Andrea hätte es versucht: eine Polizeikarriere im eigenen Dorf, ein Ehemann mit Hang zum hochprozentigen Getränk, eine Schwiegermutter
unterm selben Dach, ein Vater mit beginnender Demenz. Sie war für alle Kompromisse bereit, um ihr Leben am Land einzurichten.
Irgendwann reicht es dann doch, aber da tritt das Schicksal auf den Plan. Josef Hader erzählt in seinem zweiten Langfilm
ANDREA LÄSST SICH SCHEIDEN von einer Provinz, in der es vor lauter flacher Landschaft und niedrigen Häusern kein Entrinnen gibt.
Der Einstieg in ANDREA LÄSST SICH SCHEIDEN zeigt eine nicht gerade typisch österreichische Landschaft – weit, flach, zart
hellgrün. Mitten durch zieht der Asphalt eine Schneise: Der Asphaltstreifen scheint wie ein Schicksalsfaden, das Auto – der
Schicksalsort eines österreichischen Provinzlebens. War das Auto als der identitätsstiftende Faktor eines (männlichen) Landlebens
auch ein konstituierendes Element der Geschichte?
JOSEF HADER: Das Auto ist am Land oft Quelle der Schicksalsschläge und deswegen gibt es ziemlich viele davon in meinem Film. Einerseits
gab es den Gedanken, einen Film in einer Art Provinz zu machen, die nicht genau verortet ist, die aber meine Provinz ist,
wie ich sie im Kopf habe und in meiner Kindheit bis zum 20. Lebensjahr erlebt habe. Anderseits wollte ich mit diesem Film
auch ausprobieren, wieviel bzw. welche Art von Komödie möglich ist, wenn im ersten Viertel des Films etwas Schlimmes passiert.
Das waren die beiden Ideen, die am Beginn dieses Filmprojekts gestanden sind.
Eine Geschichte aus der Provinz folgt auf die urbane Erzählung Wilde Maus. Wie sollte dieses „Land“ in ANDREA LÄSST SICH SCHEIDEN
aussehen? Wo haben Sie die passende Landschaft, das passende Dorf gefunden?
JOSEF HADER: Ich wollte eine Landschaft, die nicht so viele Elemente hat. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist es filmisch besser, das Wichtigere
aber ist der Umstand, dass die Leute weniger davonlaufen können. In einer Ebene, wo viele Äcker und niedrige Häuser sind,
ist man einander viel mehr ausgesetzt als in einer wilden Berglandschaft. Es ist in Österreich ganz schwierig, kleine Ortschaften
zu finden, die nicht über Jahrzehnte so grauenhaft verschandelt worden sind, dass sie gar nichts mehr aussagen. Da ist es
grundsätzlich egal, in welche Richtung man in Österreich geht; wichtig war zu schauen, wo wirtschaftliche Entwicklung in den
sechziger, siebziger und achtziger nicht allzu stark stattgefunden hat. Deswegen kann man nur in hohen Gebirgsdörfern drehen,
wo keiner Geld zum Bauen gehabt hat oder man begibt sich an den ehemaligen Eisernen Vorhang. Die Ebene, der Horizont, die
Menschen vorm Horizont, die nicht davonlaufen können und der Gedanke, in einer Gegend zu drehen, wo in den letzten fünfzig
Jahren nicht das große Geld daheim war, führen automatisch Richtung Ostösterreich. St. Pölten war irgendwann mal gesetzt als
Un-Ort, der so viele verschiedenartige Gesichter hat, dass es keine zusammenhängende Stadt im Film sein kann. Das St. Pölten,
das wir sehen wollten, war das des technokratischen Regierungsviertels, wo anthrazitfarbene Architektenträume in den Himmel
ragen. Sozusagen die „ganz arme Großstadt“. Ich bin zuerst allein herumgefahren und musste feststellen, dass um St. Pölten
alles zu zersiedelt und zu ziseliert war. Richtung Waldviertel liegt eine Hochebene, die wie ein Labyrinth ist, wo man nichts
verorten kann, erst dann habe ich die Hochebene zwischen Wald- und Weinviertel in der Gegend Eggenburg, Pulkau entdeckt. Dort
haben wir die meisten Landschaftsaufnahmen gedreht. Bei der Suche nach dem Dorf landet man irgendwann bei den Straßendörfern
im östlichen Weinviertel, wo es auch nicht so lieblich ist. Das Feine dort ist – filmisch betrachtet –, dass es nur Straßenfronten
gibt, keine Blumen, keinerlei Verzierungen, auch keine Parkplätze, weil die Straßen so eng sind, dass keine Autos stehen bleiben
können. Das ist filmisch spannend: Nackte Straßendorf-Vorderseiten, das ganze Leben spielt sich von der Straße abgewandt im
Hof ab und über den oft nur eingeschossigen Häusern
der Himmel.
