INTERVIEW

«Wir bilden uns nur immer ein, dass wir in der Gegenwart klüger sind als die Menschen vor uns.»

Schon König Midas stieß an die Grenzen der Gier, als er feststellte, dass es mit dem Wunsch, alles durch Berührung zu Gold zu machen, auch Schluss mit dem Essen und der Zärtlichkeit war. Der aktuell unausweichliche Wendepunkt im Umgang der Menschen mit ihrem Planeten führte Edgar Honetschläger in LE FORMICHE DI MIDA | DIE AMEISEN DES MIDAS auf eine Reise in die Mythologie und Ideengeschichte, um in einer vielschichtigen Collage zur Reflexion anzuregen, was und wann es zwischen Natur und Mensch aus dem Ruder gelaufen ist.
 
 
 
LE FORMICHE DI MIDA ist ein Essay, der sich mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur auseinandersetzt. Das Interessante ist, dass Sie über Mythologie und Philosophie der Frage nachgehen, wie es begonnen hat, zwischen Mensch und Natur schief zu laufen. Könnte man so die Grundfrage dieses Films formulieren?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
LE FORMICHE DI MIDA ist eine Bestandsaufnahme die bis zu 16.000 Jahre in die menschliche Vergangenheit zurückreicht, zu den Anfängen der Landwirtschaft und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft: Der Film versucht in einer durchaus auch amüsanten Weise darzulegen, wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute stehen. In meinem Oeuvre ist es nicht das erste Mal, dass ich mich mit der Dichotomie Kultur/Natur beschäftigte. Im Spielfilm Aun (2011), geht es um einen japanischen Wissenschaftler, der versucht, die Welt zu retten, was letztendlich zu deren Zerstörung führt: das Gute wollen und das Böse schaffen. Auch als bildender Künstler habe ich mich immer mit der Natur beschäftigt. Das Thema zieht sich, geprägt durch meine Mutter, die mir die Natur nahegebracht hat, durch meine Arbeit. Ursprünglich wollte ich in LE FORMICHE DI MIDA die Natur allein ins Bild rücken, es wurde aber schnell klar, dass man, auch wenn man die schönsten Landschaften der Welt filmt, den Menschen als Vermittler braucht. Der Film ist der Versuch, die Kristallisationspunkte in der Menschheitsgeschichte festzumachen, an denen sich unsere Vorstellungen von Natur verändert haben. Wertfrei, ohne Fingerzeig.
 
 
Sie haben viele Jahre in Italien gelebt, hat sich dieser Umstand ebenfalls auf bestimmte Facetten dieses Themas ausgewirkt? Wie beeinflusst der Ort, an dem Sie gerade leben, die Arbeit?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER
: Um das Jahr 2000, als ich noch fix in Tokyo lebte, wurde mir klar, dass ich mich fast ein Jahrzehnt mit japanischer Kultur und Politik auseinandergesetzt hatte, aber zu wenig über meine eigene wusste. Damals wurde das Bedürfnis, künstlerisch wieder nach Europa Verbindung aufzunehmen, virulent und ich stand vor der Frage, wohin ich gehen sollte. Die Conclusio war Rom, verstanden als Wiege unserer westlichen Gesellschaft. Ich machte damals die Filmtrilogie Colors ebendort, danach in Sizilien Il mare e la torta. Ein Schnitt in meiner Biografie war der Atomunfall von Fukushima 2011, der in mir eine unheimliche Verzweiflung ausgelöst hat. Dieses Ereignis bedingte meine definitive Rückkehr nach Europa. Da ich nicht nur in Wien leben und arbeiten wollte, bot sich Italien erneut an. Aus Angst vor den Folgen einer nuklearen Katastrophe, die ich in Japan erlebt hatte, habe ich einen ersten Gemüsegarten begründet. Ich wollte herausfinden, wie groß ein Garten sein muss, um sich übers ganze Jahr selbst zu ernähren. Ich habe mit 20 m2 begonnen. Nach über 20 Jahren Leben in den Megametropolen N.Y., São Paolo, L.A. und Tokyo bin ich also vor zwölf Jahren zum Landei geworden. Der Garten brachte mich in ständigen Kontakt mit Bauern und ich konnte beobachten, dass ökologisch alles schiefläuft: Wir beobachteten schon Anfang der 2010er Jahre, dass die Insekten- und Vögelpopulationen dramatisch schrumpften, dass wir aber auch Baumarten verloren. Dieser Umstand hat mich verrückt gemacht und mich als Künstler selbst in Frage gestellt. Kunst muss mehr können als aufzeigen und anklagen. Wie kann sie konkret für die Umwelt etwas tun? 2018 habe ich mit Biolog:innen, Ökolog:innen, Advokat:innen, Wirtschafter:innen etc. die NGO GoBugsGo.org gegründet und plötzlich war mein Garten 800m2  groß. Mit GoBugsGo hegen wir den utopischen Plan, in der Welt Flächen zu schaffen, die kein Mensch mehr betreten darf, um die Natur sich selbst zu überlassen. Der Mensch wünscht sich Freiheit, wo hört die des Individuums auf und fängt die der Natur an? Wieso billigen wir der Natur keine zu? Die Beobachtung der Natur hat mich angeregt, der Frage nachzugehen, was uns in diese schier verzweifelte Lage gebracht hat. LE FORMICHE DI MIDA will Aufklärung schaffen, um daraus schlussfolgern zu können.
 
