Sie sind alle unsichtbar. Die alten Menschen, die es nicht mehr schaffen, ihren Alltag allein zu bewältigen ebenso wenig wie
die Frauen, die mit ihnen unter einem Dach leben, um ihre Versorgung sicherzustellen und die dafür auf längere Zeit ihr eigenes
Umfeld verlassen. Harald Friedl beobachtet in 24 STUNDEN einen Turnus lang eine rumänische Pflegerin und rückt eine Tätigkeit in den Fokus, die tagtäglich unter Ausschluss öffentlicher
Wahrnehmung und sozialer Anerkennung erledigt wird.
Ein Blick auf die Filmografie Ihrer Kinodokumentarfilme zeigt ganz unterschiedliche Themenstellungen. Was liefert Ihnen den
Impuls für ein Filmprojekt?
HARALD FRIEDL: Jeder Filmstoff bietet die Möglichkeit, Leben, Kultur, Gesellschaft zu betrachten und gewöhnlich unsichtbare Menschen sichtbar
zu machen. Das tu ich gern von verschiedenen Blickwinkeln und Settings aus. Die Filmstoffe bedingen dann eine eigene Erzählweise.
Thematisch lasse ich mich stark von dem anziehen, was mich fasziniert. Bei What Happiness Is war es das Konzept des Bruttonationalglücks
in Bhutan, bei Aus der Zeit die Faszination für diese alten Wiener Geschäfte und ihre Betreiber. An Brot hat mich fasziniert,
wie viel sich mit dem Grundnahrungsmittel Brot über Ökologie, Soziales, Wirtschaft und Gesundheit erzählen lässt. Die Initialzündung
für 24 Stunden lieferte der Umstand, dass während des ersten Lockdowns 2020 rumänische Pflegerinnen nach Österreich eingeflogen
wurden. Die Grenzen waren geschlossen und man zahlte hunderten Frauen aus armen Verhältnissen einen Flug und ein Honorar für
die Zeit der Quarantäne in einem leerstehenden Schwechater Hotel. Plötzlich brachte man diesen ausländischen Frauen eine Wertschätzung
entgegen, die sie normalerweise nicht erfahren. Meine Recherche habe ich erst literarisch und dann filmisch verarbeitet. Erst
entstand die Kurzgeschichte für eine Anthologie mit dem Titel grenzenlos? dann habe ich ein Filmkonzept geschrieben, das dem
aktuellen Film sehr nahekommt. Allerdings war klar, dass sehr unterschiedliche Filme entstehen würden, je nachdem, mit wem
wir drehen würden. Schließlich hat jede Frau ihre eigene Geschichte, ihre eigenen familiären Bindungen im Heimatland. Auch
die Beziehungen zu den gepflegten Personen würden zu einem jeweils anderen Film führen. Ich wollte für den Film eine spannende
Protagonistin finden, die ihre schwere Arbeit besonders gut macht und die doch auch ein Eigenleben führt.
Wie haben Sie sich in die Thematik und seine Strukturen in Österreich eingearbeitet?
HARALD FRIEDL: Ich habe mir die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse angesehen. Es gibt ein großes Spektrum an Agenturen. Viele arbeiten
korrekt, andere beuten aus, wo es nur geht. Es sind nicht alle gleich. Viele verlangen horrende Vermittlungsgebühren. Es kommt
vor, dass Agenturen Pflegerinnen verklagen, weil die aussteigen wollen. Wir haben unsere Suche nach einer Protagonistin daher
auf einer Plattform gepostet, auf der sich rumänische Pflegerinnen untereinander austauschen über das, was sie so erleben
im Beruf. Die Regisseurin Jola Wieczorek, die für 24 STUNDEN Regieassistenz gemacht hat, hat die Vorrecherchen gemacht. Sadina
Lungu hat uns von Beginn an beeindruckt, weil sie unkompliziert, selbstbestimmt, eloquent und offen war. Auch die gepflegte
Frau, Elisabeth, und die Erwachsenenvertretung waren einverstanden. Elisabeth hat keine Verwandten mehr, die Erwachsenenvertreterin
musste entscheiden. Die Konstellation war ideal. Was mir abgesehen von ihrer freundlich-herben Art an Sadina noch gefallen
hat, war der Traum, den sie hatte. Ein Mal in ihrem Leben wollte sie mit einem Paragleiter fliegen. Diesen Wunsch wollten
wir ihr auf jeden Fall erfüllen.
