INTERVIEW

«In Westafrika findet ein historischer Paradigmenwechsel statt.»

Die Geschichte der im Norden Nigers gelegenen Stadt Agadez ist komplex, der Umbruch, der sich dort vollzieht, rasant. Der Tourismus als Einnahmequelle ist längst passé, die Stadt der Tuareg florierte lange als Knotenpunkt der subsaharischen Migration, bis eine auf Betreiben der EU in der Sahara gesetzte virtuelle Grenze die Haupteinnahmequelle der Stadt kappte. Igor Hauzenberger und Gabriela Schild haben für ON THE BORDER Agadez immer wieder aufgesucht, engagierte Tuareg begleitet und dabei beobachtet, wie eine stets ihrer nomadischen Tradition verbundene Stadt aus verschiedensten Motiven innerhalb kurzer Zeit zum Spielball geopolitischer Interessen und Entwicklungen wird.
 
 
 
Was macht den Topos der Grenze immer wieder zu einem so essenziellen und brisanten Thema, insbesondere in Ihrem neuen Film ON THE BORDER?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Bereits Ende der 90er Jahre habe ich ein Projekt im Rahmen der Diagonale ko-kuratiert, das sich mit Grenzziehungen beschäftigte. Wir haben uns damals unter anderem mit der Willkürlichkeit von Grenzen auseinandergesetzt und die Frage gestellt, welche Folgen historisch gesetzte Grenzen über Generationen hinweg haben können. Die westafrikanischen
Grenzen wurden in der französischen Kolonialzeit gezogen und haben zahlreiche ethnische Konflikte entfacht. Als ich hörte, dass im Jahr 2016 nach einem Besuch der EU-Außenbeauftragen Federica Mogherini und Bundeskanzlerin Angela Merkel, in der Sahara eine virtuelle Grenze definiert und per Gesetz in Niger beschlossen wurde, begann ich mich für die Stadt Agadez und die Kultur der Tuareg, die sich in Niger selbst Imajeghen nennen, zu interessieren.
 
 
ON THE BORDER führt an eine unsichtbare Grenze in Niger. Können Sie kurz die politischen Umstände beschreiben, die zur Errichtung dieser Grenze geführt haben?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Diese Grenze, oder ‚rote Linie‘ wie sie der Innenminister und spätere Präsident von Niger Mohamed Bazoum genannt hat, liegt nördlich der Stadt Agadez. Es gab Zeiten in denen schätzungsweise 85% aller Migrant:innen aus Subsahara-Afrika auf ihrem Weg in den Maghreb oder nach Europa Agadez durchquerten. Die lokale Bevölkerung, vor allem Tuareg, transportierten diese Menschen auf ihrem lebensgefährlichen Weg durch die Sahara. Das Geschäft der Transporteure bzw. die „Ökonomie der Migration“, wie es dort genannt wird, war eine äußerst lukrative Einnahmequelle und sicherte über Jahre den Wohlstand der Stadt und der Region. Niemand sah diese Dienstleistung als illegal an, besonders weil Niger Teil der ECOWAS Wirtschaftsgemeinschaft ist, in der freier Personenverkehr herrscht. 2015/2016 wurde schließlich auf Drängen der EU ein Gesetz erlassen, das den Transport von Migrant:innen ohne Arbeitsvisum und ID unter Strafe stellte. Damit hatten viele Migrant:innen aus Subsahara-Afrika an der virtuellen Grenze plötzlich einen illegalen Status, die Transporteure wurden zu Schleppern. Über Nacht und ohne Vorwarnung verloren tausende Menschen in Agadez ihre Lebensgrundlage. Die EU versprach, die negativen Folgen des Gesetzes durch die Finanzierung von Umschulungsprogrammen abzufedern.
 
