Die Geburt von Evelyne Fayes Tochter Emma-Lou war mit einer Diagnose verbunden. Ein Satz, ein Schnitt, der in diesen ersten
Lebensstunden den freudigen Blick auf den neu angekommenen Menschen verstellte und ein Vorgeschmack darauf, dass die Diagnose
Down-Syndrom immer mit Einordnungen, Ausgrenzungen und Schlussfolgerungen von außen verbunden ist. In ihrem Erstling LASS
MICH FLIEGEN plädiert die Filmemacherin für einen Perspektivenwechsel und portraitiert junge Erwachsene mit Down-Syndom, in
dem sie ihnen Raum für die eigene Sicht auf sich selbst eröffnet.
Sie steigen in LASS MICH FLIEGEN mit Bildern Ihrer Tochter ein, um im Laufe des Films junge Erwachsene mit Down-Syndrom zu
portraitieren. Ihre mittlere Tochter Emma-Lou wurde mit Down-Syndrom geboren. Waren es Gedanken, wie das Leben Ihrer Tochter
aussehen könnte, wenn sie der elterlichen Sorgepflicht entwachsen ist, die Sie zu diesem Film bewegt haben?
EVELYNE FAYE: Einen wesentlichen Anstoß haben meine eigenen Fragen zu Emma-Lous Leben, Zukunft und ihrer Lebensqualität geliefert. Von
ihrer Geburt an war ich mit einer Dynamik konfrontiert, die ich bei meinen anderen beiden Kindern nicht erlebt habe. Seitens
von Ärzt:innen oder Therapeut:innen wurde mir sehr rasch erzählt, wie sie sein wird, was sie wird machen können und vor allem
was sie nicht wird machen können. Emma-Lou ist nun zehn und ich habe den Eindruck, in jeder Lebensphase wird mir über sie
viel erzählt, anstatt dass man zunächst einmal hinschaut, wie sie ist, welche Persönlichkeit sie hat. Als sie geboren wurde,
wurde mir mitgeteilt, dass sie sich mit Down-Syndrom so und so entwickeln würde. Sie hatte noch nicht mal die Chance gehabt,
sich zu zeigen, da wusste man schon über ihre Zukunft Bescheid. Ich habe schnell festgestellt, dass die Orientierungspunkte
wie – wann beginnt das Kind zu zahnen, laufen, sprechen – bei Emma-Lou anders waren. Ich wurde stark mit defizitorientierten
Botschaften konfrontiert, sodass ich selbst für uns beide eigene Orientierungspunkte schaffen musste. Dafür suchte ich nach
Inspiration und diese Frage hat einen Anstoß für den Film geliefert. Die Protagonist:innen in LASS MICH FLIEGEN liefern durch
ihre Lebensentwürfe Ideen und Möglichkeiten. Das heißt noch nicht, dass es für Emma-Lou so sein wird, aber als Mutter gibt
es mir Kraft und Hoffnung, dass wir uns – weder sie noch ich – davon einschränken lassen sollten, was andere über sie erzählen.
Man funktioniert so schnell in Kategorien, zieht sehr schnell Schlussfolgerungen – eine Etikette genügt. Eine zweite Motivation
war, diese Etikette beiseitezulassen, in die Tiefe zu gehen und Menschen mit Down-Syndrom zu zeigen. Ich wollte, dass sie
mit ihrer Stimme ihr Leben erzählen, ihre Weltanschauungen vermitteln und vor allem vermeiden, dass jemand über sie redet.
Daran sind sie leider gewöhnt. Sobald sie selbst zu Wort kommen, wird ihre Persönlichkeit präsent und man kann nur staunen.
Man realisiert, wie dann das Anderssein aufgrund von Down-Syndrom zur Seite rückt. Wir merken, dass uns dieselben Themen und
Lebensentscheidungen beschäftigen. Das Wunderschöne an der Arbeit mit ihnen war für mich, dass sie mich inspiriert haben.
