Die Tochter des letzten Königs von Rumänien hält Hof in Bukarest und bereist per königlichem Zug die Republik, um ihrer Verbundenheit
mit dem Volk Ausdruck zu verleihen. Die aktuelle Regierung lässt das zu, ohne sie zu legitimieren. Johannes Holzhausens The Royal Train begleitet eine Prinzessin ohne Portefeuille in ihrem Streben, mit inszeniertem Pomp ein Kapitel rumänischer Geschichte in
die Gegenwart zu holen, das nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Ende gefunden hat.
Die jüngere Geschichte Rumäniens verbinden wir aufs Erste mit der kommunistischen Diktatur und der Ära Ceauşescu. Die monarchistische
Geschichte des Landes ist uns viel weniger bekannt. Können Sie uns zum Einstieg einige Eckdaten geben?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Rumänien wird gerne mit zwei Dingen in Verbindung gebracht: mit Ceauşescu und Dracula. In Wahrheit ist es ein wunderschönes
und reichhaltiges Land mit einer sehr ausdifferenzierten Gesellschaft. Bukarest steht Wien grundsätzlich in nichts nach, ist
aber voller sichtbarer und unsichtbarer Narben. Hinter der Bildung der Monarchie, die erst Mitte des 19. Jhs. entstanden ist,
stand im Grunde der lange gehegte Wunsch, ein Teil von Westeuropa zu werden. Man holte einen Prinzen aus einem deutschen Adelshaus
und machte ihn zum König. Diese kleine Dynastie hielt sich bis kurz nach dem 2. Weltkrieg; obwohl schon die Kommunisten an
der Macht waren, blieb König Mihai I. noch zweieinhalb Jahre das Staatsoberhaupt. Erst 1947 musste er das Land verlassen und
ging ins Exil in die Schweiz. Sein Vater spielte eine eher unrühmliche Rolle während der Diktatur Antonescu, der ein Verbündeter
Hitlers gewesen war. Als 1944 die Rote Armee vor der Tür stand, hat Mihai I. die Seiten gewechselt, einen Friedensvertrag
mit der Sowjetunion gemacht und so die eigene Haut, aber auch das Land gerettet. Nach der Revolution 1989 versuchte er ins
Land zurückzukommen – es gibt Archivaufnahmen mit ihm auf einem Hotelbalkon in Bukarest, wo ihm angeblich eine Million Leute
zujubeln. Im ersten Chaos war er kurzfristig eine Option für eine mögliche Staatsform, die aber dann vom neuen starken Mann
der postkommunistischen Ära, Ion Iliescu, schnell abgestellt wurde.
In welcher Form fanden die königlichen Zugfahrten statt und wie erfuhren Sie von deren Wiederaufnahme?
JOHANNES HOLZHAUSEN: In Zeiten, als ein Land noch nicht von den Medien durchdrungen war, waren die Zugfahrten für Repräsentanten des Königshauses
eine bequeme Form, auch die entferntesten Winkel ihrer Reiche zu gelangen. Die königlichen Züge, die es auch in anderen Königshäusern
gegeben hat, bestanden aus normalen Eisenbahnwaggons mit luxuriöser Ausstattung; im Falle Rumäniens geschah das in den dreißiger
Jahren. Ich habe bei der Archivrecherche den Eindruck gewonnen, dass diese Fahrten, von denen es ja Filmaufnahmen gibt, sehr
häufig stattgefunden haben. Wenn die heutigen rumänischen Royals diese Fahrten wieder aufnehmen, dann ist das auf einer visuellen
Ebene eine Form der Kontinuitätsbehauptung. Diese Fahrten sollen einerseits zeigen, dass man den Kontakt zum Volk immer wieder
sucht, andererseits zieht der Zug immer noch eine Linie zwischen dem Souverän bzw. Pseudo-Souverän und der Masse, die an den
Bahnhöfen zujubelt. So nahe kommt ihnen die Landbevölkerung bei keiner anderen Gelegenheit. Von der Wiederaufnahme erfuhr
ich durch einen persönlichen Bezug. Da Prinzessin Margarita eine Cousine zweiten Grades zu mir ist, haben meine Eltern vor
wenigen Jahren Kontakt zu ihr geknüpft und wurden auf eine solche Zugfahrt eingeladen. Bei der Kinopremiere meines letzten
