Ich glaube, dass Frauen in vielen Fällen mit einer schwierigen
Situation konstruktiver und lösungsorientierter umgehen. Man sollte nicht generalisieren, aber warum eigentlich nicht, ich
glaube, dass manche Männer viel hysterischer agieren, als Frauen.
Der Film enthält auch zweimal Augenzwinkern auf frühere filmische Arbeiten von Ihnen: ein Plakat von Charms Zwischenfälle
und eine Traumsequenz im Kunsthistorischen Museum, die auf Heimkehr der Jäger verweist.
MICHAEL KREIHSL: Der Ausstatter hat nach einem Filmplakat gesucht und hatte nur Plakate mit knall leuchtenden Farben, die nicht ins Set passten.
Er hat das alte Filmplakat von meinem ersten Film Charms Zwischenfälle bei mir zu Hause gesehen, also hat es seinen Weg aufs
Set gefunden. Charms Zwischenfälle war mein erster Langfilm, der vor allem durch die surreale Komik des Russen Daniil Charms
beeinflusst war. Das war ein skizzenhafter Film, auch sehr komisch, keine ausgeführte Ölmalerei, vielmehr eine Radierung,
gröber und fragmentarischer in gewisser Weise und damit sehr nahe an der Literatur von Charms. Übrigens hat da auch Michael
Haneke mitgespielt, ich glaube sein einziger Filmauftritt bis lang. Risiken und Nebenwirkungen baut da mehr auf zwischenmenschlichen Situationen auf. Aber es gibt auch hier einige surreale, skurrile Momente z.B. im Kunsthistorischen
Museum vor einem wunderbaren Gemälde des Barockmalers Christoph Paudiss.
Eine bewährte Zusammenarbeit besteht seit Wunderübung mit Wolfgang Thaler. Ist das Zusammenspiel von Raum und Menschen, das
in Ihrem letzten Film Die Wunderübung eine große Rolle gespielt hat, auch bei Risiken und Nebenwirkungen eine der wesentlichen Fragen in der gemeinsamen Arbeit gewesen?
MICHAEL KREIHSL: Ich habe mit Wolfgang Thaler schon 1997 zum ersten Mal zusammengearbeitet. Wir kennen uns aus Filmakademie-Zeiten. Wolfgang
hatte übrigens zuvor in den Büros von Daniel Libeskind gedreht und wusste dadurch recht gut über die Stararchitekten Bescheid.
Wir haben uns auch entschieden, ein Breitwandformat zu wählen, um die Räume zu akzentuieren und die Verlorenheit der Personen
in ihnen abzubilden. Wolfgang Thaler gehört zu den Kameraleuten, die eine unglaubliche Empathie zu den Menschen vor der Kamera
entwickeln. Ich habe bei ihm nie das Gefühl, dass die SchauspielerInnen die Kamera spüren. Er vermag es, eine sichere angstfreie
Aura herzustellen, er gibt Sicherheit, es ist nie eine kalte Linse, die beobachtet, sondern ein wohlwollendes menschliches
Auge. Das ist ein wunderbarer Katalysator für Momente im Film, die so wirken sollten, als wäre die Kamera gar nicht dabei
gewesen. Entscheidend war natürlich, gemeinsam mit Wolfang Thaler die optimalen Locations zu finden. Wieviel Schwarz, wieviel
Weiß kommt im Film vor? Gibt es Farben? Wo im Bild sind diese Farben? Monika Buttinger hat da auch in den Kostümen nicht
nur in der Farbigkeit und Konzeption der Figuren eine sehr feine Arbeit geleistet. Das Kostüm unterstützt die Persönlichkeit
der Figur und ist deswegen ein wesentliches Element und Hilfsmittel für die DarstellerInnen.
Am Ende stellt sich heraus, dass gerade im Umfeld des überambitionierten Architekten die gesellschaftlichen wie die familiären
Konstrukte wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
MICHAEL KREIHSL: Arnold hat zwar unaufhörlich Fundamente gebaut, aber vergessen an seinem eigenen Fundament zu arbeiten. Er hat verabsäumt
sich zu fragen, in welchem Zustand sein Beziehungsgebäude ist. Insofern ist es nur die logische Konsequenz wie sich seine
Frau emanzipiert und ihre Schlüsse aus seinem Verhalten zieht. Wir wissen bei keinem der Paare, wie es mit ihnen genau weitergehen
wird, aber wir werden uns beim Verlassen des Kinos die Frage stellen: ... wie ist das jetzt mit mir und meinem Leben?
Interview: Karin Schiefer
Februar 2021