Und ich glaube, sie inspirieren jeden. Sie zeigen, wie sie mit ihrer Herausforderung zurechtkommen, um Wünsche und Sehnsüchte,
die wir alle kennen, voranzubringen.
In Ihrer Widmung, die Sie eingangs im Off sprechen, klingt kurz das Erlebnis der Geburt durch und die einschneidende Wirkung,
die die Diagnose Down-Syndrom in Ihrem Umfeld – sowohl im Gesundheitssystem als auch im Freundeskreis – ausgelöst hat. Schwingt,
quasi aus dem Off des Films, so auch Ihr Weg zum Umgang mit dieser Gegebenheit mit?
EVELYNE FAYE: Es war für mich ein Prozess. Die Arbeit am Film war eine schöne Bestätigung dessen, dass alles in Ordnung ist. Die Erfahrung
der Geburt war traurig, wo doch die Ankunft eines Kindes in der Regel Anlass zur Freude gibt. Im Fall von Emma-Lou hatte ich
das Gefühl, dass man mir eher Beileid wünschte und etwas von Begräbnisstimmung herrschte. Und ich fragte mich, wie es wäre,
wenn man das kippen könnte. Wie wäre es, wenn man zunächst einmal beglückwünscht wird für ein Kind, das zur Welt gekommen
ist, weil man weiß, dass es viele Möglichkeiten geben wird. Eine Diagnose allein bestimmt nicht das Leben eines Menschen.
Dieser bedauernde und trauernde Umgang mit dieser Nachricht war eine sehr einschneidende Erfahrung. Man vergisst ja beinah‘
auf das Kind, das hinter der negativen Wolke verschwunden ist, die diese Diagnose erzeugt hat. Die Diagnose Down-Syndrom hat
den ganzen Raum eingenommen. Emma-Lou ist nach der Geburt in ein anderes Spital zur Untersuchung transferiert worden und ist
dort über Nacht geblieben, wir Eltern sind nach Hause geschickt worden und die erste Nacht im Leben meines Babys waren wir
voneinander getrennt. Diese erste Nacht war nur vom diesem einen Wort – „Diagnose“ – bestimmt, man hat völlig vergessen, dass
da ein neuer Mensch dahinter ist. Erst als ich das Krankenhauszimmer betreten habe – es waren sechs Babys da und Emma-Lou,
war ganz hinten – hat sie mich angesehen und nicht mehr aus den Augen gelassen. Das war ein so starker Moment und von da an
konnte ich mir sagen: „Es passt schon. Sie wird mir den Weg zeigen und uns allen, wer sie ist, was sie braucht und wie sie
sich entwickeln wird“ und nicht eine Diagnose, die uns auf einem unpersönlichen Gang mitgeteilt wurde. Es ist eine Variation
des Lebens und ist Teil seiner Diversität. Es wäre schön, wenn diese Nachricht anders aufgenommen werden könnte; wenn man
sich diesen Film anschauen kann und beruhigt wird, die lähmenden Ängste verliert.
Sie sind Mutter von drei Kindern, Emma-Lou ist in der Mitte. Hat die Erfahrung eines Kindes mit Down-Syndrom Ihre Sicht auf
die Erziehung, den Zugang zu Ihren Kindern verändert?
EVELYNE FAYE: Ich habe mit Emma-Lou extrem viel gelernt. Viele Dinge, die ich mit den anderen Kindern vielleicht spontan und ohne viel
nachzudenken gemacht habe, musste ich anders machen und dafür auch manchen Trick lernen, wie z.B., mit Emma-Lou direkt und
mit einem positiven Fokus zu kommunizieren. Das kann man auch wunderbar für die anderen Kinder und auch Erwachsene anwenden.
Ich habe gemerkt, dass Emma-Lou bestimmte Unterstützung und andere Wege des Lernens braucht, dass sie am Ende die Dinge aber
auch lernen kann. Sie zeigt mir und vielen, was für sie besser ist. Die Aufmerksamkeit, die ich Emma-Lou schenke, sollte jedes
Kind haben, anstatt sie in Gänge zu pressen, die vorsehen, was sie in welchem Alter können müssen. Es wäre schön, wenn man
sich zuerst am Kind und seinen Stärken orientiert.