Warum haben Sie die durchaus riskante Entscheidung getroffen, nur auf eine Protagonistin zu fokussieren?
HARALD FRIEDL: Da bin ich einem Rat von Constantin Wulff gefolgt, der mich in der Entwicklungsphase dramaturgisch beraten hat. Das Risiko
war mir bewusst, ich hatte aber ein gutes Gefühl, dass die Arbeit mit Sadina intensiv werden würde. Unsicherheit gab es anfangs
gegenüber der gepflegten 85-jährigen Frau. Hätten wir ihrerseits Ablehnung gespürt, hätten wir unsere Sachen gepackt und mit
der Suche neu beginnen müssen. Aber es stellte sich heraus, dass Elisabeth viel Freude mit uns hatte. Sie war froh, dass endlich
wieder etwas los war im Haus. Das entsprach ganz einfach ihrer früheren Lebensweise, als ihr Mann noch lebte und als sie noch
mobil war.
Wie fiel die Entscheidung für den Einstieg in den Film, zunächst Sadinas Lebenskontext in Rumänien und ihre Fahrt nach Österreich
zeigen?
HARALD FRIEDL: Mir war wichtig, die familiären Verhältnisse Sadinas in Rumänien filmisch zu etablieren. Das Kinopublikum sollte die Umgebung
und die Verhältnisse kennen, aus der die Protagonistin kommt. Über Video-Telefonie hält sie den Film über Kontakt mit der
Familie in der Heimatstadt Vulcan aufrecht. Diese Kontakte helfen ihr, emotional nicht zu verhungern. Einsamkeit kombiniert
mit schwerer Arbeit ist eine hohe Belastung. Sadina Lungu hat keine Kinder, drei Schwestern, einen Bruder und kranke Eltern.
Sie sind durch die Ebene der Videotelefonate filmisch sehr präsent. Diese Gespräche mit daheim öffnen tiefe Blicke in die
Seele Sadinas. Bei der Arbeit geht es immer nur um das Wohlergehen von Elisabeth. Nur übers Handy geht es auch darum, wie
Sadina sich fühlt.
Die Kameraarbeit findet praktisch nur innen statt – in Wohnungen, in Autos, in Geschäften. Warum gibt es diese quasi Ausschließlichkeit
der Innenbilder? Wie wurde die richtige Distanz in narrativer wie in ethischer Hinsicht gefunden?
HARALD FRIEDL: Sadinas Leben spielt sich größtenteils im Haus von Elisabeth ab. Dieser Realität sollte der Film entsprechen. Was das Spiel
mit Nähe und Distanz betrifft, war die Herausforderung, den Frauen nahezukommen, ohne Intimitätsgrenzen zu verletzten. Das
ist der fünfte Film, den ich zusammen mit Kameramann Helmut Wimmer gedreht habe und uns sind Menschen schon oft besonders
nahegekommen, so als wäre seine Kameraführung für die Gefilmten unsichtbar. Er ist ein ungemein sympathischer Mensch, von
ihm lassen sich die Menschen gern fotografieren oder filmen. Der potenziell größte Störfaktor bei Dreharbeiten ist meines
Erachtens ohnehin nicht die Kamera, sondern die Tonangel mit dem Mikrophon, das über den Köpfen schwebt. Aber unser Tonmeister
Tong Zhang hat das alles wunderbar gemacht. Zwischen Sadina und uns bestand rasch ein tiefes Vertrauensverhältnis. Wir konnten
also ganz frei arbeiten unter maximaler Rücksicht auf die Gefühle aller Beteiligten.
Wo war der Grat, die Arbeit zu zeigen und gleichzeitig die persönliche Sphäre zu schützen?
HARALD FRIEDL: Unser Verhalten und die Bilder mussten ganz diskret sein. Visuell haben wir eine Strategie der Andeutung verfolgt. Nacktheit
kommt nicht vor, vom Vorgang des Badens sehen wir nur den Schlauch der Dusche. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können sich
so ihre eigenen inneren Bilder machen. Sadina muss täglich Ekelschwellen überwinden. Aber das mussten wir nicht explizit zeigen.
