Es kommt nicht so oft vor, dass jemand, der nicht im Milieu der Artisten und Akrobaten groß geworden ist, einen Zirkus von
der Dimension des Roncalli auf die Beine stellt. Zippo, der Clown, und Bernhard Paul, der Direktor, prägen in Personalunion
seit Jahrzehnten die Identität dieses Zirkus: eine Manege, die der Kunst der Clowns – den ernsten wie den lustigen – eine
besondere Bühne gibt. Harald Aue interessiert sich in seinem Dokumentarfilm Ein Clown, ein Leben für Bernhard Paul mit und ohne Clowngesicht – den Zirkusmacher, den Sammler von altem Tand und den Jungen, der den Träumen
seiner Kindheit verbunden geblieben ist.
Für Bernhard Paul, den Gründer des Zirkus Roncalli, waren Kindheitserlebnisse prägend für seine lebenslange und lebensbestimmende
Leidenschaft für den Zirkus. Reicht Ihre persönliche Beziehung zum Zirkus auch in die Kindheit zurück und hat somit einen
Grundstein zur Filmidee von Ein Clown, ein Leben gemacht?
HARALD AUE: Meine Affinität besteht weniger zum Zirkus im Speziellen als viel mehr zu anderen Menschen und deren Lebensgeschichten. Eine
Art von Voyeurismus vielleicht. Ich habe Kultur- und Sozialanthropologie und Politikwissenschaft studiert und mich immer für
andere Lebensentwürfe begeistert. Wie gestalten Menschen ihr Leben? Welche sozialen, kulturellen, religiösen Aspekte spielen
hinein und welche persönliche Motivation steht dahinter. Bernhard Paul, der ohne in einem Zirkus aufgewachsen zu sein, ein
großes Zirkusunternehmen auf die Beine stellt, war da ein ideales Thema, weil seine Lebensgeschichte von einer sehr starken,
sehr früh geprägten Motivation ausgeht, die bis heute nichts an Kraft eingebüßt hat.
Wie kam es dann zu einer gemeinsamen Filmidee mit ihm?
HARALD AUE: Unsere erste Begegnung reicht ins Jahr 2012 zurück. Ich hatte damals fürs Fernsehen eine Dokumentarreihe geplant, wo ich
über ein Jahr hinweg Zirkusfamilien auf Tournee begleiten wollte. Ich war fasziniert von den archaischen Clans, die teilweise
schon in der zehnten Generation Zirkus machen. Diesen Menschen wollte ich eine Zeitlang nahe sein. In einem nächsten Schritt
bekam ich einen Kontakt zu Bernhard Paul und seinem Zirkus Roncalli, wo man uns für die Recherche mit großer Offenheit begegnet
ist. Ich hab‘ damals für das Fernsehprojet ein sehr umfassendes Drehbuch geschrieben, es wurde leider nicht umgesetzt. Die
Idee blieb aber präsent. Mein Produzent Thomas Eichtinger hat dann mal nachgefragt, ob ich die Idee nicht in eine Kinoform
umarbeiten könnte. Das war der Moment, wo ich mich weg von den Familien und hin zur Figur Bernhard Paul bewegt habe, der mich
in seiner doppelten Funktion als Figur interessiert hat: als Zirkusdirektor und Clown. Das Drehbuch hat dann mehrere Einreichprozesse
durchlaufen, bis ich mit dem Dreh beginnen konnte. Das Interesse unseres Protagonisten am Filmprojekt war zwischenzeitlich
allerdings wieder etwas abgekühlt. So einfach und uneingeschränkt auch der Zugang war, der uns zum Zirkus und seinen Mitarbeiter*innen
gewährt wurde, unserem Protagonisten näher zu kommen, erwies sich als deutlich schwieriger und es begann ein Dreh, der immer
auch von Hürden geprägt war.
Der Zirkus ist eine Kunst, die nur im Augenblick besteht und lebt. Gleichzeitig transportiert der traditionelle Zirkus immer
etwas von einer alten, entschwindenden Welt. Bernhard Paul scheint ein der Vergangenheit sehr verbundener Mensch. Wie sind
Sie dieser Bindung zur Vergangenheit/ zur Kindheit auf den Grund gekommen? Und wie hat sie Ihre Präsenz im Film gefunden?
Wie sehr würden Sie Bernhard Paul auch als Zeitreisenden bezeichnen?
HARALD AUE: Mich hat vor allem interessiert, warum dieser Mann Zirkus macht und warum ihm die Nostalgie und das Bewahren so wichtig ist.