Man sieht Ihre Tochter Emma-Lou in verschiedenen Altersphasen. Haben Sie sich lange mit dem Gedanken, einen Film zu machen
getragen. War es Ihnen wichtig, dass die Bilder von Ihrer Tochter von Ihnen selbst gefilmt sind?
EVELYNE FAYE: Emma Lou zu filmen war eine sehr schöne Erfahrung. Diese Bilder sind eine Art Liebesbrief an sie von mir. Meinen anderen
Kindern habe ich über ihre ersten Lebensjahre ein Tagebuch geschrieben. Wenn sie 18 sind, werde ich ihnen diese Tagebücher
geben, zusammen mit anderen kleinen Erinnerungen aus ihren ersten Lebensjahren (Geburtsbändchen vom Krankenhaus z.B.). Mit
Emma-Lou war ich mir nicht sicher, ob sie so gut wird lesen können und noch dazu, ich schreibe auf Französisch also war ich
mir nicht sicher, ob meine Worte sie wirklich erreichen würden. Diese Bilder und der Film sind ihr gewidmet. Der Ursprungsgedanke
war also nicht direkt für den Film, sondern eher für sie. Als Erinnerung an ihre Kindheit. Und wenn daran teilhat, dass sich
Menschen durch diesen Film bestärkt und inspiriert fühlen, dann ist das ein noch wertvolleres Geschenk für sie. Es war in
der Tat sehr lange ein Hintergedanke. Ich hatte zunächst die Absicht, einen kulturellen Vergleich zu machen und zu schauen,
wie es in anderen Ländern funktioniert, wie sieht der Blick auf Menschen, die anders wahrgenommen werden. Mit Corona ist dieser
Ansatz aber unmöglich geworden. Im Film geht es auch vordergründig nicht um Down-Syndrom und Anderssein, es geht um Individualität,
um die Schönheit, einzigartig zu sein und wir voneinander lernen können. Die eigentliche Botschaft, die ich mit LASS MICH
FLIEGEN verbreiten möchte, ist eine universelle. Nämlich wie man Menschen mit einer Diagnose wie Emma-Lou von Anfang an in
eine Kategorie steckt und sagt, das wird so und so werden. Wenn ein Kind, das ständig wiederholt bekommt, dann ist das eine
sich selbst erfüllende Prophezeiung, egal, ob man eine Behinderung hat, oder ob man Herkunft, Geschlecht oder Religion heranzieht.
Es passiert überall, dass wir in bestimmte Kästchen gesteckt werden. Dafür soll ein Bewusstsein entstehen und davon sollten
wir uns distanzieren. Jeder Mensch soll von Beginn an dieselben Möglichkeiten haben dürfen, um dann im Rahmen der Fähigkeiten
selbst die Entscheidungshoheit über sein Leben zu haben. Am Ende meines Films heißt es: Jeder Mensch soll sich wie ein Universum
füllen. Mit unendlich vielen Möglichkeiten.
Sie sprechen eingangs im Off den Umstand an, dass das Glück Ihrer Tochter Ihnen besonders wichtig ist. Sie stellen die Frage,
was Glück bedeutet, auch zu Anfang des Films an Ihre jungen Protagonist:innen. Warum ist Glück so ein wichtiger Begriff?
EVELYNE FAYE: Ich habe mich gefragt, ob der Umstand, so früh abgestempelt zu werden, ein Hindernis für ein glückliches und erfülltes Leben
ist und es nicht ein Leben voller Einschränkungen und Eingrenzungen bedeutet. Gleich nach der Geburt entsteht der Eindruck,
es sei eine Katastrohe eingetreten. Es fühlte sich so an, als könnten das Kind und die Familie nie wieder glücklich werden.