 
Über die Off-Stimmen und die Zitate aus der griechischen Mythologie, aus der Philosophie verweist der Film auch auf die Texte, die ihn gespeist haben. Welche Quellen haben zum Gerüst für das Drehbuch geführt?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Theoretische Grundlagen würde ich in erster Linie bei Bruno Latour, Philippe Descola und Lynn Margulis verorten, die mich schon seit Jahrzehnten prägen, die aber erst jetzt ins Bewusstsein des aktuellen Diskurses treten. Und zur Mythologie: In Italien zu leben und sich nicht der Mythologie zu widmen, ist praktisch unmöglich, denn das kulturelle Erbe der Vergangenheit ist unerschöpflich. Der Boden dieses alten Kulturlandes ist durchtränkt von Mythologie. LE FORMICHE DI MIDA beginnt mit der griechischen Sage von Phaeton, die 1:1 die Situation beschreibt, in der wir uns heute befinden. Also schon die alten Griechen haben es gewusst. In all den Zyklen, die die Menschheit durchlaufen hat, kommen wir immer wieder an einen Wendepunkt, jedoch so dramatisch und bedrohlich wie jetzt, war es wahrscheinlich noch nie. Wie bei allem, was ich künstlerisch tue, ist es mir ein Anliegen, einen charmanten Zugang zu finden. Mit Honig fängt man fliegen, nicht mit Essig. Wenn man sich ansieht, wie die Medien im letzten Sommer endlich das Thema Global Warming betont haben, dann gilt es zu konstatieren: Dramatisch wird die Apokalypse an die Wand gemalt und wir erstarren in Angst. Das hilft gar nichts. Wir können es nur als Gruppe, als gesamte Menschheit schaffen. Als Künstler verstehe ich mich als Diener der Gesellschaft und habe somit die Pflicht etwas zur Veränderung beizutragen. Wenn ein Film wie LE FORMICHE DI MIDA hilft, einen Anstoß zum Anders-Handeln und -Leben liefert, dann ist er nicht umsonst in diese Welt gekommen.
 
 
Warum begehrt ein Mensch, der sein Leben der Natur verdankt, so viel Gold? ist der entscheidende Satz, der zu Ihrer titelgebenden Figur des Midas im Laufe des Films fällt. Wie ist Midas zu dieser zentralen Figur Ihres Films geworden?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
König Midas ist eine Figur, die uns seit Jahrtausenden beschäftigt. Die Geschichte ist bekannt: Midas wünscht sich von den Göttern, dass alles, was er berührt, zu Gold werde, was sie ihm gewähren. Als Folge kann er, weil alles, was er berührt, zu Gold, wird, weder essen noch trinken und sogar seine geliebte Tochter wird in der Umarmung zu Gold. Was wenige wissen, Midas ist als Baby ausgesetzt und von Ameisen genährt worden. Es ist interessant, wie man im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs im Bezug auf die Insekten oder Tiere immer wieder auf mythologische Bestände rekurriert, weil sie Rückschlüsse ziehen lassen, auf das, wie unsere Vorfahren mit der Natur umgegangen sind.
 