GABRIELA SCHILD: Das gelang aber nur in geringem Ausmaß. Für die Bevölkerung war das Gesetz schwer nachvollziehbar. Jahrhundertelang war Agadez ein Knotenpunkt des transsaharischen Handels. Dass sie jetzt – ironisch ausgedrückt –  Torhüter einer afrikanischen Schengen-Grenze werden sollten, leuchtete Vielen nicht ein. Rhissa Feltou, ehemaliger Bürgermeister von Agadez und der zentrale Protagonist von ON THE BORDER, bezeichnet im Film die Region als „Migrationslabor der Europäer“. Wie Viele befürchtete auch er, dass mit dem Gesetz eine „bombe humaine“ entstehen würde, denn eine müßige Jugend ist leicht für Kriminalität und Radikalisierung empfänglich. Afrikanische Ableger des Islamischen Staates und von Al-Qaida begannen in der Region und den angrenzenden Staaten immer mehr an Einfluss zu gewinnen. Mit dem Zerfall Libyens liefen auch wichtige Route für den Waffen- und Drogenschmuggel über Agadez. Es entstand eine Zone der Gewalt in einem schwer kontrollierbaren Gebiet, das größer ist als das Mittelmeer.
 
 
Wie war es Ihnen in dieser brisanten und komplexen Situation möglich zu drehen?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Es gab zwei Personen, die von Anfang an sehr hilfreich waren: Eva Gretzmacher, eine Österreicherin, die seit 25 Jahren im Niger lebt und schon bei Nikolaus Geyrhalters Elsewhere und Nathalie Borghers Die Frauenkarawane mitgearbeitet hat; und eine Wiener Nachbarin, die gut mit einem Tuareg befreundet ist, der mir von dieser virtuellen Grenze erzählt hat. Er war bereit, mich im Oktober 2018 in Agadez zu begleiten. Ich war zunächst in erster Linie bei Rescue-Missions, wo in der Wüste gestrandete junge Männer von der UN aufgegriffen wurden. Dann habe ich Rhissa Feltou kennengelernt und ihm von meiner Idee erzählt, über mehrere Jahre ein Filmprojekt zu realisieren. Er war begeistert. Ich habe dann in Österreich jemanden gesucht, der:die gut Französisch spricht und sich mit Sufismus auskennt, und so kam Gabriela an Bord.
 
GABRIELA SCHILD: Ich bin 2019 in das Projekt eingestiegen. Als ich das erste Mal in der Hauptstadt Niamey ankam, wurde gerade eine Militärbasis von islamistischen Terroristen in die Luft gejagt. Agadez, das tausend Kilometer von Niamey entfernt liegt, erschien mir wie eine Insel des Friedens inmitten dieser zunehmenden Gewalt. In der Region Agadez, die doppelt so groß wie Deutschland ist, wird nämlich ein sehr toleranter Islam praktiziert, der stark von sufistischen Strömungen geprägt ist. Das religiöse Oberhaupt der Region ist der Sultan. Er ist unermüdlich in der Region unterwegs, um zu verhindern, dass junge Menschen aus Perspektivlosigkeit dem Ruf des islamistischen Terrorismus folgen.
 
 
Die Region Agadez gilt als High Risk Area. Wie kann man sich für ein europäisches Filmteam ein Arbeiten in Sicherheit vorstellen?
 
GABRIELA SCHILD:
In der Nacht wurden wir von Militärs bewacht, die auch in unserer Herberge wohnten. Unsere relative „Bewegungsfreiheit“ tagsüber verdanken wir unserer Freundschaft zu Rhissa und dem Sultan. Beide haben uns in ihre Obhut genommen und uns viele Türen geöffnet. Wir durften uns in der Stadt nicht allein bewegen. Außerhalb der Stadt durften wir nur mit Militärkonvoi drehen.
 
 
Wie sind Sie mit der Frage umgegangen, als weißes Team einen Film über ein afrikanisches Land zu machen?
 
