Der Feminismus ist eine junge Bewegung und gemessen daran eine ziemlich effiziente. Doch trotz aller Errungenschaften und
Dringlichkeiten bleibt er irgendwie ein ungeliebter Begriff. Die Filmemacherin Katharina Mückstein, die den akademischen Feminismus
als prägende Denkschule erlebt hat, vermutet einen Mangel an wissenschaftlicher Expertise in einer emotionalisierten öffentlichen
Debatte. Ihr Dokumentarfilm FEMINISM WTF ist ein in vielen Farben schillerndes Spektrum an Denkanstößen, das für mehr Sachlichkeit in einer drängenden Debatte wappnen
soll.
Radikaler Feminismus, liberaler Feminismus, anarchistischer Feminismus etc. etc. Nikita Dhawan, eine Ihrer Gesprächspartner:innen
in FEMINISM WTF, zählt eine Reihe von Ausformungen des Feminismus auf und meint, sie könne diese Liste noch sehr lange weiterführen.
Welches war der Blickwinkel, mit dem Sie Ihren filmischen Blick auf dieses weite und umfassende Thema richten wollten?
KATHARINA MÜCKSTEIN: In der Anfangsphase lag mein Hauptmotiv darin, dem Umstand, dass feministische Themen in den Medien meistens ohne Expertise
verhandelt werden, etwas entgegenzuhalten. Ich hatte das Gefühl, dass bei einem Thema, das einen feministischen Anstrich hatte,
eine persönliche Meinung dazu genügt hat und niemals Expert:innenwissen gefragt war, das so auch nie den Weg in eine breitere
Gesellschaft findet. Vor meinem Filmstudium habe ich Gender-Studies und Philosophie studiert – eine Erfahrung, für die mir
das Wort „mindblowing“ am treffendsten erscheint; es war für mich überwältigend, zu sehen, dass im akademischen Feminismus
so viele Denkrichtungen und politische Positionen zusammenfinden. Ich habe in dieser Zeit erst richtig erfahren, was dialektisches
Denken ist. Und umso krasser habe ich den Widerspruch erlebt, wie Feminismus in der Gesellschaft besprochen wird, nämlich
als geradlinige Ideologie. Die Art, wie über Feminismus gesprochen wird, birgt bereits ein antifeministisches Interesse in
sich. Im Studium habe ich Feminismus als sehr offen und kreativ erlebt, eine Ideenwelt mit widersprüchlichen Strömungen und
Meinungen. Es war mir ein großes Anliegen, diese Erfahrung, dass der Feminismus eine sehr differenzierte und auch widersprüchliche
Denkschule ist, für Menschen, die an feministischen Ideen interessiert sind, ohne unzählige Bücher zum Thema gelesen zu haben,
zu übersetzen.
Ein Zitat im Film lautet: Feminism is the most successful social movement of our time. Ist das ein Satz, den Sie mit FEMINISM
WTF auch auf den Prüfstand stellen wollen? In dem Sinne, dass wir eher in der Annahme leben, es hätte sich in der Situation
der Frauen viel getan und dies zum Anlass nehmen, um zu überprüfen, wie faktenbasiert die Veränderungen tatsächlich sind?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Feminism is the most successful social movement of our time, ist ein Satz, den ich total ernst gemeint habe. Wenn wir uns
anschauen, wie jung diese Bewegung ist, was sie alles erreicht hat und wie krass sie unser Zusammenleben und unsere Ideen
von Geschlecht und Hierarchien verändert hat, muss man sagen, dass keine soziale Bewegung in so kurzer Zeit so viel geschafft
hat. Ich finde schon, dass es gut und wichtig ist, mit Stolz über die Errungenschaften der feministischen Bewegungen zu sprechen.
Es geht mir auch um ein Reframing. Feminismus ist immer noch ein ungern gebrauchtes Wort. Viele Menschen vertreten feministische
Positionen, bezeichnen sich aber vielleicht nicht so gerne als Feminist:innen.
