INTERVIEW

«Unterdrückung, das war einmal.»

Frauen, denen nach Freiheit ist und Religionen, die das zu verhindern wissen, sind die beiden Kräfte, die in GIRLS & GODS gegeneinander ziehen. Die feministischen Aktivistin Inna Shevchenko begibt sich in viele Städte und auf die Suche nach Standpunkten – von Gläubigen und Ungläubigen, von Frauen, die ihre Religion leise von innen her aufbrechen und solchen, die diese laut und radikal herausfordern und vor allen auch von jenen, die für ihre Haltung alles aufs Spiel gesetzt haben. Dialog statt Dogma ist der Grundton eines Versuchs den Blick für Pluralität als einzigen Vektor zur gesellschaftlichen Veränderung zu schärfen.

Ein Gespräch mit Inna Shevchenko, Arash T. Riahi und Verena Soltiz

 
Inna, Sie haben den Anstoß für das Filmprojekt GIRLS & GODS geliefert. Sie haben sich immer klar als „Girl vs God“ positioniert und damit Ihre These unterstrichen, dass Religion und Feminismus unvereinbar sind. Ist es eine Überinterpretation meinerseits oder spiegelt diese Nuance von „vs" zu "&" die grundlegende Idee dieses Films wider?

INNA SHEVCHENKO:
Sie lesen den Titel exakt so, wie er gemeint ist. Die Ausgangsidee ist tief in meinem langjährigen Aktivismus verwurzelt – einem Aktivismus, der sich immer gegen Machtstrukturen, die Frauen zurückdrängen, gestellt hat. Ich definiere mich als rebellische, feministische Atheistin. Aber die Entscheidung, Film als Medium zu wählen, entsprang dem Bedürfnis, über bloße Slogans, über einfache Antworten hinauszugehen. Nach Jahren, in denen ich der Welt mit knappen, klaren Statements entgegengetreten bin, war ich an einem Punkt angelangt, wo ich merkte, dass ich nicht mehr weiterkam, ohne tiefer gehende Fragen zu stellen. Dieser Film mit all seinen Gesprächen ist kein Reflektieren über meinen Aktivismus – er ist seine Weiterentwicklung. Deshalb heißt er nicht Girls vs. God, sondern Girls & Gods. Die grundlegende Idee war, in die Tiefe zu gehen, die komplexe Beziehung zwischen dem historischen Gegensatzpaar – freie Frauen und Gott der organisierten Religionen – zu erforschen. Der Film verweist auch auf den feinen Grat zwischen Hingabe und Aufbegehren. Im Zuge dieser Reise ist mir bewusst geworden, wie klein der Abstand zwischen der absoluten Hingabe an etwas unendlich Großes und Ungreifbares und dem des Infrage-Stellens sein kann, manchmal geschieht es sogar innerhalb der Strukturen der Religion. Wir haben den Film GIRLS & GODS genannt, weil wir nie die Absicht hatten, eindeutige Antworten oder Glaubenshaltungen in den Raum zu stellen. Er soll Komplexität und sogar Widersprüche zulassen. Denn genau das macht echte Diskussionen erst möglich. Von Anfang an haben wir GIRLS & GODS als einen Debatten-Film bezeichnet – wir verstehen ihn nicht als Film, der Antworten liefert, sondern als einen, der uns veranlasst, die richtigen Fragen zu stellen.

 
Verena und Arash, ihr seid die beiden Regisseure von GIRLS & GODS. Wie habt ihr als Team zu dritt zusammengefunden? Wer brachte welche Inputs ein?