Films Das große Museum kamen sie gerade von dieser Reise zurück und mein Vater zeigte mir auf seinem Handy Fotos. Ich bin aus allen Wolken gefallen,
dass in einer Republik eine solche Veranstaltung stattfinden kann. Es war so absurd und so filmisch zugleich. Bereits in diesem
Moment dachte ich, das ist mein nächster Film. Einen Monat später war ich im Bukarester Palatul Elisabeta eingeladen, der
Prinzessin Margarita als Tochter des ehemaligen Staatsoberhauptes von der Regierung zur Verfügung gestellt wird und damit
auch Teil der königlichen Inszenierung ist. Als ich am Abend von Radu, Margaritas Mann, im Salon, begrüßt wurde, fühlte ich
mich in der Rolle eines Bittstellers. Nichts geschieht in einer Begegnung mit ihnen auf Augenhöhe und die Fassade, die sie
sich da aufgebaut haben, hatte ihre Wirkung bei mir voll entfaltet. Ich war eingeschüchtert. Wie sehr die Etikette und das
ganze Regelwerk in Wirklichkeit handgestrickt sind, war dann allerdings bald zu durchschauen.
Wann und unter welchen Bedingungen ist Prinzessin Margarita nach Rumänien zurückgekehrt?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Da ihr Vater zu Beginn nicht mehr ins Land einreisen durfte, hat sie als älteste Tochter, ihren Job bei der UNO in Rom aufgegeben
und ist nach Rumänien zurückgekehrt. Ihr Motiv war, zwischen ihrem Vater und dem Land wieder eine Verbindung herzustellen
und die Lage im Land zu sondieren. Sie hat eine karitative Stiftung ins Leben gerufen und am Anfang eine ganz bescheidene
Rolle gespielt. Das hat sich Mitte der neunziger Jahre geändert, als sie den rumänischen Schauspieler Radu Duda geheiratet
hat. Sie war in der Schweiz aufgewachsen, hat in Schottland studiert, in Italien gearbeitet, kannte das Land nicht und sprach
auch kein Rumänisch. Die Einbindung ins Land hat dann ihr Mann übernommen. Sie hatte die Legitimität, er das Wissen. In dieser
Kombination wurde ihr Anspruch ambitionierter und politischer. Sie würde ihren Wunsch, Königin von Rumänien nie aussprechen,
aber das Bestreben geht in diese Richtung. Eine Republik mit einer quasi Königin hielt ich für eine hochinteressante Situation,
umso mehr als sie seltsamerweise breite Akzeptanz genießt. In Rumänien füllt die königliche Familie ein Vakuum aus. Sie steht
einer politischen Kaste gegenüber, die weit über die rumänischen Grenzen hinaus für ihre Korruptheit bekannt ist. Wenn in
dieser katastrophalen Situation eine öffentliche Person etwas wie moralische Integrität repräsentiert und für Werte eintritt,
die bei den Politikern nicht zu finden sind, dann ist das interessant. Das erklärt die erfolgreiche Resonanz der Zugreisen
auf dem Land.
Es gibt im Film eine sehr vielsagende Einstellung, wo Margarita eine Rede im Parlament hält. Sie ist flankiert von der rumänischen
und der EU-Fahne, oberhalb von ihr ein Adler und ein Kreuz. Wie sehr bringt dieses Bild die vielschichtige und widersprüchliche
politische Situation des Landes zum Ausdruck?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Wenn man ganz genau schaut, befindet sich über dem Kopf des Adlers auch noch eine provisorisch montierte Krone. Der Adler
wurde immer wieder adaptiert, es hat schon eine monarchistische und eine kommunistische Variante gegeben. Zur Zeit ist es
eine republikanische Variante – mit Krone. Die Postkommunisten, die sich Sozialdemokraten nennen und zur Zeit an der Macht
sind, arbeiten eng mit den Royals zusammen und haben ihnen im Dezember 2018 per Gesetz sogar ein Budget zugesprochen. So werden
sie aber auch zu einem Spielball der Politik. Gerade erfreuen sie sich an dieser legitimierten finanziellen Zuwendung, unter
dem vorigen Regierungschef dagegen das Hinauswurf aus ihrem Bukarester Domizil im Raum.
