INTERVIEW

«Prinzessin, Kämpferin oder Mutter.»

Mit einem harten Schlag wird Sarah aus dem Ring und aus ihrer Karriere als Martial Arts-Athletin katapultiert. Sie landet als Personal Trainerin in der Luxusvilla eines jordanischen Magnaten und soll dort drei jungen Mädchen die Basics ihrer Kampfkunst vermitteln. Sarahs scharfen Sinnen entgeht es dort nicht, dass sich hinter verschlossenen Türen unterdrückte Stimmen bemerkbar machen. Kurdwin Ayub erkundet in ihrem zweiten Spielfilm MOND die spärlichen Optionen weiblichen Handlungsspielraums und dessen gnadenlose Grenzen.
 

 
Der Einstieg in MOND erfolgt mit einer eindrucksvollen Mixed Martial Arts- Kampfszene und der Niederlage einer bis dahin sehr erfolgreichen Athletin. War Gewalt – die sichtbare und die unsichtbare – eines der Themen, die von Beginn an dem Drehbuch von MOND zugrunde lagen?
 
KURDWIN AYUB:
Ich fand es spannend, dass es eine Protagonistin gibt, die oberflächlich Gewalt will, sich aber in der Realität vor Gewalt scheut. Und es gibt andere Figuren, die vor der Gewalt fliehen wollen, sie teilweise aber hinnehmen und auch keine Angst davor haben. Es geht in meinem Film um violence – drinnen, draußen, an der Oberfläche, tief in einem drinnen oder für die, die Leute zahlen.
 
 
Sie haben Ihre Protagonistin Sarah mit Florentina Holzinger besetzt, einer der renommiertesten österreichischen Choreografinnen und Performance-Künstlerinnen, deren Arbeit bekannt ist für ihre intensive und verstörende Auseinandersetzung mit Schmerz und physischen Grenzerfahrungen weiblicher Körper. Hat Sie ihre Bühnenarbeit für Ihren eigenen Stoff inspiriert?
 
KURDWIN AYUB:
Die Idee zum Film war da und ich dachte dann sehr bald an Florentina Holzinger. Nicht wegen der Gewalt, die sie in ihren Bühnenshows zeigt, sondern eher wegen ihrem eigenen Bezug zu Kampfsportarten. Ich wusste, dass sie selbst Kampfsport ausgeübt hat und sehr bald wuchs in mir die Entscheidung, dass sie die einzige Person war, die ich haben wollte. Ich finde sie von ihrer Präsenz, ihrem Wesen, ihrem Humor immer großartig. Ich caste ja gerne „echte“ Persönlichkeiten. Ich bin also weniger von ihren Shows als vielmehr von ihr selbst inspiriert, von dem, wie sie ist, was sie sagt. Sie hat so eine toughe Persönlichkeit. Ich finde, sie ist eine der coolsten Personen, die es gerade gibt auf der Welt.
 
 
Wie stark war die formale Versuchung, eine thrillerartige Erzählung zu schreiben?
 
KURDWIN AYUB:
Es ist so, dass ich versuche mit Genreelementen zu spielen, weil sie in dieser Thematik sehr oft benutzt werden. Ich denke an Elemente wie White Saviour, Fluchtgeschichten, Horror ...… all diese Elemente wollte ich benutzen, um sie dann zu brechen. Es gibt bei solchen Geschichten sehr oft Happy Endings, die von einer Naivität seitens der Zuschauer:innen ausgehen, die eine Art Hoffnung gibt, dass alles einfacher als in der Wirklichkeit ist. Ich wollte die Geschichte mal real erzählen, deshalb habe ich diese Elemente gebraucht, um sie immer wieder zu ironisieren oder zu brechen. Oft baue ich Erwartungshaltungen auf … und dann passiert es nicht oder es passiert etwas anderes.
 
 
MOND ist vor allem die Erzählung von extrem einsamen jungen Frauen.
Sowohl Sarah als auch die drei Schwestern in Jordanien kennen heute so sehr angestrebte Attribute – Erfolg bzw. Ganz-oben-Sein bei Sarah im Sport, grenzenloser Reichtum bei den Schwestern. Für beide ist dies mit einem Dasein im Käfig verbunden. Wollten Sie auch das Gefängnis und die Leere hinter diesen Konzepten thematisieren?
 