Was man hört und sieht, reicht, um alles zu verstehen.
Genau genommen haben Sie zwei Protagonistinnen – Sadina und Elisabeth.
HARALD FRIEDL: Anfangs hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, dass Elisabeth im Film so stark werden würde. Beim ersten Kennenlernen
hat sie geistig abwesender auf mich gewirkt als während der Dreharbeiten. Das Team im Haus hatte einen belebenden Effekt auf
sie. Manchmal hat sie uns Komplimente gemacht und im nächsten Moment darüber geklagt, wie hinfällig sie geworden sei. Elisabeth
hat im Laufe der Dreharbeiten ein immer stärkeres Eigenleben entwickelt und ist zu einer echten Antagonistin zu Sadina geworden.
Wir waren froh über diese Entwicklung. Man kann im Film auch sehen, wie klar Elisabeth sich zu wehren versteht, wenn ihr etwas
nicht passt. In einer Szene hat sie in das Kameraobjektiv geschaut, als wäre es für sie ein Spiegel. Ich denke, diese Offenheit
gibt auch dem Kinopublikum die Sicherheit, dass die Dreharbeiten unter korrekten Bedingungen verliefen.
Sadina ist eine interessante Person, die ihre Arbeit mit der nötigen Distanz verrichtet, sie geht sehr respektvoll mit ihrer
Klientin um und sie zeigt ein wahres Bemühen um deren Wohlbefinden. Was waren die schönen, vielleicht auch überraschenden
Momente, die Sie erlebt haben?
HARALD FRIEDL: Die Beziehung zwischen Sadina und Elisabeth ist seit langem gewachsen, weil Sadina sich schon um sie gekümmert hat, als es
ihr noch sehr viel besser ging und sie noch mobil war. Sadina kennt Elisabeth also noch ganz anders. Sie hat es sich zur Aufgabe
gemacht, sie zu begleiten und würde sie nicht verlassen. Da ist eine tiefe Beziehung entstanden. Das habe ich mit der Zeit
begriffen. Die Intensität der Pflege schließt auch ein Geben von Nähe und Vertrautheit mit ein. Der Film pendelt zwischen
Zärtlichkeit und Härte, zwischen Konsequenz und liebevoller Fürsorge, zwischen Lachen und Weinen, wie Sadina an einer Stelle
sagt. So ist es uns gelungen, aus einem tristen Stoff einen lebendigen, über weite Strecken heiteren Film zu machen.
Frappierend ist, wie dieser Film vor Augen führt, wie diese 24-Stunden-Pflege in der Tat eine dauernde Beschäftigung bedeutet,
wo es kaum Momente des Ausruhens oder der selbstbestimmten Zeit gibt. Ist auch deshalb das Handybild ein so präsentes Element
im Film geworden?
HARALD FRIEDL: Genau. Mit dem Handy kann sich Sadina immer wieder aus der Einsamkeit befreien. Es ist das Einzige, was einen Ausweg bietet.
Sadina erträgt ihr Leben in der Fremde, indem sie täglich einige Telefonate führt und sich im Internet Dinge anschaut, die
sie entspannen. Sie liebt es, Videos von Paragleitern anzuschauen. Und sie verfolgt die Facebook-Posts ihrer rumänischen Kolleginnen
und kommentiert die Veröffentlichungen der Plattform IG 24. In der Fremde bietet oft nur die eigene Sprache so etwas wie Heimat.
Im Filmkonzept war die zentrale Rolle der Handybilder bereits vorgesehen. Auch die Szene, in der Sadina und ihre Schwester
Petronela gleichzeitig kochen, war vorgesehen: Irgendwann vermischen sich die Handybilder so, dass man nicht mehr genau weiß,
wo wir gerade sind. Österreich oder Rumänien?
Ein Telefonat mit einer Kollegin zeigt, dass es auch andere Arbeitssituationen gibt, wo es viel schwieriger ist.