Wie standen Margarita und Radu zum Filmprojekt?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Da Prinz Radu ein ehemaliger Schauspieler ist, war die Neigung zum Medium Film naheliegend. Ihre Bekanntheit beschränkt sich
ja auf Rumänien. Von dem Filmprojekt erhofften sie sich, ihre eigene Agenda weiterzuverfolgen und gleichzeitig internationale
Aufmerksamkeit zu erhalten. Das bedeutete in der einjährigen Drehzeit immer ein Ringen zwischen ihnen und mir. Ich versuchte
ihnen auf einer Ebene nahezukommen, wo die Inszenierung auch als Inszenierung erlebt wird und vor allem wollte ich auch etwas
von ihrer Persönlichkeit erfassen, was sehr schwierig war, weil sie da völlig abblocken. Sie schwankten zwischen Vertrauen
(„Das ist ja mein Cousin, der da filmt“) und dem Bedenken („Das ist ja ein fremder Filmemacher, den wir nicht kontrollieren
können“). Das war sozusagen mein Boxring, in dem ich mich bewegt habe.
Ist der Titel THE ROYAL TRAIN in seiner Doppelbedeutung vom Zug, aber auch dem, was sich in der Gefolgschaft der Royals tut,
zu verstehen? Wie sehr steht der königliche Zug als Symbol für eine separate Welt, die sich abgekapselt von der Realität durchs
Land bewegt.
JOHANNES HOLZHAUSEN: Der königliche Zug ist ein fahrender Palast durch Industrieruinen und vormoderne Dörfer, zwei Welten die sich kurz streifen.
Bei unserem ersten Treffen erzählte mir Radu, dass er die Zugfahrten wie Bühnenauftritte erlebte. Das war der Auslöser für
meinen Zugang, den Zug als Bühne und die Bahnhöfe als Zuschauerräume wahrzunehmen. Die Linie, die dabei gezogen wird, das
ist mein Thema. Ich wollte, dass sie als Schauspieler und ihr Publikum quasi als eine Gemeinschaft wahrgenommen werden. Die
ambivalente Beziehung zwischen den beiden Kräften reizte mich. Die Bevölkerung möchte für ein paar Minuten – länger dauert
so ein Bahnhofsaufenthalt nicht – die hohen Tiere aus der fernen Hauptstadt sehen, sie wiederum betrachten die Menschen als
ihr untertänigstes Publikum. Die beiden binden bei den Fahrten sehr geschickt die lokalen Politiker ein und spielen auf zwei
Ebenen – der des Volkes und der der Politik – ein doppeltes Spiel. Ihr Rechtsanwalt erklärte mir einmal, dass sie bei einem
Referendum wahrscheinlich abgelehnt würden, würde aber die Regierung sie einsetzen, dann hätten die Menschen nichts dagegen.
Das Wechselspiel Royals/Volk, Bühne/Publikum, das sehr oft auch ein Innen/Außen ist, kommt sehr gut auch durch die Kamera
zum Ausdruck, die immer wieder beide Perspektiven erfasst. Wie schwierig war dafür die Koordination der Kamerateams?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Alles, was sie tun, dient der medialen Selbstdarstellung. Sie haben stets einen Fotografen dabei und eine Website wird ständig
mit Bildmaterial gespeist. Jede Handlung folgt der Logik des Abgebildet-Werdens. Ursprünglich hatte ich die Struktur des Films
so geplant, dass ich zwischen den Stationen immer eine Geschichte erzählen wollte. Ich hatte daher auf jedem Bahnhof ein Kamerateam.