KURDWIN AYUB:
Ich habe die Geschichte von sehr vielen Frauen erzählt, die, egal woher sie geografisch oder sozial kommen, in ihren eigenen Konstrukten oder Hoffnungen, was sie sein wollen, stecken bleiben. Die Mädchen in meinem Film, die in Reichtum leben, sind auch auf eine Weise leer und Österreich ist sehr wahrscheinlich nicht das perfekte Ziel. Sie glauben, dass Sarahs Leben dort besser ist. Für Sarah wirkt es aber nicht so und auch Sarahs Schwester, die eine junge Mutter ist, wirkt ständig unzufrieden. Es gibt nicht so viele Optionen für Frauen: Prinzessin, Kämpferin oder Mutter. Alles ist nicht immer so leiwand.
 
 
Ist MOND ein feministischer Film?
 
KURDWIN AYUB:
Ich denke schon, dass es ein feministischer Film ist. Das hört sich nur gleich auch so plakativ an. Es soll ein künstlerischer Film sein. Es geht in meinem Film um Frauen und – platt ausgedrückt – um ihre Gefängnisse, die sie zum Teil auch selbst konstruieren oder glauben, konstruieren zu müssen.
 
 
Die Option Freiheit scheint es nicht zu geben?
 
KURDWIN AYUB:
Der Film ist leider eher realistisch. Wir leben in einem Wettbewerbssystem, wo jeder gegen jeden ist und die Schwächen des anderen benutzt. Ich erinnere mich an die Lektüre eines indischen Autors, der zur Funktionsweise unserer kapitalistischen Welt geschrieben hat. Er sagt, jeder ist gegen jeden, um zu reüssieren und die Systeme Patriarchat oder Rassismus können nicht bekämpft werden, ohne das Ur-Problem Kapitalismus zu bekämpfen. Der Mensch will ja überleben. Das finde ich spannend und sehr arg. Man kann nicht sagen, ob es irgendwann eine Hoffnung gibt. Vielleicht wenn man reich geboren ist.
 
 
Sarah muss zu Beginn eine große sportliche Niederlage wegstecken. Es entwischt ihr den ganzen Film lang kein Lächeln. Man weiß auch nie, wo bei ihr der Humor aufhört und der Ernst beginnt. Warum zeichnen Sie Sarah so undurchdringlich?
 
KURDWIN AYUB:
Meine Art zu inszenieren ist, dass ich die Charaktere und das Temperament der Menschen, die meine Figuren darstellen, nicht sehr stark verändere. So wie Sarah spricht und auch ihre Art von Humor, das ist Florentina. Was Sarah spricht oder was sie tut, aber nicht. Ich konnte das beim Dreh führen und lenken, es bleibt dennoch auch ein bisschen Florentina. Ihre toughe Körpersprache war sehr wichtig für die Figur. Man fragt sich immer wieder – Mag sie die Schwestern oder mag sie sie nicht? Ich habe jemanden gebraucht, die uns keine einfachen Antworten auf die Frage liefert, warum sie so handelt wie sie handelt. Ich wollte auch, dass man sich immer wieder fragt – Was macht sie denn jetzt? und dabei ein Gefühl der Spannung erzeugt.
 
 
Wie kam es, dass Sie sich für Mixed Martial Arts als die Kampfsportart entschieden haben, in der die Protagonistin ein Champion war?
 
KURDWIN AYUB:
Ich denke, ich habe mich dafür entschieden, weil es die brutalste Form des Kampfsports ist. Das hat mir gefallen. Und es ist ein Sport, der sehr viel männliches Publikum anzieht. Mixed Martial Arts halte ich auch deshalb für eine interessante Sportart, weil Frauen immer auch ein bisschen geil ausschauen müssen, wenn sie miteinander kämpfen. Das finde ich heftig, wenn sich Frauen vor einem vorwiegend männlichen Publikum blutig schlagen und gleichzeitig einen perfekt operierten Busen haben müssen. In Europa ist MMA als Frauensport eher eine Randerscheinung. In den USA ist es viel stärker verbreitet. In Las Vegas-Shows ist da auch sehr viel Geld im Spiel, wirklich lukrativ ist der Sport aber nur in einer fetten Liga. Die Gegnerin von Sarah in der Eröffnungssequenz von MOND ist in Realität eine deutsche UFC-Kämpferin, das ist die oberste Liga. Insgesamt gibt es nicht sehr viele MMA-Kämpferinnen im deutschsprachigen Raum.
 
 
Wie entstanden die Schwesternfiguren? Wie wollten Sie diese Mädchen zeichnen?
 