ARASH T. RIAHI:
Ich war von Anfang an eingebunden und habe Inna ermutigt, diesen Fragestellungen nachzugehen. Religion beeinflusst mein Leben seit meiner Kindheit. Wir mussten vor einer islamistischen Regierung aus dem Iran fliehen, wir haben mehrere Familienmitglieder verloren, weil sie nicht gläubig waren. Und andererseits sind da meine Großeltern, die gläubig sind und niemals jemandem etwas zuleide tun würden. Als ich sie 2005 für meinen Dokumentarfilm Exile Family Movie in Saudi-Arabien wiedersah, sagten sie: „Wenn wir einen echten Islam hätten, hättet ihr nicht fliehen müssen.“ Sehr oft habe ich den Ausdruck „echter Islam“ gehört. Was bedeutet das? Jeder meint, den Anspruch auf die richtige Interpretation zu haben. Wenn jemand wie Inna nach so viel radikalem Protest und feministischem Aktivismus ihre Hand ausstreckt, um progressive Stimmen innerhalb dieser Religionsgemeinschaften zu treffen, da dachte ich mit, das ist genau das, was wir in unserer aktuellen Situation brauchen. Wir dürfen die Welt nicht nur mit einer utopischen Vision betrachten, sondern wir müssen uns auch darauf konzentrieren, welcher Kampf sich als realistisch erweist. 95 % der Menschen sind pazifistische Gläubige, die einfach nur ihre Religion ausüben wollen. Wir sagten uns: Machen wir die Frauen sichtbar, die versuchen, das System von innen heraus zu verändern." Ich kenne Verena Soltiz und arbeite mit ihr seit zwanzig Jahren. Wir schätzen ihre Frische, ihre visuelle Herangehensweise und ihren kreativen Input für das gesamte Projekt. Ein Projekt mit dieser weiblich geprägten Thematik sollte auch geschlechtermäßig ausbalanciert sein, und es war für uns naheliegend, Verena einzubeziehen ...

VERENA SOLTIZ: ... und wir sind immer noch Freunde, nach all unseren vielen Debatten, die sich absolut gelohnt haben. Es war eine sehr inspirierende und intensive Zusammenarbeit.

INNA SHEVCHENKO: Ich muss sagen, ich habe das Streiten immer den Regisseur:innen überlassen (lacht). Die künstlerischen Entscheidungen lagen bei ihnen. Selbst auf künstlerischer Ebene war es immer ein Debatten-Film. Als Autorin des Dokumentarkonzepts bestand meine Rolle nicht nur darin, die Erzählung und die dramaturgische Struktur des Films zu gestalten – es ging um ein vollständiges Eintauchen meinerseits. Ich musste Teil der Debatten werden, sie nicht nur beobachten, sondern aktiv einsteigen. Es ging darum herauszufordern, zu provozieren, die Fragen weiterzutragen, die mich schon immer beschäftigt haben – und auf die Antworten, auf die wir unterwegs trafen, reagieren. Das Endergebnis geht auf einen wirklich kollektiven Prozess zwischen uns dreien zurück. Dieser Film überlässt keiner Seite einen einfachen Sieg – es ging nie darum zu gewinnen. Wir wussten, dass wir es mit einem kontroversen und heiklen Thema zu tun hatten. Ich brachte mein Narrativ ein, ich stehe dazu und ich kämpfe dafür – aber von Anfang an haben waren übereingekommen, dass keines der Narrative im Vordergrund stehen würde. Diese Offenheit reichte bis in den Schnittprozess hinein – jede Entscheidung war Teil der Debatte. Dieser Film war von Anfang bis Ende als Dialog konzipiert.

 
Eines der grundlegenden visuellen Elemente dieses Films ist die Präsenz von Kunst: Skulpturen, Karikaturen, Fotografie, Körperkunst, Wandmalereien mit feministischen Themen, Literatur, Musik ... Ihr verwendet eine sehr breite Palette künstlerischer Ausdrucksformen. Warum habt ihr Kunst als den Vektor ausgewählt, um euch diesem Thema zu nähern?

INNA SHEVCHENKO:
Das war Verenas Beitrag.

VERENA SOLTIZ: In unserem Film wird sehr viel geredet und es kommen Menschen mit sehr klaren Haltungen zu Wort. Eines unserer Ziele war es, Menschen eine Stimme zu geben, die normalerweise in Filmen nicht vorkommen. Ich dachte, dass „visuelle Meinungen“, die durch Kunstwerke ausgedrückt werden, auch wichtig sind und manchmal auf direkterem Wege das Herz berühren können. Wir wollten Dichter:innen, Musiker:innen, Graffiti-Künstler:innen usw. eine Bühne geben, die auf ihre Weise einen Diskussionsbeitrag leisteten und wir waren dabei auch um Ausgewogenheit bemüht. Es war einfacher, religionskritische Künstler:innen  zu finden, als solche, die sich religionsfreundlich ausdrückten. An jedem Ort, an dem wir gedreht haben, suchten wir nach künstlerischen Arbeiten, die einen Beitrag zum Thema leisteten. Jedes Kunstwerk hat seine eigene kleine Geschichte.