Ich habe ganz stark den Eindruck gewonnen, dass der Zirkus bei Bernhard Paul die Möglichkeit erfüllt, sich in eine ideale
Welt zu begeben. Eine Welt, die er sich schon als Kind erträumt hat. Außerdem ist der Zirkus hierarchisch strukturiert, er
ist der Direktor und sein Wort ist in dieser Welt Gesetz, was auch kein unwichtiger Punkt ist. Bernhard Paul hat die Gabe,
seine Träume nach seinen Vorstellungen greifbar umzusetzen. Er schafft sich diese ideale Welt. Das tut er nicht nur im Zirkus,
sondern auch mit seiner Sammlung. Er ist ein eigener Kosmos, an dem wir als Publikum teilhaben können.
War Bernhard Paul grundsätzlich gerne bereit, diesen Film zu machen?
HARALD AUE: Es gab, was den Zirkus und seine Mitarbeiter*innen betraf keine Einschränkungen, wir durften überall hin, mit allen sprechen.
Was ihn selbst und die Geschichte unter der Oberfläche betraf, haben wir einen langen Atem gebraucht. Es hat zwei Jahre gedauert,
bis wir alles beisammen hatten. Oft haben wir Wochen und Monate auf Dinge gewartet, bis er bereit war, sich zu öffnen. Ich
habe das aber verstanden. Für Bernhard Paul war es nicht leicht, öffentlich über sein Privatleben und seine Kindheit zu sprechen.
Dieses Vertrauen zu uns und unsere Arbeit musste bei ihm erst wachsen und das hat eben seine Zeit gedauert. Natürlich hat
das auch den Entstehungsprozess des Films massiv beeinflusst. Es war relativ schnell klar, dass wir uns hier nicht an Drehpläne
halten können, sondern uns an die Gegebenheiten anpassen und sich bietende Gelegenheiten nutzen müssen.
Vom Geschehen in der Manege ist abgesehen von Archivaufahmen und Proben nichts zu sehen. War das beabsichtigt oder auch Corona
geschuldet?
HARALD AUE: Das war Absicht. Ich wollte keinen Film machen, der zeigt, was man im Zirkus sieht. Keine Nummern, keine Akrobatik. Ich wollte
die Person Bernhard Paul näher erforschen und auch sein Alter Ego, den Clown Zippo, den er in der Manege spielt, nachzeichnen.
Auch wollte ich herausfinden, was hinter seiner Erzählung steckt. Wenn man sich Archivmaterial anschaut, das zehn, zwanzig,
oder dreißig Jahre zurückliegt, sagt er beinahe wortwörtlich dasselbe wie heute auch. Dieses Narrativ zu ergründen und eine
Ebene tiefer zu forschen, war mir ein Anliegen. Sehr bald sind wir auf seine Mutter und seinen Bruder gestoßen und haben damit
auch heikles Terrain betreten, weil sich da Türen zu Themen öffnen, wo mit Vorsicht, Bedacht und Respekt gearbeitet werden
muss. Ich glaube, sein schwieriges Verhältnis zur Mutter, seine Suche nach Anerkennung und Liebe ist immer Thema gewesen,
besonders auch angesichts des Bruders, der als Erstgeborener durch die Mutter bevorzugt wurde. Er, der Nachzügler, konnte
es ihr nie recht machen, obwohl er so erfolgreich war. Darüberhinaus sind Bernhard Paul und seine ganze Maschinerie seitens
der Medien immer wieder mit denselben Fragen konfrontiert worden, wie ein siegreicher Abfahrtsläufer im Zieleinlauf. Diese
Fragen gehen selten in die Tiefe, daher hat er auch eine Gewohnheit, eine Methode entwickelt, mit den Medien umzugehen. Mit
uns tauchten da plötzlich Leute auf, die ganz andere Dinge von ihm wollten. Die an einer Innenschau seiner Person interessiert
waren. Ich hatte das Gefühl, Bernhard Paul konnte bis zum Schluss nicht genau einschätzen, worauf wir da hinauswollen. Umso
mehr war es eine riesige Freude und Erleichterung, als er bei der Rohschnittvorführung vor Rührung weinte und uns zu unserer
Arbeit gratulierte.
Ein Clown, ein Leben hat zwei Ebenen, eine biografische und eine kulturhistorische, über die Figur des Clowns. Warum spielt Ihrer Meinung nach
der Clown so eine wichtige Rolle in Bernhard Pauls Zirkus. Warum fokussieren auch Sie in Ihrem Film auf die Figur des Clowns?
HARALD AUE: Man erfährt im Film, wie Bernhard Paul zu seiner ersten Rolle als Zirkusclown gekommen ist, nämlich aus Zufall und aus Personalmangel,
weil der dritte Partner im Clown-Trio gefehlt hat. Er ist sozusagen eingesprungen, hat seine Sache dann aber sehr gut gemacht.