HARALD FRIEDL: Die Frau, die ihre Situation im Haus ihrer Klientin drastisch schildert, ist Sadinas Schwester Livia, die zur gleichen Zeit
in Österreich arbeitet und die am Ende Sadinas Turnus bei Elisabeth übernimmt. In dieser Szene erfährt man sehr viel über
die niedrige soziale Stellung der Pflegerin, über die Verachtung und Respektlosigkeiten, denen sie ausgesetzt ist. Manche
Pflegerinnen sind sogar körperlicher Quälerei und sexuellen Belästigungen ausgesetzt, wie sich aus einer anderen Filmszene
erschließt. Sadina hat eine sehr gut Stelle, aber entspricht gewiss nicht der Norm.
Eine Frage, die im Raum steht, aber unbeantwortet bleibt, ist die, für wie lange Sadina zu ihrem Turnus aufbricht. Müssen
die Pflegerinnen ihren Dienst mit einer zeitlichen Ungewissheit antreten?
HARALD FRIEDL: In der Regel ist festgelegt, wie lange der Turnus für eine Pflegerin dauert, bei Sabrina ist es ungewiss. Aber das liegt an
ihr. Sie bleibt freiwillig so lang, sechs bis acht Monate am Stück, weil keine andere Pflegerin so gut mit Elisabeth umgehen
kann wie sie. Während der Corona-Pandemie war Sadina zwei Jahre durchgehend in Österreich gewesen. Teils, weil es so besonders
umständlich war zu reisen, teils weil es schier unmöglich war, eine Ablöse zu bekommen.
Es gibt eine längere Anreise voller Staus von Rumänien nach Österreich, am Ende eine fliegende Rückfahrt im Zeitraffer. Wie
sind Sie mit der Dauer, mit der Zeit umgegangen?
HARALD FRIEDL: Die Frage, wie wir mit der Anreise filmisch am besten umgehen, hat uns im Schnitt sehr beschäftigt und ich finde, Editor
Philipp Mayer hat das wunderbar gelöst. Das Zeigen der Pflegearbeit musste an die Grenze der Belastbarkeit des Publikums gehen,
um zu spüren, wie hart das alles ist. Daher durfte die erste Pflegeszene auch nicht zu kurz sein. Motivisch spannt sich der
Film von Schnee bis Frühlingsblüten, von frieren bis den Garten gießen.
Hat 24-Stunden-Pflege auch manchmal 24-Stunden-Dreh bedeutet?
HARALD FRIEDL: Das nicht, aber wir hatten manchmal lange Drehtage. Einmal haben wir die Kamera abends vor Sadinas Bett aufgebaut und sind
am nächsten Morgen sehr früh in Sadinas Schlafzimmer geschlichen, um zu filmen, wenn sie aufwacht. Das war natürlich so abgesprochen.
Wir hatten die Schlüssel.
Wie haben Sie versucht, auch Elisabeth aus der Anonymität zu holen und etwas von ihrem Leben zu erzählen?
HARALD FRIEDL: Elisabeths Leben sollte sich nur in den Dingen erzählen, die in ihrer Wohnung offen zu sehen sind. Die Möbel, die Wandbehänge,
Bilder, das Foto mit ihrem Mann, das Foto, das sie als kleines Mädchen zeigt. Der Schrankraum steht oftmals offen, das Bild
mit ihren Kleidern ist mir sehr wichtig. Hätte es ein offen sichtbares Bild in der Wohnung gegeben, aus dem erkennbar wäre,
dass sie Beamtin im Ministerium war, dann hätten wir es gezeigt. In diesen Dingen ist der Film ganz puristisch.
Man wird den Verdacht nicht los, dass so ein Engagement etwas von Gefangen-Sein hat. Welche arbeitsrechtlichen Regelungen
gibt es für Pflegerinnen?
HARALD FRIEDL: Eine Pflegerin hat zwei Stunden Freizeit am Tag. Was kann sie da schon machen? Es gibt bei einer Person, die gepflegt wird,
gewisse Befindlichkeiten, wo zu bestimmten Zeiten jemand da sein muss. Und man darf nicht vergessen, dass eine Pflegerin nicht
nur da ist, um den körperlichen und seelischen Bedürfnissen der Person, die ihre Hilfe benötigt, nachzukommen, sie ist ja
auch die Haushälterin, die Putzfrau und in Sadinas Fall auch die Gärtnerin. Sie ist manchmal richtig erschöpft, vor allem
wenn sie auch nachts aufstehen muss, wenn Elisabeth Durst hat oder wenn sie etwas zwickt.