Sie haben sich bei FEMINISM WTF für das Prinzip der Talking Heads entschieden. Haben Sie auch andere formale Ansätze in Erwägung
gezogen? Hat dieser klassische Ansatz sofort auch impliziert, dass dafür ein sehr pointiertes formales Setting entwickelt
werden muss?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Bei den Statements der Expert:innen in FEMINSIM WTF geht es um ein sehr konzentriertes Sprechen. Mein Ziel war es, Leute
zu finden, die bereit sind, über ihre akademischen Ansätze und das Wissen, das sie sich durch ihre Forschung angeeignet haben,
so zu sprechen, dass es für alle gut verständlich ist. Mein oberstes Anliegen war es, einen Film zu machen, aus dem man möglichst
viel mitnehmen kann. Daher wollte ich mit der Form des Sprechens per se gar nicht weiter experimentieren, ich war eher auf
der Suche nach einem sehr konzentrierten Setting, das dem Film auf einer symbolischen Ebene noch etwas hinzufügt. So kam es
zur Entscheidung, in verlassener kapitalistischer Architektur zu drehen. Der ganze Film ist in leerstehenden Bürohäusern gedreht.
Ich finde das Subversive an feministischen Ideen liegt darin, dass feministischer Aktivismus sich oft aus dem nährt, was die
patriarchale Gesellschaft für sie übrig lässt. Mir gefiel der Gedanke, in ein Haus zu gehen, das aus einer patriarchal-kapitalistischen
Idee heraus gebaut worden ist, um Menschen und ihre Arbeitskraft auszubeuten. Wir nehmen das, was dort an Resten zurückbleibt,
und machen einen Film daraus. Das Setdesign setzt sich aus vielen Fundstücken zusammen und es entstand gemeinsam mit den Setdesignerinnen
die Idee, dass alles wie ein Candy-Wrapping aussehen sollte, in dem ein subversiver Inhalt verpackt ist. So entstanden die
monochromen Sets.
Woher rührt diese Idee des Zuckerlpapiers?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Wir leben nach wie vor in einer Zeit, in der viele Leute schon bei der Nennung des Wortes „Feminismus“ die Augen verdrehen.
Feminismus ist diskreditiert als etwas Staubiges, Sperriges, er gilt als kompliziert und unverständlich und als etwas, das
nur in einer akademischen Blase stattfindet. Das stimmt einfach nicht. Ich gehöre einer Generation an, die durchaus mit Pop-Feminismus
aufgewachsen ist, das wollte ich einerseits weitergeben und andererseits wollte ich einen Film machen, der cool und gut aussieht.
Gab es auch eine Umkehrung des klassischen Settings insofern, als die Gesprächspartner:innen angereist sind, um mit Ihnen
zu sprechen?`
KATHARINA MÜCKSTEIN: Wir haben den ganzen Film in Wien gedreht. Die Expert:innen mussten alle nach Wien anreisen und wurden hier mit einem Kostüm
von uns ausgestattet. Mir war es wichtig, dass das fiktive Haus, das durch diesen Film entsteht, ein Ort des Zusammenkommens
ist. Für die performativen Elemente des Films bildet das Haus etwas wie einen Schutz und es gibt immer wieder auch den Blick
durchs Fenster frei, den ich im übertragenen Sinne als Raum für eine queer-feministische Community verwende. Orte, an denen
man sich trifft, nährt und gegenseitig schützt. Das Ergebnis all der verschiedenen Formen von Diskriminierungen ist letztendlich
Gewalt. Daher ist die Frage nach Schutzräumen eine extrem wichtige. Das Haus hat für mich in der Zeit, in der ich den Film
entwickelt habe, verschiedenste Bedeutungen angenommen.
Ihre Gesprächspartner:innen sind durchwegs Wissenschaftler:innen, warum haben Sie diese Entscheidung getroffen? Aus welchen
wissenschaftlichen Feldern wollen Sie Standpunkte vereinen?
KATHARINA MÜCKSTEIN: In der Auswahl meiner Gesprächspartner:innen war klar, dass ich meinen intersektionalen Ansatz abgebildet wissen wollte, was
bedeutet, dass die sprechenden Personen verschiedene Diskriminierungskategorien repräsentieren. Man muss sagen, dass die akademische
Auseinandersetzung mit einem Thema auch immer wieder einen persönlichen Kern hat. Auch mein Interesse an Feminismus hat natürlich
mit persönlicher Betroffenheit zu tun. Ich glaube, besonders in den feministischen Wissenschaften wird sehr stark reflektiert,
aus welcher Position und aufgrund welcher Erfahrung Wissenschaft hergestellt wird. In meinem Ansatz ist klar, dass es im Feminismus
nicht nur um Geschlecht, sondern auch um andere Diskriminierungskategorien wie Race, Ethnizität, Klasse, sexuelle Orientierung
geht. Ausgehend von diesen Kategorien habe ich mit Expert:innen Kontakt aufgenommen. Ursprünglich, d.h. vor der Pandemie,
wollte ich den Film in englischer Sprache machen und habe meinen ersten Drehblock mit einer australischen Professorin begonnen.