KURDWIN AYUB:
Es entsteht ein erster Eindruck von den Mädchen, dann entpuppen sie sich als etwas Anderes. Da möchte ich mit den Zuschauer:innen und ihren Erwartungshaltungen spielen. Die Mädchen sind größtenteils von meinen Cousinen inspiriert, so wie sie drauf sind und auch von mir selbst. Ich glaube, dass in jedem Charakter meiner Filme eine Persona von mir drinnen ist – ich hab sie ja geschrieben. Meine Figuren sind ein Gemisch aus den Darstellerinnen und mir, meinen Erinnerungen, meinen persönlichen Geschichten, meiner Familie. Aber mehr will ich nicht verraten.
 
 
Andria Tayeh, die Darstellerin von Nour, einer der Schwestern, ist eine bekannte Influencerin und hat in einer Netflix-Serie gespielt. Wie haben Sie die jordanischen Protagistinnen besetzt?
 
KURDWIN AYUB:
Andria ist eine Influencerin und hat in der Netflix-Serie AlRawabi School for Girls die Hauptrolle gespielt. Ich wollte unbedingt Native-Speakers in Jordanien haben. Es war sehr schwer, weil es dort sehr viele Soap-Schauspieler:innen gibt, was gar nicht meinem Regie-Stil mit Improvisation entspricht. Daher habe ich mich erst in dem Bereich umgeschaut, den man „fresh faces“ nennt, also Leute, die noch keine Set-Erfahrung haben. Der Castingprozess hat ein Jahr lang gedauert, ich bin mehrmals mit unserer Casterin Ulrike Putzer hin- und hergeflogen. Jedesmal, wenn wir uns für jemanden entschieden hatten, wurden wir geghostet, weil die Familien nicht wollten, dass sie mitwirkten. Es war hart. Irgendwann hatte ich Verlustängste entwickelt und niemandem mehr geglaubt, wenn wir eine Zusage hatten. Gegen Ende habe ich mich dann für Andria entschieden. Und von da an, sind auch die anderen beim Projekt geblieben. Vielleicht kam es auch weird rüber, dass wir als europäisches Filmteam auftauchten und junge Frauen casteten. Die Rollen der Schwestern zu besetzen war das Schwierigste am ganzen Filmprojekt.
 

Ambivalent ist auch die Rolle des Bruders: Er ist um seine Schwestern bemüht und gleichzeitig hält er sie in Isolation. Sarah hat strenge Vorgaben, wird aber bei Nichteinhaltung gar nicht streng sanktioniert. Wie kann man ihn einordnen?
 
KURDWIN AYUB:
Er möchte mit der Einladung einer Personal Trainerin einem Wunsch seiner Schwestern nachkommen. Er ist ja den Kriterien seines Systems entsprechend eigentlich ein lieber Bruder. Auch er leidet unter der gesamten familiären Situation. Ich wollte jemanden casten, der in keiner Hinsicht dem Klischee „böser arabischer Mann“ entspricht, sondern der auf seine Weise nach amerikanischem Modell liberal wirkt. Auch er leidet unter dem Übervater, der abwesend ist, aber das Sagen hat. In seiner eigenen Wahrnehmung verhält er sich ja nett und menschlich. MOND soll auch erzählen, dass die westliche Frau dort alles machen darf und dann wieder gehen kann.
 
 
Ist westliche Serviceleister:innen zu engagieren ein gängiges, reales Phänomen?
 
KURDWIN AYUB:
Es ist ein sehr gängiges Phänomen, dass sehr reiche Familien Make-up-Artists oder Kampfsportler:innen als Personal Trainer aus Europa engagieren. Wir hatten mal eine Maskenbildnerin im Team, die ein halbes Jahr in Saudi-Arabien verbracht hatte.
 
 
MOND spielt an zwei Orten, im österreichischen Zuhause von Sarah und in einer Luxusvilla außerhalb der jordanischen Hauptstadt. Ging es Ihnen einmal mehr darum, mit Kontrasten und Klischees umzugehen?
 
KURDWIN AYUB:
Es hat mir immer schon Spaß gemacht, Klischees zu bedienen, zu brechen, ihnen ein bisschen Wahrheit zu geben … einfach damit zu spielen. MOND ist mein zweiter Spielfilm nach Sonne, es gibt Elemente, die die beiden Filme verbinden und eines davon ist das Spielen mit Stereotypen und das Umdrehen von Erwartungshaltungen.
 
 
Was diesen Film prägt, ist eine sehr elliptische Erzählweise: Man erfährt nach manchen einschneidenden Erlebnissen nicht, wie die Figuren unmittelbar damit umgehen. Warum lassen sie starke Momente der Erzählung oft ohne direktes Echo? Wie arbeiten Sie an diesen Lücken gemeinsam mit Editor Roland Stöttinger?
 