INNA SHEVCHENKO: Der Rückgriff auf die Kunst fühlte sich natürlich an – denn sie ist tief im politischen Aktivismus verwurzelt. Ich komme aus einer Kultur, in der Aktivismus nicht nur im Bereich der Sprache stattfindet, sondern auch durch Performance, Störaktion und Symbolik. Wer starre Kontrollapparate herausfordern will, muss erfinderisch sein – denn oft ist Kreativität der einzige Weg, um einer Gegenposition Ausdruck zu verleihen, wenn direkter Protest sofort zum Schweigen gebracht wird. Kunst bietet Raum, um das zu sagen, was gesagt werden muss, auf eine Weise, die nicht so leicht zensiert werden kann. Kunst steht in direktem Gegensatz zu Propaganda. Propaganda drängt Gewissheit auf – Kunst wirft Fragen auf. Sie gibt keine Antworten vor, sondern lädt Menschen dazu ein, ihre eigenen zu suchen. Das war zentral für diesen Film. Darüber hinaus ging es aber auch um die Künstler selbst. Während wir auf Konferenzen Reden hielten, trafen wir auch unglaubliche Künstler, die ihre Arbeit als eine Form des Widerstands nutzten. Ihre Präsenz im Film war nicht nur beabsichtigt – sie war essenziell.

ARASH T. RIAHI: Eine Parallele zwischen den Frauen, die versuchen, religiöse Institutionen von innen heraus zu reformieren, und denen, die offen gegen Religion sind habe ich aauch der Kunst entdeckt. Religionen standen immer im Dialog mit der Kunst. Man findet wunderschöne Gemälde in Kirchen etc …, doch gleichzeitig waren Künstler oft in Opposition mit  Kirche und Religion. Denken wir an die Mitglieder von Charlie Hebdo, die aufgrund ihrer künstlerischen Arbeit ermordet wurden. Das stellt die Macht der Kunst unter Beweis, und genau deshalb musste Kunst Teil dieses Films sein. Wir wollen das Bewusstsein für die vielen Kleinigkeiten schärfen, die eine Botschaft tragen, allein wenn man durch die Straßen geht.

 
Kunstwerke ermöglichen es, Widersprüche in einem einzigen Bild zu verdichten. Ich denke an die Eröffnungssequenz, die künstlerisch gestaltete Vulven in einer Kirche zeigt, was einen progressiven und provokativen Dialog zwischen Kirche und Feminismus impliziert. Die Tatsache, dass sie auf Metallstäben ausgestellt sind, verleiht dem Ganzen jedoch auch etwas Gewaltvolles. Warum haben Sie diese Bilder als Eröffnungsszene für GIRLS & GODS gewählt?

VERENA SOLTIZ:
Es handelt sich um eine Installation der österreichischen Künstlerin Ina Loitzl. Eine große Zunge wurde im Klagenfurter Dom ausgestellt, mitgetragen vom sehr aufgeschlossenen Pfarrer, Peter Allmaier. Nachdem sie aufgebaut war, lancierten Hunderte Menschen eine Online-Petition, in der sie die Entfernung der Installation forderten und betonten, dass der Dom durch das Kunstwerk entweiht würde. Der Priester gab dieser Forderung nicht nach, weil es ihm ein Anliegen war die Wichtigkeit, Frauen innerhalb der Kirche zu stärken, zu  betonen. Während die Installation eine internationale Protestwelle auslöste, erhielt sie aus der lokalen Gemeinschaft große Unterstützung. Viele Frauen, darunter auch ältere Frauen, haben ihrer Bewunderung und ihrem Respekt für den Priester zum Ausdruck verliehen und seinen Mut gelobt, Ina Loitzl eine solche Plattform zu bieten und gegen die Kritik standhaft zu bleiben. Deshalb hat diese Installation großen Symbolcharakter für unseren Film.