Glück ist außerdem ein universales Thema, nach dem wir alle streben. Wir müssen alle unseren eigenen Weg finden, egal, welche
Hindernisse und inneren Herausforderungen sich uns in den Weg stellen.
Beeindruckend ist bei Ihren Protagonist:innen der hohe Wert, der dabei Beziehung – Freundschaft und Liebe – beigemessen wird.
EVELYNE FAYE: Ich habe mir zu Beginn mehrere Themen überlegt: Liebe und Freundschaft war eines davon, auch deshalb ein Thema, weil man
sich als Eltern fragt, ob mein Kind auch Freundschaften wird schließen können, ob es eine Liebe wird haben können: Ihrem Unterschied
wird so große Bedeutung beigemessen, dass man nicht weiß, ob sich Freundschaften entwickeln können. Ich sehe, dass Emma-Lou,
durch den Umstand, dass sie sich in einer anderen Geschwindigkeit entwickelt, oft den Anschluss zu den anderen verliert. Bei
meinen Protagonist:innen habe ich gesehen, dass sie dann Freundschaften schließen, wenn sie viel miteinander teilen. Sie haben
Freunde mit Down-Syndrom, aber auch welche ohne. Als Eltern kennt man die Angst, dass sie von der Gesellschaft isoliert werden
könnten. Da sie in gewisser Weise abgeschiedene Wege gehen, ergibt sich das wie von selbst. Wenn sie sich nicht in der Allgemeingesellschaft
bewegen, dann hat man schon Angst davor. Ich glaube die Bedeutung von guten Beziehungen steht auch deshalb im Vordergrund,
weil sie sehr viel mit Ablehnung konfrontiert werden. Dadurch, dass wir sie zur Ergotherapie, zur Logotherapie etc. bringen,
kriegen sie auch mit, dass sie Defizite in sich tragen. Ihre Leistung muss gewürdigt werden, weil sie oft viel mehr leisten
als wir, indem sie das Gleiche tun wie wir. Es wird aber selten anerkannt. Andre Zimpel, ein Professor aus Hamburg, der sehr
viel im Spektrum der Neurodiversität arbeitet, hat mich während der Dreharbeiten sehr inspiriert. Er bringt ein gutes Beispiel.
Jeder kennt im Winter das Gefühl, wenn sich das Gesicht vor lauter Kälte ganz lahm anfühlt und das Sprechen schwierig wird.
Man könnte sich vorstellen, dass Menschen mit Down-Syndrom dieses Gefühl ständig haben. Wenn sie gut verständlich sprechen,
dann ist das eine extrem große Leistung, die selten gewürdigt wird. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind daher so wichtig,
weil sie die Anerkennung brauchen. Lob und Stärkung erlebe ich bei Emma-Lou als sehr wichtig, damit sie keine Frustration
entwickelt.
Haben Sie in der Auswahl Ihrer Protagonist:innen nach jungen Erwachsenen gesucht, die ein unabhängiges und selbstbestimmtes
Leben führen?
EVELYNE FAYE: Mein erstes Kriterium war, dass sie sich verständlich ausdrücken können, damit sie uns selbst ihre Welt erklären können.