KURDWIN AYUB: 
Es gibt Momente, wo ich ganz bewusst nicht erzähle, was unmittelbar danach geschieht. Die Auslassungen entstehen zum Teil schon im Drehbuch, manchmal erst Schneideraum. Roland beginnt bereits mit der Montage, während wir noch drehen, danach im reinen Schnittprozess komme ich meist ein bis zweimal pro Woche dazu und wir überlegen gemeinsam. Wir haben sehr ähnliche Gedanken, Roland und ich, wir sind beide sehr radikal. Ich muss auch sagen, dass ich das Gefühl nicht kenne, irgendwelche Darlings zu haben, von denen ich mich schwer trenne. Ich kann sehr hart wegschneiden.
 
 
Wie hat die Schauspielarbeit funktioniert, insbesondere mit Florentina Holzinger?
 
KURDWIN AYUB:
Wir haben gemeinsam viele Szenen probiert. Szenen, die nicht im Buch sind, sondern ähnliche Szenen. Das habe ich auch mit den Darstellerinnen von Nour, Fatima und Schaima gemacht und auch mit Sarahs Schwester und Freunden. Alle kannten die Geschichte. Besonders wichtig war mir aber, dass alle jordanischen Schauspieler:innen das Buch genau lesen und mit mir darüber sprechen. Es war es so, dass sie das Buch nicht mit nach Hause nehmen durften, sondern es im Büro lesen mussten. Und ich hab gewartet, bis sie fertig waren und mit ihnen darüber gesprochen. Ich wollte nicht, dass sie es mit heimnehmen und sich zu sehr vorbereiten. Bevor die Kamera läuft, sage ich ihnen, was sie tun sollen, die Dialogsätze entsprechen aber ihrer eigenen Sprechweise, da gebe ich nichts vor. Aufbauend auf der Improvisation meiner Darsteller:innen entwickeln wir dann die Szene. Alle wissen sehr genau, was sie tun sollen. Das Wichtigste ist das Casting. Wenn alle gut miteinander auskommen, dann funktioniert es auch beim Drehen. Sie müssen wirklich gut sein und etwas Besonderes haben, um gecastet zu werden. Der Dreh selbst ist dann meistens einfach.
 
 
Wie haben Sie die Dreharbeiten erlebt?
 
KURDWIN AYUB:
Drehen ist für mich grundsätzlich eine gute Zeit. Was in Jordanien anstrengend war, war die Fahrzeit zur und zurück von der Villa, die eine Stunde außerhalb von Amman gelegen ist. Es hat ziemlicher Zeitdruck geherrscht, aber wir haben das Beste daraus gemacht. Alles, was in der Handlung in Jordanien spielt, ist auch tatsächlich in Jordanien gedreht worden. Ich war für die Dreharbeiten durchgehend für mehr als zwei Monate dort und die eineinhalb Jahre davor bin ich immer wieder hingeflogen. In Österreich haben wir nur eine Woche gedreht. Am letzten Drehtag machten wir die Eröffnungssequenz mit dem Zweikampf im Ring als TV-Bilder.
 
 
Wie haben Sie die Musik für den Film gestaltet?
 
KURDWIN AYUB:
Die Musik besteht aus verschiedensten Songs. Ich wollte keinen Soundtrack. Die Songs mussten immer zu den Szenen passen. Der Karaoke-Song, den Sarah zum Schluss singt, ist S&M von Rihanna. Da geht es um Sadomaso, das fand ich lustig. Es beschreibt irgendwie Sarahs Charakter. Aber vielleicht auch den von allen.
 
 
Nach Ihrem Debütfilm Sonne kommt nun MOND. Es zeichnet sich eine Trilogie von Sonne, Mond und …... vielleicht Sternen ab…?
 
KURDWIN AYUB:
Es könnte auch das ganze Universum sein …...
 
 
Welche Überlegungen gibt es zur Trilogie? Gibt es Assoziationen, die Sie zu Sonne und auch zu Mond beschäfigt haben?
 
KURDWIN AYUB:
Sonne und Mond sind Himmelskörper, die Millionen Jahre unverändert oben einfach abhängen, und ganz ruhig auf uns runterschauen, auf uns Menschen, die in der kurzen Zeit, in der wir existieren echt viel Blödsinn machen. Aber vor ihnen sind wir alle gleich.



Interview: Karin Schiefer
Juli 2024
 





«Ich habe die Geschichte von sehr vielen Frauen erzählt, die, egal woher sie geografisch oder sozial kommen, in ihren eigenen Konstrukten oder Hoffnungen, was sie sein wollen, stecken bleiben.»