GABRIELA SCHILD:
Im Grunde machten wir ja einen Film über die europäische Präsenz in einem afrikanischen Land. Uns ging es darum zu dokumentieren, wie weit die europäischen Institutionen ihren Einfluss oder besser ihre Macht bis in die entlegensten Regionen der Welt ausbreiten. Das haben unsere Gesprächspartner gut nachvollziehen können und auch respektiert, weswegen sie gerne mit uns zusammengearbeitet haben. Es geht ja in ON THE BORDER um diverse Verbindungen und Verstrickungen zwischen Europa und Westafrika.
Ab 2020 wurden Drehgenehmigungen für Journalist:innen nur mehr für kurze Zeit ausgestellt und immer teurer. Deshalb nahm ich Kontakt zum nigrischen Filminstitut auf, auch weil wir auf der Suche nach nigrischen Teammitgliedern waren, um in den lokalen Sprachen und nicht nur in der Kolonialsprache Französisch zu drehen. Wir waren das erste westliche Filmteam, dass sich dort vorstellte. Es war ein Wendepunkt im Projekt, denn wir lernten dort die aus Agadez stammende Filmemacherin Amina Weira kennen, die zu einem sehr wichtigen Teammitglied wurde und mit uns den Film weiterentwickelte. Andererseits erhielten wir eine Drehgenehmigung über zwei Jahre und konnten somit viel leichter ein- und ausreisen.
 
IGOR HAUZENBERGER: Mit Amina Weira haben wir einen Fragenkatalog entwickelt, sie und Gabriela haben oft abwechselnd Fragen gestellt. Das lief so gut, dass selbst der Sultan seine Audienzen mit uns immer weiter ausdehnte. Wir haben stundenlang mit ihm geplaudert. Auch mit den anderen Protagonist:innen wurde die Beziehung immer enger und so brachten wir zum Schluss über 200 Stunden Rohmaterial mit nach Hause. Ein weiterer nigrischer Mitarbeiter war Mohamad Iklass, der in Agadez als TV-Kameramann arbeitet. Als der europäische Teil unseres Filmteams im August 2023 vom Militär vorzeitig evakuiert wurde, konnte er noch einige Aufnahmen für den Film mit einer Kamera machen, die wir in Agadez gelassen hatten. Zusammenfassend würde ich sagen, dass wir von Jahr zu Jahr mehr zu einem multikulturellen Team wurden. Das größte Kompliment machte uns der Vorsitzende der Regionalrates von Agadez, als er uns beim Wiedersehen 2023 die Hände schüttelte und sagte: „Ihr habt uns jetzt schon so oft besucht, dass ihr zu uns gehört.“
 
 
Der Film zeigt viele Bilder und Details der Stadt Agadez. Was hat Sie an der Stadt, seiner Architektur und auch an der Landschaft, der Region als Lebensraum fasziniert?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Das Faszinierende an Agadez ist, dass es eine Stadt aus Lehm ist, die in der Abenddämmerung rot-orange zu leuchten beginnt. Sie hat auch etwas Transitorisches an sich, denn die häufiger werdenden Regengüsse im Sommer setzen der Architektur ziemlich zu. So müssen die Gebäude permanent neu verputzt werden, um in diesem erbarmungslosen Klima nicht zu verschwinden. Der Nomadismus wird in der nächsten Generation wahrscheinlich verschwinden, aber er lebt in der sufistischen Stadt mit ihren stolzen Bewohner:innen und ekstatischen Festen weiter.
 
 
Rhissa Feltou ist die zentrale Figur des Films. Sein eigenes politisches Schicksal im Laufe der Dreharbeiten steht stellvertretend für die Risken, denen die Region unterliegt. Wie wurde er zum Protagonisten von ON THE BORDER?
 
GABRIELA SCHILD:
Igor lernte Rhissa 2018 kennen, als dieser noch Bürgermeister war. Seine Absetzung im Jahr darauf war das Ergebnis einer Intervention der Zentralregierung in Niamey, der sein rebellischer Geist zu subversiv war. Als Rhissa 2019 abgesetzt wurde, hatte er auf einmal viel Zeit für uns. Es war ihm ein Bedürfnis, die Geschichte seiner Stadt in diesem geopolitischen Umbruch zu erzählen. Er sah in unserem Film eine Möglichkeit, auf das Schicksal seines Volkes aufmerksam zu machen, denn die Tuareg/ Imajeghen wurden lange Zeit im eigenen Land marginalisiert. Mittlerweile ist er ein enger Freund geworden und besucht uns oft in Wien.
 