INNA SHEVCHENKO: Wenn dieses erste Bild so widersprüchliche Gefühle hervorruft, bedeutet das, dass wir die richtige Wahl für unsere Eröffnungssequenz getroffen haben. Ich möchte auch das Auge in der Mitte der Ausstellung erwähnen: es steht dafür, dass wir unsere Augen öffnen wollen, und ich hoffe, dass dieser Film für viele Menschen ein Eye-Opener sein wird.

 
Die französische Karikaturistin Coco ist die am stärksten präsente Künstlerin im Film. Können Sie uns mehr über ihre Rolle erzählen? Gab es noch weitere Künstler, die Sie unbedingt in Ihrem Film haben wollten, zusätzlich zu denen, die Sie während der Dreharbeiten entdeckt haben?

INNA SHEVCHENKO:
An allen unseren Drehorten wurde intensive Recherche betrieben. Verena spürte in den lokalen Museen interessante Arbeiten auf und erkundete, was an den jeweiligen Orten gerade am Laufen war. Aber selbstverständlich waren manche Künstler:innen für unsere Diskussion unumgänglich. Eine von ihnen ist Coco. Ihre Präsenz in diesem Film war nicht nur wichtig – sie war notwendig. Ohne sie wäre GIRLS & GODS ein anderer Film. Cocos Geschichte ist ein Statement für sich. Sie hat den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebt und hat sich trotz dieser Erfahrung nicht davon abbringen lassen, ihre Kunst weiter auszuüben. Und genau wie dieser Film bringt sie Widerspruch in eine gewichtige Debatte ein. Ihre Zeichnungen fühlen sich leicht, naiv, ja spielerisch an – aber sie tragen auch ein schweres Gewicht. Wer lachen kann, wird lachen. Aber die Botschaft bleibt. Für mich war es unmöglich, diesen Film ohne Charlie Hebdo zu machen, es wäre auch undenkbar gewesen, ihn ohne Ex-Muslime zu drehen, die als Abtrünnige von ihrem Glauben Abstand genommen haben. Das ist eine Geschichte, die selten genug Beachtung findet. Es sind Menschen, die einst tiefgläubig waren und die für die Entscheidung, aus Gewissensgründen ihre Religion zu verlassen, alles verloren haben.

 
Der zweite grundlegende Ansatz besteht darin, in religiöse Gemeinschaften einzutauchen und sehr unterschiedliche Perspektiven aufzugreifen, oft mit Mitgliedern, die kritische oder sogar rebellische Stimmen haben. Was war die Leitidee bei der Auswahl eurer Protagonisten?

INNA SHEVCHENKO:
Die Leitidee bestand darin, Widersprüche sichtbar zu machen. Es gibt keine einheitliche religiöse Erfahrung – es gibt ein breites Spektrum an Glaubensansätzen, selbst innerhalb derselben Religion. Diese Pluralität wollten wir auf die Leinwand bringen. Nehmen wir das Kopftuch her – eines der umstrittensten Themen im heutigen Feminismus. Wir haben zwei Protagonistinnen, die ein Kopftuch tragen, aber ihre Sichtweisen könnten nicht unterschiedlicher sein. Und genau das ist so wertvoll. Es zwingt uns, über vereinfachte Narrative hinauszudenken und zu erkennen, wie vielschichtig religiöse Erfahrungen wirklich sind. Unser Hauptziel war es, zu einer Stimmenvielfalt zu finden, und diese Stimmen im Film koexistieren zu lassen. Debatten zum Kopftuch, zu Abtreibung, zu allem, was mit der Autonomie von Frauen zu tun hat, finden permanent statt – aber meist nur in geschlossenen Kreisen, unter Menschen, die ohnehin derselben Meinung sind. Dieser Film durchbricht dieses Muster. Er bringt widersprüchliche Perspektiven in ein und denselben Raum ein und erzwingt eine Auseinandersetzung.