Unvermutete Entdeckungen in der österreichischen Landschaft.
JOSEF HADER: Für mich war es eine Landschaft, die ich nur vom Durchfahren kannte, wenn ich für Auftritte nach Berlin gefahren bin. Es
sind Wege, die so ins Wellental hinunter und wieder raufgehen. Man hat immer das Gefühl, „Vorsicht beim Überholen!“, denn
jeden Moment könnte ein entgegenkommendes Auto aus dem Boden auftauchen, weil es so gerade Wege mit Kuppen und Senken sind,
dass man nicht sagen kann, ob die vor einem liegende Straße eine gerade Linie ist oder ob da nicht doch Senken und Kuppen
dazwischen liegen.
Die Frauen ziehen weg und die Männer werden immer komischer, sagt einer der Männer im Film. Der halsstarrige, einsame Bauer,
der demente Vater, der Waffennarr, der sich verbarrikadiert, aggressiver und stiller Alkoholismus, die permanente, mehr oder
weniger plumpe Anmache. Haben Sie versucht, ein Psychogramm der männlichen Befindlichkeit am Land zu zeichnen?
JOSEF HADER: Es ist mein Blickwinkel von Provinz, wobei ich glaube, dass das kein rein österreichisches Phänomen ist. Diese Art von Provinz,
wo Männer übrigbleiben, die sich dann – oft mit Waffen, auf alle Fälle mit Alkohol – verschanzen, könnte man von Brandenburg
bis Frankreich erzählen. Die Provinz ist nichts Österreichisches, sondern ist sehr europäisch. Auch der Niedergang der Landwirtschaft
bedingt dadurch, dass nur noch die großen Landwirtschaftsfabriken von der EU gefördert werden, immer weniger Geld bleibt und
kaum noch jemand bereit ist, diese Arbeit zu machen, ein Leben ohne Urlaub zu leben. Da bleiben oft Menschen einfach übrig.
Menschen, die sich von der Gesellschaft zurückziehen wollen, weil sie auf sie beleidigt sind oder vielleicht sogar einen Hass
auf sie haben, ziehen auch eher aufs Land. Es sammelt sich dort etwas an, was es in Amerika schon länger gibt, nämlich dass
man am Land doch recht verhaltensauffällige Menschen treffen kann. Auch weil dort Platz ist für sie, ich sehe das auch positiv.
Wenn mein Film auch ein Psychogramm von Menschen am Land ist, dann hoffe ich, dass rauskommt, dass es keine bösen Menschen
sind, sondern Elefanten im Porzellanladen. Sie haben durch ihr Aufwachsen schon so eine dicke Haut dort bekommen, dass sie
Mitmenschen beschädigen, ohne dass es ihnen auffällt. Ganz naiv. Sie meinen’s total gut, aber verletzen dadurch. Ich möchte
auf keinen Fall den Eindruck erwecken, am Land sind die Bösen daheim und in der Stadt die Guten. Das wäre mir nicht lieb.
Es ist mir eher darum gegangen, diese Art von Lebensform, die ich in meinen ersten zwanzig Jahren erlebt habe, zu beschreiben:
Wie ich es erlebt habe, wie ich es von heute aus sehe, was es mit mir gemacht hat. Ich musste auch immer aufpassen, dass es
nicht zu grob für mich wurde, und zwar von Kindheit an.