Manchmal hat die Koordination zwischen innen und außen ganz toll funktioniert, manchmal ist es total daneben gegangen. Dass
Făgărăs zu einem der Hauptorte wurde, hat viel mit der Kameraarbeit von Michael Schindegger zu tun, der selbst auch Regisseur
ist und der dort großartige Bilder eingefangen hat. Die Qualität des Materials bestimmt dann natürlich auch die Richtung,
in die sich der Schnitt bewegt. Manchmal mussten wir durch die beiden Perspektiven Acht geben, dass wir uns nicht gegenseitig
filmten, was umgekehrt durch die Omnipräsenz von privaten Kameras gar nicht wirklich aufgefallen wäre. Es war eher schwierig,
so etwas wie eine privilegierte Kameraposition zu bekommen. Wenn ich bei der Einfahrt in den Bahnhof einen freien Blick auf
den roten Teppich wollte, dann mussten sich die Royals hinter mich stellen und auf ihren Auftritt warten. Diese Zugreise von
Sinaia bis Sibiu war der Drehbeginn, alle weiteren Szenen wurden danach aufgenommen.
Ging es darum, durch die Gespräche mit anderen Menschen ein Gegengewicht zu schaffen?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Es gibt z.B. eine lange Szene in Moldawien, wo Frauen im Dorf über die Statue diskutieren, die enthüllt wird. Diese Szene
ist mir sehr wichtig, weil sie von der historischen Erfahrung der Menschen erzählt. Sie knüpft an etwas an, das durch den
Kommunismus völlig abgeschnitten wurde. Es ist für mich weniger ein ideologischer als vielmehr ein lebensnaher Zugang. Die
Royals benützen solche Anlässe für ihre Agenda, während mit der Enthüllung einer Büste für die Dorfbevölkerung ein wichtiges
Bruchstück aus ihrer Geschichte wieder hergestellt wird. Für das königliche Paar ist das Volk nur eine abstrakte Größe, während
mir der Historiker Adrian, der quer durchs Land auf der Suche nach Relikten aus der Monarchie ist, mich zu Menschen gebracht
hat, die etwas Erlebtes erzählen konnten, deren Leben in Gefahr war, weil sie den König bewundert hatten. Adrian ist als Protagonist
sehr vielschichtig. In ihm arbeiten verschiedenste Kräfte – von Bewunderung bis Distanz. Er lebt für etwas, das früher besser
war oder mit dem er Werte verbindet, die er in der Gegenwart nicht findet. Er ist ja zu jung, um es erlebt zu haben. Er verehrt
eine reine Fiktion und verkörpert einen Idealismus. Er steht zwischen zwei Welten und deren Projektionen. Im Laufe des Films
bewegt er sich hin zu einer Metapher, als jemand, der sich durch die Geschichte gräbt. In einer der letzten Szenen ist er
in einer verfallenen Villa, die in kommunistischen Zeiten als Kinderheim gedient hat. Die Mosaike, die man an der Wand sieht,
sind typische Darstellungen aus dem sozialistischen Realismus – einer weiteren inzwischen untergegangenen Epoche. Allen Versuchen
zum Trotz, auch diese Jahrzehnte in Vergessenheit geraten zu lassen, gräbt Adrian auch in diesem Teil der Vergangenheit seines
Landes weiter. Die Spuren verwehen, er versucht sie irgendwie festzuhalten.
Eine wichtige Szene ist die Unterhaltung zwischen der Bürgermeisterin und der Bahnhofsvorsteherin, die darauf hinweist, dass
der Bahnhof kein Palast und als Institution zu respektieren sei. „Wir sollten uns ganz normal verhalten“, schlägt sie vor.