VERENA SOLTIZ: Ich finde, dass Inna eine der mutigsten Frauen ist, die ich je getroffen habe. Sie steht für ihre eigene Meinung ein, ist immer respektvoll und wagt es, Fragen zu stellen, die sonst niemand zu stellen wagt. Die Stärke dieses Films liegt in Inna selbst. GIRLS & GODS ermutigt dazu, Dinge zu hinterfragen, die man schon lange als gegeben hinnimmt, und enthält viele überraschende Perspektiven mit revolutionären Antworten, die uns vielleicht in eine neue Zukunft führen.

ARASH T. RIAHI: Unsere Gesellschaft ist festgefahren in total polarisierten Ansichten. Man kann für etwas sein oder dagegen, dazwischen gibt es nichts. Einer der Gründe, warum wir in dieser Situation gelandet sind, liegt in der Schwäche der politischen Linken, gesellschaftliche Probleme anzugehen, aus Angst, nicht der politischen Korrektheit zu entsprechen. Es gibt zu viel Angst davor, Gefühle zu verletzen, aber nur auf einer Seite. Die manipulativen Mechanismen der sozialen Medien führen dazu, dass wir in unserer Blase bleiben. GIRLS & GODS ist auch ein Ausbruch aus unserer eigenen Blase, um der anderen Seite zu begegnen, verschiedene Themen mit religiösen Menschen zu diskutieren und um unser eigenes und hoffentlich auch deren Denken zu erweitern.

INNA SHEVCHENKO: Ich denke, die hitzigste Diskussion im Film fand mit einer Frau in einer Moschee statt. Sie wich während des gesamten Gesprächs keinen Millimeter von ihrer Position ab. Wir waren absolut unterschiedlicher Meinungen, aber ich respektiere sie dafür, dass sie für ihre Sicht der Dinge gekämpft hat. Und als die Kamera aus war, sagte sie zu mir: „Du hast gute Argumente.“ Mit vielen der Protagonist:innen herrschte gegenseitiger Respekt. Jede von uns war eine faire Verteidigerin des eigenen Narrativs. Keine der Protagonist:innen ist schwächer als die andere. Dieser Film geht über die reine Religionsdebatte hinaus, er wirft die Frage auf: Sind die größten Machtstrukturen dieser Welt wirklich so unumstößlich, wie wir denken? Der Film zeigt, wie viel innerhalb dieser Machtstrukturen in Bewegung ist und wie viele Menschen einen Wandel wünschen. Ich hoffe, dass die Menschen unser aller Potenzial erkennen, Dinge zu verändern, gerade auch im aktuellen Moment der Geschichte, wo wir glauben, dass die Supermächte und nur Männer in ordentlichen Anzügen alles für uns entscheiden. Wir sehen, dass nicht nur Menschen wie ich, die radikal gegen Machtstrukturen sind, den Wandel wollen, sondern dass auch Menschen innerhalb dieser Strukturen viel dafür tun, dass es zu Veränderung kommt.


Formal betrachtet ist der Film als eine Reise durch verschiedene Städte in Europa und den USA konzipiert. Können Sie erzählen, wie Sie sich die Reiseroute von GIRLS & GODS entwickelt hat?

ARASH T. RIAHI
: Einige unserer Protagonist:innen standen bereits sehr früh fest. Da es sich um ein Langzeitprojekt handelte, haben sich die Umstände verändert, einige Persönlichkeiten wurden wichtiger, andere weniger verfügbar, sodass wir natürlich unsere Liste immer wieder adaptieren mussten. Wir wollten Menschen aus drei Kategorien: Menschen, die Religionsgegner sind, Menschen, die gegen die Gegner der Religion kämpfen, und Menschen, die Religion von innen heraus verändern. Die Komplexität der Reise ergibt sich daraus, dass es normalerweise eine:n Heldin:en gibt, die:der an einem bestimmten Punkt beginnt und am Ende des Films ein anderer Mensch ist. Eins war jedoch klar: Inna würde am Ende des Films nicht gläubig sein. Dramaturgisch mussten wir die Reise daher auf eine andere Ebene übertragen.

VERENA SOLTIZ: Trotzdem denke ich, dass Inna ihre eigene Reise gemacht hat. Während der Entstehung des Films ist sie Mutter geworden, was sie völlig verändert hat. Im Zuge des Schnitts habe ich versucht, ihre Entwicklung herauszuarbeiten, wie sie ein wenig Frieden mit der Welt schließt, auch wenn sie in ihren Überzeugungen stark bleibt und niemals aufhört zu kämpfen. In einer tiefer liegenden Struktur des Films liegt Innas persönliche Reise.