Andrea hat nette, aber etwas beschränkte Kollegen, einen saufenden Ehemann und eine Schwiegermutter, mit der sie unter einem
Dach lebt. Dass sie gehen muss, scheint klar. Die konkreten Umstände für das Weg-Müssen überlassen Sie unserer eigenen Phantasie.
JOSEF HADER: Andrea wollte ursprünglich bleiben. Das unterscheidet sie von mir und vielen anderen, die schon in der Jugend beschließen,
in ihrem Dorf nicht alt zu werden. Andrea hat dort Existenz probiert, Partnerschaft probiert und sie hat sich sogar entschlossen,
als Frau und Polizistin dort zu arbeiten, wo sie die Leute kennt, was nicht viele tun. Die meisten Polizist:innen versuchen
dort zu arbeiten, wo sie niemanden kennen, weil sie genau solche Probleme vermeiden wollen, die entstehen, wenn man als Polizist
einem bekannten Menschen gegenübersteht. Sie hat sich fürs Dorf entschieden, hat es versucht und ist jetzt zum Entschluss
gekommen, dass sich der Kompromiss, den sie mit dem Land schließen wollte, für sie nicht ausgeht. Sie ist gerade am Weggehen,
doch das wird ihr versperrt.
Der kleine Zufall wird in ANDREA LÄSST SICH SCHEIDEN zur schicksalhaften Konsequenz und es ergibt sich das Paradox: Wäre Andi
besoffen mit dem Auto heimgefahren, wäre es für ihn sicherer gewesen als zu Fuß nach Hause zu wanken. Hat Sie das Spielen
mit der kleinen, aber umso fataleren Entscheidung gereizt?
JOSEF HADER: Mich interessieren Geschichten, wo etwas passiert, das Menschen unter Druck bringt oder sie zwingt, Dinge zu lösen mehr als
Geschichten von Menschen, die sich ein Ziel suchen und das dann durchziehen. So empfinde ich mein eigenes Leben nicht und
ich glaube auch nicht, dass Leben so ist. Leben funktioniert für mich so, dass man schaut, was daherkommt und versucht alles
halbwegs so zu lösen, dass es für einen passt. Sich Ziele zu setzen, die von so vielen anderen Faktoren abhängen, die man
selbst nicht beeinflussen kann, das ist etwas, was ich vermeide, weil ich dem nicht traue. Da steht das Scheitern schon am
Horizont. Und ich mag auch keine Geschichten über Menschen mit Zielen schreiben. Ich schreibe lieber Geschichten mit blöden
Zufällen
und über patscherte Leben.
Die Hauptfigur Andrea, die als Polizistin am Karrieresprung steht, wird vom Schicksal in die Bredouille gebracht. Wollten
Sie von Beginn an eine weibliche Hauptfigur? Birgit Minichmayr verkörpert eine Frau, die völlig undurchschaubar ist. Was haben
Sie von ihrem Spiel erwartet? Wie haben Sie gemeinsam die Rolle dieser hermetischen Figur erarbeitet? Worin sehen Sie die
Stärken der Schauspielerin Birgit Minichmayr?
JOSEF HADER: Frau als Hauptfigur wollte ich unbedingt. Frau am Land halte ich für spannender als Mann am Land. Andrea, die versucht hat,
als Frau den Kompromiss mit dem Land zu schließen und sich dafür eine ordentlich dicke Haut hat wachsen lassen, die bewusst
darauf verzichtet, mit „weiblichen“ Mitteln am Land Erfolg zu haben, sondern die sich entschlossen hat, ihr Leben zu leben,
so wie sie das gerne möchte, marschiert da wie ein Cowboy durch den Film. Wir finden es nicht bemerkenswert, wenn Männer sehr
inwendig spielen und man nicht genau weiß, was in ihnen vorgeht. In dem Moment, wo eine Frau das macht, finde ich es so richtig
spannend. Man ist es so gewohnt, dass Frauen ihre Gefühle nach außen tragen, dass Andreas Art irritierte Reaktionen auslöst.