Das ist die faktische Seite. Andererseits waren Clowns schon in seiner Kindheit die Figuren im Zirkus, die die größte Faszination
auf ihn ausgeübt hatten. Leute aus seinem Umfeld erzählen, dass er, wenn er in die Rolle des Clowns schlüpft, auch ein anderer
Mensch wird: Tief entspannt, gelassen, zuhörend. Ein bisschen wie ein anderer Teil seiner Persönlichkeit, der durch den stressigen
Alltag in den Hintergrund treten muss. In der Rolle des Clowns kann er das ausleben. Er selbst sagt, dass ihm diese Figur
erlaubt, Kind zu bleiben. Diese andere Persönlichkeit, den Clown ans Licht zu holen, war demnach nur logisch um Pauls Charakter
nachzuzeichnen.
Der sich schminkende oder das Kostüm anlegende Clown ist ein wiederkehrendes Motiv. Warum ist dieser Moment der Transformation
ein so wesentliches Motiv in Ein Clown, ein Leben.
HARALD AUE: Es geht stark um diese Transformation, um das andere Gesicht. Bernhard Paul erzählt, was er erlebt, wenn er sich schminkt,
dass ihn dann ein anderer aus dem Spiegel anblickt, mit dem er in einen inneren Dialog treten kann. Es geht weit über die
Rolle hinaus, die Figur ist Teil der eigenen Persönlichkeit und mitunter weiß man nicht mehr, wer das Sagen hat.
Bernhard Pauls Frau sagt an einer Stelle: Ich habe das Gefühl, wenn er als Zippo auftritt, ist er ein glücklicherer Mensch?
Was für ein Clown ist Zippo? Wie hat er sich im Laufe vieler Jahre entwickelt?
HARALD AUE: Zippo ist eine August-Figur. Der August ist eine Grundform des Clowns, ein Nachfahre des Harlekin der Commedia dell‘arte,
eine Art Trickster, der Gegensätzliches in ihm vereint – gut, boshaft, hilfsbereit, listig, aber auch gefährlich, magisch
und sexuell aufgeladen. In der Aufklärung begann man diese Figur zu spalten, in den Weiß-Clown, der die Poesie, die Musik,
die Sprache hat, moralisch agiert und August, der sprachlos, wild und ungestüm ist und wie ein Kind angeleitet werden muss.
Warum sich Bernhard den August ausgesucht hat, hat zum einen eben mit Zufall zu tun, zum anderen damit, dass er sich womöglich
auch nach diesem Kind sehnt. Es geht, glaube ich, nicht um eine persönliche Entwicklung der Figur Zippo bei Bernhard Paul,
er hat es sich vielmehr zur Aufgabe gemacht, diese Figuren – den Weißclown, den August und den Contra-August – und deren traditionelles
Spiel in seinem Zirkus in den Mittelpunkt zu stellen und zu erhalten. Das klassische Trio. Es gibt da ein Repertoire, das
zwar neu interpretiert wird, aber ein altes Repertoire bleibt. Er will die Figuren in die Moderne führen, sie zeitgemäß inszenieren,
aber um sie zu bewahren und erhalten, um sie den nächsten Generationen nahe zu bringen. Er will verhindern, dass diese Kunstform
ausstirbt.
In der Darstellung der Geschichte des Clowns kommt Ihr kulturanthropologischer Zugang zutage?
HARALD AUE: Es hat mich diese Schauspiel, diese Darstellung des Lebens fasziniert: Im reduzierten Raum des Manegenrunds treten zwei,
drei Figuren auf, jeder davon ein Archetyp. Die Auftritte erzählen die großen Themen des Lebens auf eine einfache, unterhaltsame
Art und Weise nach. Das Publikum kann auf sehr befreite Weise lachen und sich mit diesen Figuren und ihrem Spiel identifizieren.
Diese Figuren und ihre Dualität, das Apollonische und Dionysische war für mich ebenso faszinierend wie die Geschichte von
Bernhard Paul zu entdecken. Die Clowns sind geheimnisumwitterte, mystische, unnahbare Figuren. Die Möglichkeit, hier in Kontakt
zu treten und zu ergründen, war für mich spannend und dafür bin ich sehr dankbar.
Wie lange haben Sie den Zirkus Roncalli begleitet?
HARALD AUE: Die Dreharbeiten haben punktuell stattgefunden, insgesamt haben sie sich über zwei Jahre erstreckt und je nachdem, wo sich
der Zirkus gerade befand, sind wir nachgefahren – Bremen, München, Hamburg, Düsseldorf, Köln, aber auch auf Tourneeplätzen
in Österreich, wie Linz, Innsbruck und Wien. Die Zusammenarbeit mit den Protagonisten vor der Kamera und den Leuten im Zirkus
war ausgesprochen professionell. Das sind alle Profis im Showgeschäft, die wussten sofort, worum es geht.