INNA SHEVCHENKO: Es war ein interessanter Punkt, dass jeder davon ausging, dass ich einer klassischen Dramaturgie zu folgen hätte. Der Film ist in einer Veränderung verwurzelt, die in mir stattgefunden hat: mein Wunsch, über simple Slogans hinauszugehen. Man kommt irgendwann zu dem Schluss, dass man die Welt nicht mit einer einmaligen Aktion oder einem Slogan verändern kann. Es erfordert kontinuierliche, kollektive und dauerhafte Aktionen, die nur gemeinsam mit denen stattfinden können, die zwar anders denken, aber ähnliche Bedürfnisse teilen. Nämlich das Bedürfnis, Systeme der Macht und Hierarchien abzuschaffen, die Frauen benachteiligen. Wie viele religiöse Frauen, die sich vollständig einem Dogma verschrieben haben, sind unglücklich darüber, dass sie ihren Gott nicht so feiern können, wie sie es sich wünschen? Viele von ihnen sagen: „Ich kann meine Religion nicht nach meinen Vorstellungen ausleben, weil mich die Heilige Schrift diskriminiert.“ Das ist ein Berührungspunkt, an dem das gegenseitige Verständnis beginnen kann, selbst wenn man von einem völlig gegensätzlichen Standpunkt kommt.

ARASH T. RIAHI: Der Film ist eine Hommage an die unzähligen Menschen, die sich den patriarchalen, kapitalistischen Vertretern der Religion – einer kleinen, aber mächtigen Gruppe, die sich auf Dogmen stützt – widersetzen. Sie haben die Macht und das Geld, Frauen auszunutzen und zu instrumentalisieren. Es ist eine moderne Form der Sklaverei, und niemandem ist es bewusst. Dieser Film ist dafür da, aufeinander zuzugehen. Wie Inna sagt: „Selbst diejenigen, die mich hassen, so glaub ich irgendwie, werden eines Tages auf unserer Seite sein.“ Die Kernbotschaft des Films möchte vermitteln: „Hören wir auf zu glauben, dass wir so grundverschieden sind.“
 

Inna, Sie sind bist immer wieder auf der Leinwand zu sehen – manchmal in Übereinstimmung mit Ihren Protagonist:innen, manchmal zuhörend, manchmal hinterfragend, manchmal streitend. Diese Szenen werden durch Bilder ergänzt, die die Demontage des Kreuzes in Kiew durch Sie oder den Terroranschlag in Kopenhagen in Erinnerung rufen. Dokumentiert der Film auch, was es bedeutet, Aktivistin zu sein?

INNA SHEVCHENKO:
Es ist nie darum gegangen, einen weiteren Film über mich zu machen. Ich bin voll und ganz Teil dieses Projekt, gerade weil ich mich von dem Ansatz distanzieren wollte, meine eigene Geschichte zu erzählen – eine Geschichte, die ohnehin von allen verdreht wird. Ich wollte mich in diesem Film vollkommen auf Meinungsaustausch einlassen und nicht ein weiteres Mal eine Geschichte aus meiner eigenen Perspektive erzählen.

ARASH T. RIAHI: Ich konnte in den letzten Jahren vieles beobachten. So viele Menschen, ganz besonders in den Medien, hatten ihre eigene Version über Inna, über Femen. Die Geschichte wurde immer so dargestellt, wie sie am besten den Interessen der jeweiligen Medien diente. Es war uns sehr wichtig, keinen Propagandafilm für Inna zu machen, ihr aber gleichzeitig Raum zu geben, etwas zu sagen, ohne instrumentalisiert zu werden. Unser Ziel war es, einen ehrlichen Film zu drehen, in dem Inna mit ihrer Rolle und ihrem Image bricht, sich verletzlich und selbstkritisch zeigt und die Veränderung, die sich im Laufe der Zeit in ihr vollzogen hat, spürbar macht. Es ist auch kein Film über Femen. Es geht um einige der Themen, für die sie gekämpft haben, aber für die auch Millionen anderer Frauen gekämpft haben.