IGOR HAUZENBERGER: In den Straßen von Agadez nennen die Leute Rhissa immer noch „Monsieur le Maire“, weil er sich bis zur Gegenwart sozial engagiert und ein offenes Ohr für Probleme hat. Er ist Politiker aus Leidenschaft und Idealist im Herzen.
 
 
Rhissa Feltou betont auch die Wichtigkeit, Frauen Verantwortung zu überlassen. Verkörpert die Radiojournalistin Tilla Amadou stellvertretend auch eine Kultur, die den Frauen eine wichtige Rolle einräumt?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Ich erinnere mich noch an meine ersten Eindrücke von der Stadt: Frauen begegneten mir unverschleiert, von den Männern waren nur die Augen hinter dem Tagelmust zu sehen. In der Kultur der Tuareg gibt es gesetzmäßig matriarchale Strukturen. Bei den Nomaden zieht der Mann nach der Hochzeit in das Zelt der Frau, verlässt er sie, verliert er alles.
 
GABRIELA SCHILD: Tilla ist eine selbstbewusste Targi, deren Stimme alle aus dem Radio kennen. Sie ist für viele Frauen und junge Mädchen ein Vorbild. Begonnen hat sie als Radiomoderatorin, hatte aber als Frau in einem sehr paternalistischen Arbeitsumfeld kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Der Durchbruch gelang ihr, als Deutsche Welle sie entdeckte und für spannende Reportagen engagierte. So wurde sie weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und eine Botschafterin ihrer Kultur. In ihrer Arbeit greift sie mutig soziale Themen auf und gibt Menschen – vor allem Frauen – Raum, ihre Meinung auszusprechen. Bei sozialen Konflikten wird sie von den lokalen Politikern oft eingesetzt, um als Mediatorin zu fungieren, wenn die Politiker nicht an die Menschen herankommen. Sie fühlt sich der Bevölkerung ähnlich verpflichtet wie Rhissa. Seit dem Putsch ist sie die große Leidtragende unter unseren drei Protagonist:innen, denn freier Journalismus ist nur mehr eingeschränkt möglich. Sie erhält auch weniger Aufträge aus dem Ausland, weil sich viele Auftraggeber zurückgezogen haben.
 
 
Steht Ahmed Dizzi, der dritte Protagonist, für die gerade verschwindende Welt?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Ahmed repräsentiert die alte europäisch-nigrische Freundschaft – im Guten wie im Schlechten. Er ist ein Kosmopolit, der sieben Sprachen spricht und den Aufstieg der Stadt zur Tourismusmetropole miterlebt hat. Er hat stets vom westlichen Tourismus profitiert, vom Handel mit dem Schmuck der weltbekannten Silberschmiede in Agadez. Er hat sogar österreichische Pinzgauer-Fahrzeuge in der Sahara getestet. Andererseits unterstützte er die Tuareg-Rebellionen, um die unfairen Handelsbedingungen zu beseitigen. Denn vom billigen Uranabbau profitierten Europa und dann die im Süden lebenden Volksgruppen überproportional.
 
GABRIELA SCHILD: Ahmed steht auch für den toleranten Islam, der in Agadez praktiziert wird. Dieser ist geprägt von sufistischen und animistischen Einflüssen und bildet in der Region ein Bollwerk gegen den islamistischen Extremismus. Ahmed und auch der Sultan haben uns tiefe Einblicke in ihren Glauben gewährt; leider fielen diese Teile des Films dem Schnitt zum Opfer. Wir haben uns jedenfalls vom genius loci inspirieren lassen und in sufistischer Manier die Themen im Film eher umkreist, als einer klassischen Dramaturgie zu folgen.
 