Mit Ausbruch der Pandemie war klar, dass wir die Leute aus den englischsprachigen Ländern nicht nach Wien bringen können und
wir haben den Film neu gecastet und deutschsprachig besetzt. Dieser Schritt hat sich als Geschenk entpuppt, da es die Gelegenheit
war, viele Entdeckungen im deutschsprachigen Raum zu machen. Ich bin auch von der Idee abgekommen, dass ich die großen amerikanischen
Stars brauche, damit sich jemand den Film anschaut. Es war eigentlich ein unfeministischer Gedanke, dass der Ruhm, den jemand
mitbringt, mehr zählt als die Inhalte, die jemand einbringt. Diese Menschen kennenzulernen und die Gespräche zu führen, war
eine unheimlich große Bereicherung.
War es ein wichtiger Aspekt auch Kritische Männerforschung einfließen zu lassen und nicht nur Frauen als Gesprächspartnerinnen
zu wählen?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Kritische Männlichkeitsforschung gehört zu den feministischen Disziplinen dazu und es war mir auch wichtig, Trans-Studies
im Film zu haben. Die Existenz dieser Disziplinen ist vielleicht für Menschen, die nicht so nahe an dem Thema dran sind, überraschend,
es weist aber darauf hin, dass Feminismus kein Frauenthema ist, sondern alle Menschen betrifft, die ein Geschlecht haben –
demnach alle. Deshalb gibt es Menschen aller Geschlechter, die feministische Studien betreiben.
Die thematischen Fragestellungen sind auch durch szenische/tänzerische Elemente strukturiert. Eine der zentralen Aussagen
ist: Jedes Wissen ist verkörpertes Wissen. Repräsentation ohne Körper ist nicht möglich. Liegt der Grund für diese performativen
Elemente in der Absicht, der Körperlichkeit Raum und Sichtbarkeit zu geben? Mit wem haben Sie dafür zusammengearbeitet?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Wenn man sich den Feminismus als soziale Bewegung anschaut, dann speist er sich aus ganz verschiedenen Ebenen. Es gibt das
Private und Allerintimste mit Sexualität und Körper. Dann gibt es den einen Schritt nach außen, der uns zu politischen Wesen
macht, damit meine ich Aktivismus und Haltung. Dann gibt es die Ebene, die mit faktischer Politik und Policy-Making zu tun
hat und dann noch die akademische Ebene. Auf all diesen Ebenen entwickelt sich eine Wahrnehmung darüber, wie wir zusammenleben.
Ich komme zum einen aus einer akademischen, zum anderen aus einer aktivistischen Richtung. Es war mir daher wichtig, mit vielen
verschiedenen Leuten gemeinsam diesen Film zu machen, auch mit Leuten, die bereit waren, ihren Körper in diesem Kontext zu
zeigen. Es gibt im Film körperperformative Sequenzen, die ich in Tanzszenen umgesetzt und auf Augenhöhe mit den Performer:innen
entwickelt habe, immer darauf achtend, worauf sie Lust hatten und sich vor der Kamera zeigen wollten. Weiters haben wir den
Walk of Privilege gedreht – eine Art von sozialem Experiment, wo ca. 20 Menschen mit sehr unterschiedlichen Identitäten mehrere
Fragen gestellt bekommen und eine Art „Wettrennen“ machen, das zeigt, wer mehr oder weniger Privilegien in dieser Gesellschaft
hat. Es zeigt, dass es Privilegien gibt, die an einen Körper gebunden sind und daran, wie man in der Gesellschaft gesehen
wird; darüber hinaus gibt es auch unsichtbare Privilegien wie die soziale Herkunft.
Haben die Performer:innen ihr Eigenes zum Ausdruck gebracht oder haben Sie auch mit einem:r Choreografen:in zusammengearbeitet?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Die Zusammenarbeit mit den Tanzperformer:innen war eigentlich so, dass ich zunächst Gespräche mit ihnen geführt habe, worauf
sie Lust hatten. Wir haben Musik ausgetauscht, basierend auf ihrem Kostümwunsch ein Set aus der gleichen Farbwelt kreiert
und ihnen dann das Set zur Verfügung gestellt, um sich darin zu bewegen, ohne Choreografie. Wir haben sie, sehr spielerisch
im Zugang, einen halben oder ganzen Tag in der Performance gefilmt.