Gehört sie mit ihrer Haltung nicht einer Mehrheit an, von der wir im Film nicht viel sehen?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Ich finde die Bahnhofsvorsteherin toll, weil sie kritisch dem ganzen königlichen Spektakel gegenüber steht, denn ein Bahnhof
ist ihrer Meinung nach schließlich für alle da. Aber jemand, der so klar und sachlich eine Gegenposition bezieht, war die
Ausnahme. Der königliche Haushalt schickt einen Brief an den Bürgermeister mit der Ankündigung der Ankunft und einem Protokoll
dem gemäß alles vorzubereiten ist. Und alle machen mit größter Selbstverständlichkeit mit! Seit dem Tod ihres Vaters nennt
sich Margarita „Ihre Majestät“ und „Hüterin der Krone“. Sie erfinden neue Titel und alle pflichten ihnen bei. Die Positionen
im Land schwanken zwischen Bewunderung und Gleichgültigkeit. Dadurch, dass sich das königliche Paar die Mühe macht, in diese
gottverlassenen Dörfer zu gehen, verleihen sie diesen von der Politik gemiedenen Orten Bedeutung. Die Leute sind stolz darauf,
besucht zu werden. Woher sollen sie wissen, dass sie für die Agenda der Royals benutzt werden?
Die Eröffnungsszene spielt im Büro des Bahnhofsvorstehers, wo gerade ein Schichtwechsel stattfindet. Es ist ein Alltags- und
auch Ablöseritual, das bereits stellvertretend für eines der Leitmotive des Films steht – das Ritual, das Zeremoniell. Gleichzeitig
macht dieser Film so frappierend bewusst, wie leer Pomp und Protokoll bleiben, wenn sie nicht mit Legitimation aufgeladen
sind. War dies letztlich der Kern ihrer filmischen Suche?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Der beobachtende Dokumentarfilm zeigt, was eigentlich nicht sichtbar sein soll. Er kann hinter dem Offensichtlichen, dem
intendierten Zweck eine neue Ebene sichtbar machen. Als Zuschauer kann ich zwischen die Bilder schauen und etwas ganz anderes
entdecken. Deshalb liebe ich diese Form des Filmemachens so, weil es praktisch einen Gegendreh generiert, eine Gegenkraft
wirksam macht. Die Zeremonien, die die Bedeutung dieser beiden Menschen erhöhen sollen, kehren gleichzeitig die Mechanik,
die Zweckhaftigkeit und auch die fehlende Legitimität hervor, obwohl beide Seiten mit heiligem Ernst mitspielen. Am Anfang
des Films steht als Einstimmung und im Gegensatz dazu ein für uns etwas absurdes Ritual, das sicherstellt, dass der Dienst
am Bahnhof nüchtern angetreten wird.
THE ROYAL TRAIN ist auch auf einer abstrakteren Ebene zu verstehen, insofern als er auch der Frage nachgeht, wie sich Geschichte
und Geschichtsschreibung im Bewusstsein der Menschen verankert und vor Augen führt, mit welcher Diskrepanz historische Realität
in ein kollektives Bewusstsein Einzug findet.
JOHANNES HOLZHAUSEN: Es geht um Geschichtsdeutung. Vielleicht liegt auch einer der Gründe, weshalb Osteuropa so interessant ist, darin, dass
Vergangenes noch nicht Teil einer allgemein gültigen Geschichtswahrnehmung geworden sind. Es gibt ein Ringen um die Bedeutung
der vergangenen Ereignisse. Margarita und Radu sind Teil dieses Ringens. Sie wollen eine eigene Geschichtsschreibung initiieren,
die ihren Interessen dient. So wie zuvor die Kommunisten ihre Geschichtserinnerungen erschaffen haben, in denen die königliche
Familie überhaupt nicht vorkam. Ich hatte auch im Zuge eines anderen Projekts mit rumänischen Historikern zu tun, wo mir bewusst
wurde, wie sehr sie in der Frage verstrickt sind, was sie als Nation eigentlich ausmacht. Selbst die Wissenschaftler stecken
in der Falle, dass sie sich von der nationalistischen Politik nicht befreien können. Dieses Ringen um Geschichte ist wie eine
offene Wunde und lässt – und ich glaube, das betrifft auch andere osteuropäische Länder – eine tiefe Verunsicherung und ein
Minderwertigkeitsgefühl durchschimmern.