 
Sie filmen auch das EU-initiierte Polizeitraining EUCAP, das dazu dient, lokale Sicherheitskräfte zu schulen. Zeugt der Film auch von einer die Realität unterschätzenden Strategie seitens der EU?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Die zivile europäische Mission EUCAP hatte unter der Führung von Antje Pittelkau tatsächlich versucht, eine neue Ära einzuleiten. Der konkrete Auftrag war, Polizist:innen auszubilden, Fahrzeuge und Equipment zu übergeben und nach dem Ende des Mandats 2024 das Land wieder zu verlassen. Es gab einen konkreten Exit-Plan. Dies steht im krassen Gegensatz zur Strategie der USA, die immer versuchen, so lange wie möglich in einem Land zu bleiben, indem sie ihre Militärbasen aufbauen. Europas neuer Ansatz war laut Angela Merkel, eine Kooperation auf Augenhöhe zu schaffen. Doch nach ihrem Abgang fehlte jegliches Leadership. Die Botschafter:innen und Ausbildungseinheiten verließen je nach Mandat nach zwei bis vier Jahren wieder das Land. Trotz vieler engagierter Institutionen und Hilfsprojekte funktionierte Europa im vielzitierten Stabilitätsanker Niger nie wie ein Orchester, das einzelne Aufgabenbereiche zu einem Entwicklungskonzept zusammenführt. Die Region Agadez hätte ein Leuchtturmprojekt werden können, das Migration mit einem Wirtschaftsstandort verknüpft. Doch anstatt Betriebsansiedelungen und neuer Jobs blieb die Arbeitslosigkeit hoch und trieb die Jugendlichen weiterhin in die Arme von Banden und Terroristen. Nach dem Militärputsch entstand ein sicherheitspolitisches Vakuum, weil ein Masterplan fehlte. Jetzt stehen die gesamte Sahelzone und die Sahara unter dem Einfluss Russlands, Chinas und der Türkei. Ob damit diese Region mit 600 Millionen Menschen befriedet werden kann, darf stark bezweifelt werden.
 
 
Welche Form der Hilfe von außen könnte sinnvoll sein?
 
GABRIELA SCHILD:
Schwierige Frage. „Hilfe“ aus dem Westen ist vorerst nicht mehr erwünscht:  Die bereits erwähnte Mission EUCAP wurde des Landes verwiesen, so auch das französische und das deutsche Militär. Auch die US-Amerikaner haben ihre Drohnenbasen in Agadez und Niamey geschlossen, weil dort mittlerweile das russische Africa Corps seine Anlagen aufbaut.
Bereits in einem Interview 2019 sprach Rhissa von einer Unzufriedenheit der jungen Bevölkerung, die sich vor allem aus der Umklammerung Frankreichs befreien wollte. Durch die sozialen Medien hat die junge Generation begonnen, einen Panafrikanismus zu leben, im Gegensatz zur älteren Generation, die sich immer mit den Ungleichheiten arrangiert hat. Um hier ein Beispiel zu nennen: Der gesamte Staatshaushalt Nigers ist nicht größer als der Jahresumsatz des französischen Atomkonzerns Orano, der auch in der Region Agadez Uran abbaut. Das Militär hat diese Stimmung in der Bevölkerung aufgegriffen und den pro-europäischen Präsidenten Mohamed Bazoum abgesetzt. Die junge Generation stellt die richtige Frage: „Warum sind wir eines der ärmsten Länder der Welt, obwohl wir so reich an Bodenschätzen sind?“
 