Ebenfalls Teil des Konzepts sind zwei Testsettings: Neben dem Walk of Privilege, auch das Experiment, in dem zwei Babys so
angezogen werden, dass sie mit dem jeweils anderen Geschlecht konnotiert werden. Welchen Platz nehmen diese Testanordnungen
im Film ein?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Ich habe in der Entwicklung dieses Films viel darüber nachgedacht. Ich halte solche sozialen Experimente in manchen Fällen
für sehr wirkungsvoll. Bei dem einen Experiment haben wir Babys ganz rosa bzw. ganz blau angezogen und ließen Erwachsene vor
der Kamera mit ihnen interagieren. Wir haben uns angesehen, wie die Menschen mit dem Baby umgehen, je nachdem, ob sie es für
ein Mädchen oder einen Jungen halten. Ich denke, es wirft für die Zuschauer:innen automatisch die Frage auf, wie sie selbst
in dieser Situation handeln würden. Eltern stellen sich die Frage, wie gehen andere mit meinen Kindern um, wie gehe ich selbst
mit meinen Kindern um? Ich glaube, dass diese Art von Experimenten, das Publikum ins Geschehen ziehen. Das Experiment mit
den Babys hat unheimlich gut funktioniert. Ich dachte davor, dass niemand so konservativ sein würde, mit einem rosa gekleideten
Baby nur mit den Puppen zu spielen. Ich musste dann aber feststellen, dass selbst ich, zu einem Kind, wenn es in einer bestimmten
Farbe angezogen war, gleich ein anderes Gefühl hatte. Meinem Team ging es ebenso. Ideen davon, wie ein rosa oder ein blau
gekleidetes Kind ist, stecken offensichtlich in uns allen drinnen.
Es kommen viele Zitate vor, manche davon sind in Schrift gefasst – in Kombination mit den Interviewsituationen nimmt die Sprache
eine sehr wesentliche Funktion ein. War es Ihnen stets bewusst, wie sehr das Wort eine tragende Rolle in dieser Thematik und
in der Zielsetzung des Films spielt?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Sprache ist ein stark umkämpftes Feld, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht. Ganz klar prägt Sprache die Wahrnehmung
und Gestaltung von Wirklichkeit. Das Weitertragen des feministischen Wortes ist das Grundanliegen dieses Films. Drei Zitate
im Film sind von Audre Lorde, bell hooks, Alok Vaid-Menon, Ich hoffe, dass Leute, die den Film sehen, sich inspiriert fühlen,
sich weiter, vielleicht vertiefend mit diesen Persönlichkeiten auseinanderzusetzen. Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt,
ob ich auch einen historischen Zugang zum Film brauche. Soll ich die Ideengeschichte von dem erklären, was wir heute zu feministischen
Themen diskutieren? Ich bin aber immer wieder an den Punkt gelangt, dass ich einen Film machen wollte, der nach vorne gerichtet
ist. Ich wollte keinen Film machen, der auf die antifeministischen Ideologien, die wir so stark internalisiert haben, reagiert.
Ich wollte nichts von dem aussprechen, was ich in der Vergangenheit lassen möchte. Interessanterweise haben auch alle meine
Interviewpartner:innen bei unseren Erstgesprächen darauf hingewiesen, dass sie nicht erklären wollten, wie das Patriarchat
funktioniere, sondern zeigen, was wir tun. Das feministische Wort soll im Mittelpunkt stehen, alles andere kennen wir eh viel
zu gut. Es war erleichternd und bereichernd, innerhalb des Teams von FEMINISM WTF von einer großen Gruppe umgeben zu sein,
die alle daran interessiert war, nach vorne zu gehen.