Auch die letzte Szene ist eine sehr prägende Szene. Der Sarg von König Mihai I. wird im Zug transportiert, an den Bahnhöfen
stehen die Menschenmengen im Dunkeln und nehmen Abschied von ihm. Hatten Sie im Zuge der gesamten Dreharbeiten das Gefühl,
einer Sache beizuwohnen, die langsam zu Grabe getragen wird?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Aus meiner Sicht besteht Margaritas moralische Legitimität einzig und allein darin, die Tochter eines einst legitimen Königs
zu sein. Am Ende des Filmes, wenn dieser König tot ist, ist auch der Hauch ihrer Legitimität verschwunden. Die Zugfahrt mit
dem Sarg ihres im Schweizer Exil verstorbenen Vaters führte an den Ort der Grablegung der Könige außerhalb von Bukarest und
dauerte ungefähr vier Stunden. Diese Fahrt war ein Ereignis, bei dem es mir wirklich kalt über den Rücken gelaufen ist. Niemand
hat mit der Reaktion der Menschen gerechnet. Mihais Tod ereignete sich zu einem Zeitpunkt, wo wir schon eine fertige Schnittfassung
hatten. Natürlich musste ich da nochmals drehen. Margaritas und Radus Geschichte hatte für mich schon in der Szene geendet,
wo sie im Zuge einer Geburtstagsfeier des zu jenem Zeitpunkt noch lebenden Königs auf dem Thron sitzen und quasi zu Puppen
werden. Im goldenen Käfig, den sie sich selbst gezimmert haben, werden sie zu Statuen. Sie sind nicht mehr sie selber, ihre
Persönlichkeit hat sich aufgelöst und sind nur noch Ikonen oder Abziehbilder. Man könnte sagen, es geschieht ihnen recht.
Im Angesicht des Todes von Margaritas Vater bekommt es aber eine tragische Wendung. Das Ende des Films macht ja deutlich,
dass sich ihre Ambitionen nie erfüllen können, weil sie an das Vergangene nicht anknüpfen kann, während der König, der hoch
betagt mit 96 Jahren gestorben ist, es verkörperte. Das liegt einfach am Schicksal. Er hatte sowohl Hitler als auch Stalin
gekannt, er war Träger des höchsten sowjetischen Ordens. Seine Person trug die Verbindung zu etwas, das es früher gab, in
sich. Die Szenen, die ich im Zug mit dem Sarg gefilmt habe, sind meiner Meinung nach die privatesten Momente, in denen ich
die Prinzessin je erlebt habe. Da ist sie die Tochter, voller Schmerz über den Verlust ihres Vaters. Aber nicht nur. Die gesamte
staatspolitische Konstruktion bricht zusammen. Sie tritt wie am Anfang des Filmes ans Zugfenster, spielt aber nicht mehr die
souverän winkende Thronanwärterin, sondern sie ist schüchtern. Sie hat in diesem Augenblick ihre Rolle verloren und weiß nicht
mehr, wer sie ist. Als sie auf die andere Seite tritt, sind da nur noch Lichter, die sich auflösen und alles wird zur Chimäre.
Sie winkt keinen Menschen mehr zu.
Auch wenn Ihnen ein Zufall dieses Thema zugetragen hat, verweist es doch auf ihre beiden anderen Dokumentarfilme: In Auf allen Meeren wird die verlorene Größe eines Reichs thematisiert; THE ROYAL TRAIN ist gewissermaßen eine Fahrt in ein lebendes Museum
und spannt daher einen Bogen zu Das große Museum. Wie sehr bewegt Sie immer wieder das Thema des unausweichlichen Verlusts der Vergangenheit und ihre Konfrontation mit der
Gegenwart?
JOHANNES HOLZHAUSEN: Ich will mich jetzt nicht selbst analysieren. Ich empfinde uns Menschen als geschichtliche Produkte. Die Welt, in der wir
leben, ist eine gemachte Welt, keine gegebene. Ich fühle mich mit Adrian sehr verbunden, weil er an den Oberflächen kratzt
und darunter liegende Schichten sichtbar macht. Das nehme ich auf einer persönlichen Ebene innerhalb der Generationen, aber
auch auf einer gesellschaftlichen Ebene wahr. Dahinter steht immer die Frage „Was macht uns aus?“ Ein unerschöpfliches Thema.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2019