Dann erst hab‘ ich mir angeschaut, in welchen Lebensverhältnissen sie leben. Wer wohnt in einer WG, wer allein, wer in der
Familie? Ich hatte eine kleine Auswahl, gerne hätte ich noch mehr Vielfalt gehabt. Die Frage nach Selbstständigkeit und Autonomie
ist ein sehr großes Thema. Laut Professor Zimpel gibt es zwei Arten, jemandem zu mehr Selbständigkeit zu verhelfen: man hilft
jemandem, etwas selbst zu tun oder man hilft, um eine Abhängigkeit aufrecht zu erhalten. Das ist gar nicht so einfach. Mir
ist in den letzten Jahren aber auch bewusst geworden, wie wir alle von Hilfe abhängig sind. Unterstützung brauchen alle Menschen,
Kinder mit Down-Syndrom auf eine besondere Art. Am Anfang des Projekts habe ich viele Interviews mit Referenzpersonen geführt
– Lehrer:innen, Schuldirektor:innen, Betreuer:innen oder Eltern. Sie haben sehr viele wichtige Dinge zur Sprache gebracht,
auch die Problematik in Österreich, was Schule und Arbeitswelt betrifft. Ich hab aber leider festgestellt, dass die jungen
Erwachsenen mit Down-Syndrom sofort wie Kinder wirken, sobald sie neben einem dieser Expert:innen sitzen. Da merkt man, wie
unheimlich schnell es passiert. Wenn man ständig über die betroffene Person spricht, dann lässt diese die unterlegene Position
irgendwann einmal zu und wird so, wie man sie darstellt. Wenn man ihr aber den Raum gibt, um sich auszudrücken, eröffnet sich
eine völlig andere Welt. Ich habe sehr lange an den Informationen durch die Interviews festgehalten, weil ich sie für sehr
wichtig hielt, ich musste letztlich aber darauf verzichten, um genügend Raum für die Protagonist:innen offen zu lassen.
Einige wenige Menschen ohne Down-Syndrom sind dennoch Teil des Films – zwei Mütter und eine Schwester. Warum sind sie Teil
des Films geworden?
EVELYNE FAYE: Sie sind im Film geblieben, weil die Protagonist:innen an ihrer Seite ihren Platz behalten haben. Und es war wichtig, sie
auch als Teil von Beziehungen zu filmen. Das Thema Heiraten musste über eine außenstehende Person behandelt werden, da es
auch um fachliche Fragen geht, die über einen Arzt eingebracht werden. Es war immer ein schwieriges Abwägen, wie ich zu gewissen
Fakten komme, die ich nicht von den Protagonist:innen bekommen kann, ohne dass es sie in den Schatten stellt.
In einer Sequenz filmen Sie alle Protagonist:innen als wäre die Kamera ein Spiegel und fragen sie auch, was sie an sich selbst
schön finden und gelangen dabei zu einer sehr positiven Selbstwahrnehmung. Wie sehr hat sie die Diskrepanz zwischen Selbst-
und Fremdwahrnehmung beschäftigt?
EVELYNE FAYE: Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung sind ganz zentrale Themen dieses Films. Die Arbeit mit den Spiegelbildern war ein sehr
schönes Erlebnis. Das Setting war so, dass ich die Kamera hinter einen Spionspiegel gestellt habe, sodass sie sich tatsächlich
in den Spiegel schauen konnten, ohne die Kamera zu sehen. Meine Absicht war die, dass die Protagonist:innen uns Zuschauer:innen
zeigen, wie sie sich selbst sehen, damit wir den Schalter umlegen und aufhören, sie so zu sehen wie wir’s gewöhnt sind. Der
Spiegel war zunächst mit schwarzem Stoff bedeckt und sie wurden also vom Spiegel überrascht. Auf die Frage, wie findest du
dich, habe ich schönste Überraschungen erlebt: Es kamen Antworten wie – „Ich finde mich cool.“, „Ich finde mich schön“. Ich
fand das unfassbar stark. Wer von uns schaut sich in den Spiegel und sagt: „Ich sehe schön aus“. Das hatte zwei Effekte: Sie
zeigen uns genau, wie sie sind. Sie sind schön und wir sollten uns von diesen pseudoidealen Normdiktat verabschieden und dessen
Absurdität vorführen. Sie geben uns eine starke Lebenslektion, wir sollten uns auch so sehen. Sie sind es, die Recht haben.
Wir sollten sie so sehen, wie sie sich selbst sehen und wir sollten uns so sehen.
War es ein Ziel, über das Medium Film den Blick von außen auf Menschen mit Down-Syndrom umzulenken und zu etwas wie Unvoreingenommenheit
im Blick zu gelangen, einen neuen Blick von innen zu finden?