Wie kam es zum Titel FEMINSIM WTF, vor allem zum Zusatz „What the f***“?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Der Filmtitel FEMINISM WTF kommt vielleicht auch daher, dass ich, als ich begonnen habe, an diesem Film zu schreiben, sehr
genervt war. Ich habe mir die Frage gestellt, wie lange wir wohl noch Bildungsarbeit leisten müssen, bis wir in einer Mainstream-Zeitung
eine vernünftige ausdifferenzierte Expert:innen-Meinung zu einem feministischen Thema lesen können und keine Polemik. Es zeigt
sich gerade in aktuellen Diskussionen, wir sehr wir uns in Empörungszyklen bewegen und die Frage, wie wir als Gesellschaft
weiterkommen, wird viel zu wenig bearbeitet, weil viel zu wenig auf die vorhandene Expertise zurückgegriffen wird. Feministisches
Wissen wird viel zu oft verdrängt. Aus diesem Ärger und dem Gefühl „What the f*** – Was soll das?“ hab‘ ich von Beginn an
mit diesem Titel gearbeitet und er wird letztlich bis ins Kino mitgenommen.
Sie stellen Ihren Gesprächspartner:innen am Ende die Frage nach ihrer Zukunftsvision in 100 Jahren. Wohin könnte/sollte es
in einer kurz- bis mittelfristigen Perspektive gehen?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Mein größter persönlicher Wunsch für die Entwicklung der Welt wäre der Wunsch, dass wir uns darauf besinnen, dass „Care“ –
also die Fürsorge für uns und den Planeten – der wichtigste menschliche Wert ist. Eine patriarchal-kapitalistische Ideologie
hat uns dahin gebracht, wo wir jetzt feststecken. Wir haben vergessen, aufeinander und auf die Verletzlichsten und Schwächsten,
auf unseren Lebensraum zu achten, und haben uns so in eine Richtung entwickelt, die wir nicht überleben können. Die großen
Fragen unserer Zeit benötigen den Feminismus und feministische Expertise, um zu einer Lösung zu finden. Wir werden ohne Feminismus
keine Zukunft haben. Ich war überrascht, dass all meine Expert:innen, egal aus welcher Denkrichtung sie kommen, das in ähnlicher
Weise formuliert haben: Man kann Themen wie Ökologie, soziale Gerechtigkeit, das Hinterfragen von Kapitalismus als übergeordnetes
System, Patriarchat, Geschlechtergerechtigkeit nicht auseinanderhalten, sie sind sehr eng miteinander verstrickt.
Was war für Sie, bei all der langen Auseinandersetzung mit dem Thema Feminismus während der Dreharbeiten ein Input, der auch
Sie nochmals in eine neue Denkrichtung gelenkt hat?
KATHARINA MÜCKSTEIN: Ich kann mich selbst nicht ausnehmen von dem, was ich zuvor schon über die Expert:innen gesagt habe. Meine Interessensgebiete
sind sehr stark von dem geprägt, wie ich bin und wie ich zur Welt stehe. Ich bin eine weiße, privilegierte, gebildete Europäerin;
mein feministisches Wissen war lange Zeit sehr stark auf das reduziert, was ich selbst bin. Wie Paula Villa-Braslavsky im
Film sagt: Feminismus bedeutet auch, mal den Mund zu halten und zuzuhören und die Positionen von Leuten zu hören, die eine
andere Erfahrung gemacht haben, als ich selbst. Für mich gibt es am meisten zu lernen aus den Trans-Studies und dem postkolonialen
Feminismus. Also Perspektiven, die fordern, Geschlecht in seiner Vielfalt als Normalität anzuerkennen einerseits und andererseits
Perspektiven, die eine eurozentrische Sichtweise auf die Welt kritisieren und die brutale Geschichte europäischer Kolonialpolitik
in Erinnerung rufen als Basis dessen, wo die Welt heute sozial und ökonomisch steht. Ich komme ja aus irgendwie bildungsbürgerlichen
Verhältnissen und für mich war es irritierend, beispielsweise die großen Denker der europäischen Aufklärung durch die Brille
der postkolonialen Kritik zu sehen. Diese Männer haben über Freiheit gesprochen und dabei nur sich selbst gemeint. Frauen
und Menschen of Color waren dabei ausgeschlossen. Dafür haben sie eine „Wissenschaft“ betrieben, die festschreiben sollte,
dass Menschen, die keine weißen cis-Männer sind, weniger begabt, weniger intelligent, weniger wert sind. Und wir berufen uns
heute ungebrochen auf diese Männer und nehmen sie als Referenzpunkt für europäische Identität, während wir gegenüber dem Rest
der Welt die progressivsten Menschen überhaupt darstellen wollen. Ich glaube also, dass wir diese Selbstbezogenheit in Europa
unbedingt auflösen müssen und die nächsten hundert Jahre am besten einfach nur zuhören sollten.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2023