Man weiß ja in der Tat nicht, was in ihr vorgeht.
JOSEF HADER: Das Wichtige ist, dass es spannend bleibt. Wenn die Frage, wie es Andrea gerade geht, zu jeder Zeit im Film spannend ist,
dann muss man es auch nicht verraten. Birgit Minichmayr und ich, wir kennen uns seit Der Knochenmann und wir wissen, dass
wir gut harmonieren. Ich hatte sie beim Schreiben immer im Kopf und gehofft, dass es ihr gefällt. Sie ist eine Schauspielerin,
die alles kann, die aber nicht alles spielt. Das ist ganz wichtig. Jedes Drehbuch ist nur eine Vorlage. Die besten Kritiker:innen
eines Drehbuchs sind kluge Schauspieler:innen, die die Figur nochmals abklopfen und sagen, was die Figur in einer Situation
macht oder eher nicht macht. Birgit kann man vertrauen. Sie wie auch andere Darsteller:innen haben der Geschichte noch einmal
etwas dazugegeben, was im Drehbuch bestenfalls angelegt war.
Warum ist Frau am Land spannender als Mann am Land?
JOSEF HADER: Land ist eine männerdominierte Welt, stärker als in der Stadt. Männer haben nur dann ein Problem, wenn sie dem Bild nicht
gerecht werden, was Männer am Land zu sein haben. Frau am Land finde ich spannender, weil es da ganz unterschiedliche Methoden
gibt, wie Frauen in so einer Gesellschaft agieren und sich behaupten. Da muss man sich etwas einfallen lassen, wenn man da
Dinge durchsetzen will und in gewisser Weise ein selbstbestimmtes Leben leben will.
Sich selbst haben Sie wieder eine Figur auf den Leib geschrieben, die einer alten, schwindenden, wenn nicht schon verschwundenen
Welt angehört: Der Religionslehrer Leitner glaubt noch zu wissen, wo in St. Pölten die Plattenläden zu finden sind und ist
im Dorf einer, der nicht dazu gehört. Er spielt aber auch eine ambivalente Figur, die möglicherweise eine Art Doppelleben
führt.
JOSEF HADER: Franz Leitner ist ein Außenseiter. Eigentlich der spannende Mann am Land, der nicht erfüllt, was Männer am Land können müssen
und deswegen ist er jetzt, ohne es bewusst entschieden zu haben, ein alter Narr. Er findet das nicht schlimm. Er hat auch
keinen Karriereplan, so wie Andrea. Er ist ziemlich einsam und durch das, was ihm im Film widerfährt, lebt er eigentlich auf,
obwohl es eine große Zumutung ist. Irgendwie lebt er mit dieser Schuld auf. Vielleicht gar nicht so sehr, weil er als Katholik
ein Instrumentarium hat, mit Schuld gut umzugehen, es rührt sich endlich wieder etwas in seinem Leben. Er lebt eher auf, für
Andrea wird es immer schwieriger. Es gibt wohl einen Punkt, wo zwei Außenseiter:innen, die grundverschieden sind, einander
ganz gut helfen und voneinander lernen können. Ich habe bei Franz nicht das Gefühl, dass er eine schwarze, abgrundtiefe Seite
in sich trägt. Er ist eigentlich ein Netter. Ich kann mir vorstellen, dass irgendwann mal eine zarte Beziehung entstanden
ist und als nichts daraus geworden ist, hat zu saufen begonnen. Für mich ist er eher ein Geprügelter als ein Abgründiger.
Man könnte allerdings die Frage stellen, wo er in der Nacht noch mit dem Auto unterwegs war. Das wird nie aufgeklärt.
Das Zweiergespräch, sei es im Auto, auf der Bank oder Schaukel, im Wohnzimmer
ist das wiederkehrende Setting von ANDREA LÄSST
SICH SCHEIDEN. Warum gibt es diesen Fokus auf den Austausch zwischen zwei Menschen als szenische Grundform?