Es gibt eine Menge Archivaufnahmen: einerseits von Video-Aufnahmen aus Roncalli-Aufführungen und noch alte Super-8 Bilder
und Fotos. Wie hat sich Ihre Archivarbeit gestaltet?
HARALD AUE: Was das Archivmaterial betrifft, konnten wir aus dem Vollen schöpfen. Bernhard Paul ist ein Sammler, er schmeißt nichts weg.
Die Objekte, die er über die Jahrzehnte angesammelt hat, füllen nicht Räume, sondern Hallen. Darüber hinaus gibt es auch noch
Archivräume, wo sich Fotos, Videos etc. bis an die Decke stapeln. Da kommt eher etwas dazu, als dass irgendetwas weggeschmissen
würde. Dazu gibt es massenweise Fernsehmaterial, weil der Zirkus Roncalli seit Jahrzehnten in den Medien präsent ist, es gibt
Talk-Shows, Reportagen, Beiträge etc. Einschränkungen ergaben sich eher durch die Rechtefrage, wenn diese nicht geklärt werden
konnte. Auf ein paar Dinge habe ich deshalb leider verzichten müssen. Was den Einsatz des Archivmaterials im Film betrifft,
war mir wichtig, dass es sich auf keinen Fall mit einer Bebilderung von Lebensabschnitte erschöpft und zur visuellen Aufzählung
wird. Es ging mehr darum, Emotionen zu wecken und zu verstärken.
Unbedingt erwähnt werden muss die Musik, die speziell für diesen Film entstanden ist. Was gibt es dazu zu sagen?
HARALD AUE: Als mein Produzent Thomas Eichtinger und ich uns 2015 erstmals mit Bernhard Paul über das Projekt unterhalten haben – wir
waren damals in Aachen – , sind wir vom Vormittag bis Abend bei ihm im Wagen gesessen, im Hintergrund lief die ganze Zeit
Musik von Wolfgang Ambros, Georg Danzer, Rainhard Fendrich, Austro-Pop eben. Bernhards starker Bezug zu dieser Musik und zu
dieser Zeit war augenfällig. Bernhard gehörte zu einer dieser Wiener Cliquen, in seinem Fall war es die von der „Grafischen“,
auf die er gemeinsam mit Manfred Deix, Gottfried Helnwein, Josef Bramer gegangen ist und die diese graue Stadt am Eisernen
Vorhang verändert und geprägt haben. Diese Musiker, Wolfgang Ambros, Georg Danzer, Ludwig Hirsch, Marianne Mendt etc. sind
wie mein Protagonist auch Kinder dieser Zeit. Man kannte sich und arbeitete auch zusammen. Diese Kunstschaffenden stehen für
eine Zeit und eine Sprache, die von der Musik über die bildende Kunst bis zur Literatur reicht. Für mich war damit klar, wenn
es eine Filmmusik gibt, dann muss es eine sein, die sich ganz dieser Tradition verschreibt. Damit fiel meine Wahl auf den
Nino aus Wien, mit dessen Musik ich für ein früheres Fernsehprojekt schon mal in Berührung kam und bei unserem ersten Treffen
war auch Ernst Molden dabei. Bei diesem Treffen am Kaffeehaustisch wurde beschlossen, dass die beiden, die noch nie zuvor
zusammen Lieder komponiert hatten, ein Album machen würden. Die Grundlage für die Nummern waren einerseits die Gespräche mit
mir und andererseits konnte ich sie zweimal mit Bernhard Paul zusammenbringen. Eine unheimliche Magie, dass sie aus diesen
Begegnungen so eine Essenz herausbekommen haben. Was sie singen, ist so nah und wahr.
Mit welcher Conclusio betrachten Sie die letzte Einstellung des Films – Bernhard Paul, der sich für seine Clownnummer schminkt.
Lustiger oder trauriger Clown?
HARALD AUE: Weder lustig noch traurig. Die Wandlung ist die Conclusio. Er hat es geschafft, er ist der, der er sein will. Das unterstreicht
auch der Songtext am Ende: Für immer bunt, für immer laut, für immer jung. Wenn sich seine Frau den Clown in ihm zurückwünscht und er die Sehnsucht nach der Manege spürt und wieder neue Partner sucht,
dann erfüllen sich diese Wünsche und Träume in dieser Wandlung. Die visuelle Übersetzung davon sehe ich am Ende; wenn Bernhard
Paul sich wieder in diese Figur verwandelt, die er so liebt.
Interview: Karin Schiefer
April 2021