Über welche Strukturen kommen die Pflegerinnen zu ihren Klient:innen?
HARALD FRIEDL: Sadina war bei einer Agentur und musste jahrelang pro Monat € 230 Vermittlungsgebühr abgeben. Vor unseren Dreharbeiten hat
sie gekündigt und ist nun über Elisabeths Erwachsenenvertreterin beschäftigt, die sie aus Elisabeths Rente bezahlt. Durchschnittlich
bekommen Pflegerinnen € 80,- pro Tag. Sie haben keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub und bekommen Krankengeld erst nach 42
Krankheitstagen. Und wenn sie gegen Ende ihres Lebens ausgelaugt sind, bekommen sie kaum Pension. Auch die Interessenvertretung
ist problematisch. Agenturen sind Unternehmen, Pflegerinnen sind Selbstständige. Beide gehören der Wirtschaftskammer an, die
aber die eine Seite nicht gegen die andere Seite vertreten darf. Pflegerinnen haben also keine Lobby.
Es gibt im Film eine kurze Sequenz mit einer Aktion in der Öffentlichkeit zur rechtlichen Situation der Pflegerinnen. Wie
schwierig muss es sein, in dieser isolierten Arbeitssituation sich politisch zu formieren und Forderungen zu formulieren?
HARALD FRIEDL: Die Szene zeigt eine Kundgebung vor dem Sozialministerium. Es sind nicht sehr viele Menschen bei dieser Demonstration, einfach
deshalb, weil die Pflegerinnen sich von ihren Arbeitsplätzen nicht entfernen können. Die wenigen Demonstrantinnen waren aus
Wien gekommen. Die eingangs erwähnte Plattform IG 24 hat diese Demonstration organisiert, dort engagiert man sich aus der
eigenen Betroffenheit heraus. Wir werden den Kinostart nutzen, um gemeinsam mit IG 24 Bewusstsein für diese Arbeitsbedingungen
zu schaffen.
Wie sehr hat sich aus dem Portrait einer Pflegerin auch eine Reflexion übers Alt-Sein entwickelt?
HARALD FRIEDL: Ja. Es gibt diesen wahren Satz: Alle wollen alt werden, aber niemand will es sein. Die Materialermüdung ist einem in meinem
Alter ins Gesicht geschrieben. Ich kann das Alter nicht mehr verdrängen und will es auch nicht. Das Alter bereitet mir Sorge
und Unbehagen, ich kann ihm wenig Positives abgewinnen, obwohl ich mir bewusst bin, dass es mir noch nie so gut ging und ich
noch nie so klar im Kopf war wie jetzt. Aber wenn man Elisabeth betrachtet: Sie ist eine Greisin und abhängig von fremder
Hilfe. Das will niemand sein. Trotzdem zeigt sich an Elisabeth ganz deutlich, dass das Leben Sinn hat, solange man Freude
daran hat. Elisabeth hat viel Freude daran, obwohl sie sich immer wieder sehr ärgern muss. Elisabeths Leben ist lebenswert,
obwohl sie in den Augen eines vitalen Menschen wenig davon hat. Aber da ist die Musik, die sie genießt. So lange ein Mensch
das kann, so lange ist es wert, da zu sein. Wir erfahren gegen Ende des Films, wie Sadina in einer gesundheitlichen Krise
um Elisabeths Überleben kämpft. Den Tod der anderen und den eigenen Tod gilt es, so lange es möglich ist, zu vermeiden.
Ob wir selbst je so gut gepflegt werden wie Elisabeth von Sadina? Wohl kaum. Das Glück, eine Pflegerin wie Sadina zu haben,
wird nur wenigen zuteil. Sadina ist eine stille Heldin des Alltags. Trotzdem wird ihr kein Orden verliehen und kein Denkmal
gesetzt. Dieser Film soll zumindest eine Hommage für sie sein, eine Hommage an Sadina Lungu. Und mit ihr an zehntausende Frauen
und einige wenige Männer, die so wie sie in der 24-Stunden-Pflege arbeiten.
Interview: Karin Schiefer
April 2024