EVELYNE FAYE: Magdalena ist die Protagonistin, die am stärksten ihre gesellschaftliche Wahrnehmung thematisiert und sich auch selbst politisch
engagiert. Ihre Aussagen zeigen, mit welcher Bewusstheit sie diese Abgrenzung und Schubladisierung erlebt. Da spielt auch
meine Erfahrung als dunkelhäutige Frau herein. Ich kenne das, wie man von außen wahrgenommen und angeschaut wird, als würde
man eine Identität aufgeklebt bekommen, die vorgibt, dass man so oder so sein sollte, was man selbst aber nicht ist. Daher
finde ich es besonders stark, dass Magdalena eine Erfahrung in Worte fasst, die so viele Menschen kennen – diesen Blick von
außen, der so weh tut, weil er nichts damit zu tun hat, wer man wirklich ist. Die Fremdwahrnehmung ist falsch, aber sie ist
so dominant, dass man sehr stark sein müsste, um sie zu ignorieren. Solche Automatismen in Frage zu stellen, war eine meiner
Intentionen mit diesem Film. Magdalena erzählt auch, dass sie sich von ihren Eltern als Kind betrachtet fühlt, obwohl sie
eine Erwachsene ist. Das ist sehr komplex. Ich kenne das von meiner Tochter. Ich nehme auch oft die Zahnbürste für sie in
die Hand, weil ich in Eile bin und mir denke, vielleicht macht sie es nicht ganz richtig, obwohl sie es kann. Ich weiß, dass
ich ihr immer Gelegenheit geben sollte, solche Dinge selbst zu tun. Lernen auf den anderen zu hören, wenn er oder sie anders
funktioniert und es nicht sofort als Defizit zu betrachten, ist eine ständige Herausforderung. Es steht ständig eine Ambivalenz
im Raum. Es gibt den Wunsch selbständig zu sein, die strukturellen Einschränkungen, die von der Außenwelt kommen und die Einschränkungen,
die durch das Down-Syndrom gegeben sind. Damit muss man jonglieren und schauen, dass man den besten Weg findet und nach Möglichkeit,
die Person so sein zu lassen, wie sie ist und versuchen, die Welt mit ihren Augen zu sehen.
Sie verweisen auf Emma-Lous starken Blick und die Stärke, die Ihre Protagonist:innen ständig an den Tag legen. Ist es Ihre
Conclusio, dass es eine besondere Stärke braucht, um mit dieser Lebenssituation bestehen zu können?
EVELYNE FAYE: Ich glaube, ich würde den Akzent eher auf die Zeit setzen, die es braucht, um sich mit einem Menschen mit Down-Syndrom auseinanderzusetzen,
die Zeit nehmen, um die Person zu sehen, wie sie ist und nicht wie man will, dass sie ist. Ich bin davon überzeugt, dass jede/r
durch seine eigene Persönlichkeit strahlt, wenn man sie/ihn lässt. Wenn jemand das Gefühl hat, gebraucht und geschätzt zu
werden, dann ist er auch selbstbewusst. Selbstbewusstsein ist ein großes Thema. Nur mit Selbstbewusstsein fängt ein selbstbestimmtes
Leben erst an. Es geht darum, gesehen und gehört zu werden. Der Film soll ihnen Sichtbarkeit geben, das geschieht im Film
auch über den Tanz. Es muss sich nicht jede/r so gut sprachlich ausdrücken können wie Magdalena. Es gibt auch andere Möglichkeiten
des Ausdrucks und Arten, seine Persönlichkeit zu zeigen. Die Tanzbilder machen das sehr deutlich.
Die Silhouetten der tanzenden Figuren im Halbdunkel des Schlussbildes scheinen ja bewusst alle Möglichkeiten von Zuschreibung
aufzuheben.
EVELYNE FAYE: Ich bin überzeugt, wenn jedes Kind die gleiche Chance am Beginn seines Lebens bekommt, wenn man es empfängt und darauf hört,
wohin es will, dann hat man die Basis für eine vielfältigere und dialogfähigere Gesellschaft geschaffen.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2022