INNA SHEVCHENKO: Ich bin froh, dass Sie im Film auch die Frage, was es bedeutet, Aktivistin zu sein, behandelt sehen. Coco sagt kein Wort, aber ihre bloße Präsenz – als Teil von Charlie Hebdo – sagt alles darüber aus, was es bedeutet, eine Karikaturistin zu sein, die sich traut, Tabuthemen anzusprechen. Nadya Tolokonnikova von Pussy Riot verbrachte drei Jahre in einem russischen Gefängnis und kann nicht in ihr Land zurückkehren. Agenten der Islamischen Republik versuchten, Masih Alinejad auf amerikanischem Boden zu ermorden. Maryam Namazie, eine Ex-Muslima, lebt unter ständiger Todesdrohung. Der Vatikan weigert sich, Priesterinnen als Gläubige anzuerkennen. Jede dieser Protagonistinnen trägt eine Geschichte darüber in sich, was es bedeutet, Machtsysteme herauszufordern. Der Film geht auf meine Initiative zurück, aber jede dieser Frauen verkörpert dieselbe Wahrheit: Widerstand hat seinen Preis.

 
Der Film endet mit Bildern, die eine positive Perspektive eröffnen. Sie zeigen, dass es Wege gibt, sich zu befreien – Wege, seinen Glauben jenseits des Dogmas zu leben. Wie wichtig ist diese positive Energie am Ende des Films?

ARASH T. RIAHI:
Alle meine Filme müssen mit Hoffnung enden, auch wenn Hoffnung allein nicht ausreicht. Hoffnung ohne Handlung wird nichts verändern. Die Idee war zu zeigen, wie viele großartige Menschen aktiv etwas tun, sodass es Grund zur Hoffnung gibt. Keiner unserer Protagonist:innen saß nur deprimiert zu Hause. Sie waren voller Energie. Während der Dreharbeiten auf den Pride-Paraden in London und Berlin konnten wir beispielsweise unglaublich viel Energie einfangen.

 
Eines der letzten Bilder zeigt Menschen, die einen ehemaligen sakralen Bau besuchen, der von der Natur überwuchert ist. Dies vermittelt mir den Eindruck, dass Sie auch eine mögliche Zukunft "nach der Religion" andeuten.

VERENA SOLTIZ:
Es ist ein Bild der Hoffnung, das die Schönheit der Architektur traditioneller Formen zeigt, die von Mutter Natur überwachsen wurde.

ARASH T. RIAHI: Ich bevorzuge eher die Science-Fiction-Interpretation. Natur und Kunst finden auf friedliche Weise zusammen, aber es geht auch um etwas, das wir eines Tages vielleicht nicht mehr brauchen. Ich möchte noch gerne auf das allerletzte Bild verweisen, das den Himmel zeigt. Eine mögliche Interpretation ist die, dass, wenn einst die Institutionen verfallen sind, ein direkter Weg zwischen uns und Gott entsteht – falls er, sie oder was auch immer existiert.

INNA SHEVCHENKO: Jede:r von uns sieht etwas anderes in diesem Bild, und genauso ist es intendiert. Ich hoffe, dass es dem Publikum genauso geht. Cocos Botschaft an Gott – „Belassen wir es dabei: Ich werde eine Blasphemikerin sein, und du wirst das perfekte Motiv für meine Karikaturen sein, denn das ist alles, was du mir sein kannst“ – ist eine Haltung. Aber es gibt auch Frauen in diesem Film, die Macht nicht ablehnen, sondern Raum für sich einfordern. Das Ende des Films ist bewusst vielstimmig. Aber wenn es eine Botschaft gibt, die all diese Stimmen vereint, dann ist es diese eine: Unterdrückung, das war einmal. Und dazu stehen wir, mit all unseren so unterschiedlichen Haltungen gegenüber Religionen, ohne einen Funken an Zweifel.


Interview: Karin Schiefer
März 2025






«Sind die größten Machtstrukturen dieser Welt wirklich so unumstößlich, wie wir denken? Der Film zeigt, wie viel innerhalb dieser Machtstrukturen in Bewegung ist und wie viele Menschen einen Wandel wünschen.»