JOSEF HADER: Es ergibt sich aus der Geschichte. Es beginnt ja mit einer großen Geburtstagsfeier, dann beginnt für Andrea ein Doppelleben,
wo sie einerseits Polizeidienst tut, andererseits versucht, Spuren zu verwischen. Intuitiv glaube ich, dass ich in einem Film
gerne eine schlanke Struktur habe, wo es auf direkte Konfrontationen heruntergebrochen ist. Ich bin wahrscheinlich weniger
daran interessiert, wie Familien funktionieren. Wahrscheinlich bin ich persönlich nicht so dran interessiert (lacht). Meistens
geht es in meinen Zweierkonstellationen um Menschen, die nicht offen sein können, die das Zu-zweit-Sein nicht dafür verwenden
um zu kommunizieren. Es geht meistens um die Unmöglichkeit von Kommunikation, weil man vor dem anderen etwas geheimhalten
will oder weil man, wie es bei Franz der Fall ist, zu betrunken ist, um zu kommunizieren. Es geht immer um missglückte Kommunikation.
Was Sie ganz unterschwellig ins Soziogramm einziehen, ist der Umgang mit der Pandemie: Ein Bauer hat sein Vieh verloren, weil
er es, vom Fieber ans Bett gefesselt, im Stich lässt anstatt um Hilfe zu bitten; ein anderer sperrt sich samt seinen Waffen
im Haus ein, nur das Spital in der Landeshauptstadt vermittelt über die Maskenpflicht, dass wir in der Pandemie sind. Schwingt
hier leise mit, was die Pandemie mit uns, mit der Gesellschaft gemacht hat?
JOSEF HADER: Mein Eindruck ist, dass die Pandemie Dinge verstärkt hat, die bereits da waren. Egal, ob Vereinsamung, Verbitterung, das
Gefühl, benachteiligt zu sein, das Misstrauen in die Nachrichten, all das hat es vorher schon gegeben. Schon vor der Pandemie
herrschte eine Konjunktur von Verschwörungstheorien, es ist nur inzwischen so stark angestiegen, dass am es nicht mehr vor
Augen hat. Man hat die Jahre vergessen, wo Trump Präsident und die Welt schon ziemlich durcheinander war. In ANDREA LÄSST
SICH SCHEIDEN ist die Pandemie am Horizont. Ich finde es gut, dass sie ein bisschen da ist. Wir hatten die Wahl, beim Dreh
im Krankenhaus Masken zu verwenden oder nicht. Ich hielt es für spannend, es in einer Zeit zu verorten, wo das noch eine Rolle
gespielt hat. Es herrscht keine totale Pandemie, kein Lockdown, nur in zwei Szenen blitzt es aus. Das ist genau genug. Die
Szene, wo die Polizei an der Tür des Waffennarren läutet und er sich weigert zu kooperieren, ist auch da, weil ich die vielen
unnötigen Kilometer erzählen wollte, die bei der Polizeiarbeit gemacht werden müssen. Ich habe mich natürlich mit Leuten unterhalten,
die diese Arbeit machen. Das Vorrangigste unter den Dingen, die sie an ihrem Beruf nerven, sind die vielen Kilometer, die
sie zurücklegen müssen, weil blinder Alarm ist oder sie aus bestimmten Gründen an ihrer Arbeit gehindert werden.
Ein spannender Punkt ist bei Ihren filmischen Erzählungen immer der Umgang mit der Musik: Sie steigen in den Film mit einer
Sängerknaben-Chorfassung der oberösterreichischen Landeslandeshymne ein. Welche Prämissen galten diesmal beim Einsatz der
Musik?
JOSEF HADER: Die Prämisse war ganz klar Chormusik wie in Wilde Maus. Die Musik sind die Szenen und ihre Tonalität, ihr Rhythmus, ihre Atmosphären.