IGOR HAUZENBERGER: In Westafrika findet ein historischer Paradigmenwechsel statt. Europa zieht sich weitgehend zurück; aber anstatt einer panafrikanischen Emanzipation folgte schnell eine neue Abhängigkeit. Putin hat mittlerweile großen Einfluss von Zentralafrika bis Mali. Das Militärregime in Niger rühmt sich, Europa rausgeworfen zu haben, übersieht aber, wie schnell die Teile der Infrastruktur zusammenbrechen, die Bevölkerung verarmt und die Gewalt zunimmt. Bewaffnete Tuareg-Verbände haben im Spätsommer 2024 das nigrische Militär und russische Wagner-Truppen angegriffen und diese zum Teil vernichtend geschlagen. Die militärische und logistische Unterstützung kam überraschenderweise aus der Ukraine. Es ist also Ironie der Geschichte, dass eine der schönsten und abgelegensten Regionen der Welt erst durch die Migration und nun durch einen aufkeimenden Stellvertreterkrieg in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerät. Man könnte sagen, dass sich dort ein Mikrokosmos der Weltkonflikte aufbaut, ähnlich wie es um 1900 auf dem Balkan der Fall war.
 
 
Ein wiederkehrendes Bild ist Rhissa Feltous endlos langes, blütenweißes Kopftuch und seine Wickelung als Identifikationsmerkmal, das er nur einmal vor der Kamera abnimmt. Was hat es mit diesem Kopftuch auf sich?
 
GABRIELA SCHILD:
Der Tagelmust ist ein essenzieller Bestandteil der Imajeghen-Kultur. Die Jungen erhalten ihn beim Eintritt in die Erwachsenenwelt. Er steht im Zusammenhang mit Ashek, dem Ehrenkodex der Imajeghen, der u.a. zur Zurückhaltung in der Kommunikation verpflichtet. Im Film nimmt Rhissa den Tagelmust erst gegen Ende zum ersten Mal ab. Das war wenige Tage vor dem Putsch. Das Bild bringt seine Nähe zu uns, aber auch seine Identität als Weltbürger, der zwischen den Kulturen lebt, zum Ausdruck. Rhissa und sein Bruder Liman, der im Film stets einen schwarzen Tagelmust trägt, verkörpern zwei Pole. Rhissa, die strahlende öffentliche Figur, sein älterer Bruder, der noch ein nomadisches Leben führt, repräsentiert die Wurzeln, die Herkunft.
 
 
Die erste Einstellung verweist auf ein zweites wiederkehrendes Bild: die unzähligen Plastikreste, die an den Bäumen flattern und an Krähen in den Ästen erinnern. Ein düsteres Symbol?
 
IGOR HAUZENBERGER:
Es sind Überreste eines westlich geprägten Kapitalismus, die sich in der Wüstenstadt verfangen haben. Das Plastik hängt in den Bäumen fest, bis diese absterben. Damit wird auch die eine essenzielle Nahrungsquelle zerstört. Wir zeigen Rhissa in seinem Garten, wie er mühevoll das Plastik entfernt. Diese Szene haben wir an den Anfang des Films gestellt, weil sie stellvertretend für den Kampf gegen scheinbar übermächtige Kräfte steht. Als Tuareg bedeutet ihm der Schutz der Umwelt sehr viel. Verändert sich das Ökosystem, sterben nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen. Das Plastik ist ein Symptom dafür. Im Drehkonzept haben wir ihn als Sisyphos beschrieben, der unermüdlich weiterkämpft. Aber man merkt, dass es auch für ihn irgendwann zu viel wird und seine Kraft verloren geht. Rhissa lebt mit einem gepackten Koffer im Schlafzimmer. Es ist ein ontologischer Rest in seiner nomadischen Persönlichkeit. So kann er jederzeit das Weite suchen, aber auch wiederkommen, wenn sich die Lage beruhigt hat und die Friedensstifter wieder gefragt sind.


Interview: Karin Schiefer
Oktober 2024
 
 





«Es ist Ironie der Geschichte, dass eine der schönsten und abgelegensten Regionen der Welt erst durch die Migration und nun durch einen aufkeimenden Stellvertreterkrieg in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerät. Man könnte sagen, dass sich dort ein Mikrokosmos der Weltkonflikte aufbaut, ähnlich wie es um 1900 auf dem Balkan der Fall war.»