Am Land die Live-Musik in der Senioren-Disco oder die Musik, die Andrea im Auto hört. Dann habe ich nach einer Ouverture und
dabei nach Heimatliedern gesucht. Hoamatland, die oberösterreichische Landeshymne, mit diesem Text, ist einfach die beste
Ouverture für diese Art von Provinz. Es klingt weniger wie Filmmusik, sondern beginnt eher wie ein Theaterstück: Ein Chor
singt und dann – Auftritt. Von allen Varianten, die ich durchprobiert habe, ist mir diese dann am schlüssigsten erschienen.
Andrea hört im Auto immer Bilderbuch, das ist der moderne Gegenpart.
Der Umgang mit der „Schuld“ bleibt sehr offen. Der Lehrer wird nicht zum Sündenbock, was man kurz annehmen könnte. Nachdem
sich Andrea stellt, wird sie von ihrem Umfeld nicht verurteilt, was ihr als Frau am Land hätte blühen können. Die Weite der
Felder eröffnet hier plötzlich Möglichkeiten, die im Kontrast zur dörflichen Enge stehen. Vielleicht ist Land gar nicht der
Inbegriff der Engstirnigkeit?
JOSEF HADER: Wenn man diese Straßendörfer anschaut, dann gewinnt man ja nicht den Eindruck, dass die Menschen miteinander leben, sondern
sie sehen sich vielleicht im Supermarkt, in der Apotheke, bei der Tankstelle, früher auch in der Kirche, aber das kommt kaum
noch vor und das erzählen die Straßendörfer so gut – im Grunde ist kaum jemand auf den Straßen. Warum auch? Es gibt ja nichts.
Alle leben nach hinten in ihren Innenhöfen, weg von der Gemeinschaft. Land ist nicht der Ort, wo die Menschen mehr miteinander
zu tun haben. Land ist vielleicht ein Ort, wo man sich die Menschen weniger aussuchen kann, mit denen man zu tun hat; in der
Stadt können wir uns leichter in eine Blase begeben. In einer kleinen Ortschaft kann man sich nicht so leicht zerstreiten.
Wenn man nicht einer Meinung ist, dann wird das am Land überspielt, vielleicht mit einem Witz und dann wechselt man das Thema,
weil man sich eben nicht zerstreiten kann. Die Vorfälle in ANDREA LÄSST SICH SCHEIDEN, haben ja nichts mit einem kaltblütigen
Mord zu tun, sondern es ist eine sehr patscherte Angelegenheit: Was sind die großen Folgen? Der, der über den Liegenden drüberfährt,
kann ihn schon gar nicht gesehen haben. Er hat vielleicht einen Menschen umgebracht, aber wer genau ist schuld? Natürlich
wird es Menschen geben, die einem alten Alkoholiker unterstellen, dass er hätte bremsen können, wenn er nicht das wäre, was
er ist. Was erwartet Andrea am Schluss, wenn sie weggeht? Die Frage ist nur, ob sie mehr als ein Jahr bekommt, dann könnte
sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Sie hat gegen einige Regeln verstoßen, aber die Tragik liegt nicht im Dramatischen. Die
Tragik liegt darin, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Dinge wollen und dann passieren manchmal
Zusammenstöße. Das ist die Tragik. Aber das ist nicht sonderlich dramatisch. Ich mag das.
Das Land – so wie Sie es im ersten und im letzten Bild erfassen – Ort der Enge oder Ort der Weite?
JOSEF HADER: Das ist wirklich Ansichtssache. Mir geht es weniger um Enge oder Weite, sondern darum, dass ich, wenn ich will, in Ruhe gelassen
werde, und daher bin ich lieber in der Stadt, weil man am Land viel leichter gestört werden kann. Thomas Bernhard hat extra
einen Vierkanthof in Oberösterreich renoviert und ist immer gestört worden. Dann hat er ein Haus noch weiter im Wald drinnen
gekauft. Die wenigen Störungen, die dort passiert sind, waren dann noch störender als die am Vierkanthof. Schließlich war
er eigentlich recht glücklich in Wien im 19. Bezirk bei seinem Lebensmenschen und hat dort am ruhigsten leben können. So ist
es. Die Enge der Provinz ist in den Köpfen und das hat mit Geografie nichts zu tun.
Interview: Karin Schiefer
Dezember 2023