 
Zwei Fabelwesen begleiten den ganzen Film – eine Nymphe und ein Esel. Worin sehen Sie deren Rolle?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Ein sehr wichtiges Element in LE FORMICHE DI MIDA ist eine Dryade, halb Mensch halb Pflanze. In den westlichen, aber auch in der japanischen Mythologie gibt es immer wieder diese Verbindung zwischen den beiden Welten. Meist verbindet sich das maskuline Prinzip mit dem Tier, das weibliche mit der Pflanze. Diese Hybriden haben mich immer schon fasziniert. Das hybride Wesen in LE FORMICHE DI MIDA wird am Ende des Films zu Psyche, die in einer von Aphrodite auferlegten Strafe innerhalb einer Nacht verschiedene Körner voneinander trennen muss, was ihr nur mit Hilfe der Ameisen gelingt. Die Bilder sollen dazu anregen, sich darüber Gedanken zu machen, dass wir Menschen Natur sind, dass wir aufhören müssen, uns davon abzugrenzen unter dem Motto: Macht Euch alles Erdreich untertan. Dryaden sind Baumseelen. Stirbt der Baum, stirbt auch die Dryade. Die symbolische Vermenschlichung der Natur ermöglicht es, für diese Empathie zu empfinden. In LE FORMICHE DI MIDA ist das einzige Wesen, für das die Dryade sichtbar wird, ein Esel, der die Rolle des Philosophen und Beobachters innehat. Der Dreh mit dem Esel war übrigens eine spannende Sache. Ich habe mir bei einem Esel-Castings 32 Exemplare angeschaut und in Folge viel gelernt. In den letzen 25 Jahren habe ich genug schwierige Drehsituationen erlebt, aber bei einem Esel ist man am Ende mit der Weisheit, dann er wird zum Regisseur. Er bestimmt, was gemacht wird, und nicht umgekehrt. Mir gefiel diese Anarchie, das Brechen der Ordnung auf einem Filmset. Das Tier, also die Natur gibt den Takt vor. Amüsant, dass gerade EO von Jerzy Skolimowski herausgekommen ist, von dem ich nichts wusste. Auch mein Esel heißt Baldassare, der Referenz wegen natürlich. Und es scheint so, dass auch Alice Rohrwacher gerade einen Film da gedreht hat, wo ich vorwiegend lebe und gedreht habe, in dem ein Esel eine Rolle spielt. Esel galten immer als weise Tiere, darum werden sie auch gerade zum Thema, wir brauchen sie!
 
 
Für die dialogischen Szenen haben Sie sich für prototypische Figuren entschieden: die Bauern, das bürgerliche Ehepaar, der Reiter, der Priester, der moderne Midas sowie der Chor. Wie entstand dieses Ensemble? Wie sehr sind ihre fiktionalen mit mythologischen Figuren miteinander verschmolzen?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Die Charaktere dienen als Repräsentanten. Wenn man behaupten will, dass es einen König Midas im Film gibt, dann ist es Giancarlo, der Besitzer des Hauses, das ich miete. Er steht wie Mussolini auf der Dachterrasse des Hauses und wettert gegen die Migranten, die vor seinem Haus auftauchen. Das Thema Migration ist auch in Italien Dauerthema, das, wie wir wissen, ursächlich mit der Erderwärmung verbunden ist. Ich erfand den Chor der Immigranten, entlehnt der griechischen Tragödie, und ließ sie inhaltschwere Dialoge den Weißen ‘Aborigines’ entgegensingen. Sie stehen in einem kreisrunden, sehr gepflegten Rasenstück, das den Ordnungsdrang der Menschen symbolisiert – den Drang die Natur zu zähmen. Am Ende singen sie ein wundervolles Gedicht von Emily Dickinson. In der Szene, wo die Immigranten im Schlauchboot am Strand landen, ist ihre erste Geste die westliche, vermeintlich glücksbringende Technologie/Industrie anzubeten. Der Film macht sich aber über das Prinzip Fortschritt lustig. Was ist das eigentlich? Der technologische Fortschritt hat den Menschen um kein Jota moralisch verbessert. Wie Bruno Latour sagt: Die Moderne ist vorbei. Die Moderne ist der Höhepunkt der Verdinglichung der Welt, die uns in die ‘Hölle’ geführt hat. Nun kommen wir endlich in eine neue Ära, wo es um Gleichwertigkeit geht, um eine Redefinition der menschlichen Existenz im Verbund mit der Natur, wo der Mensch nicht mehr Herr oder Profiteur ist. An diesem Punkt ist die Mythologie wieder gefragt, die, wie die Bibel alles in Geschichten und Symbolen gedacht hat, um über Mensch, Kultur und Natur Aussagen zu treffen. Papst Francisco sagt in seiner Enzyklika LAUDATO SI, dass der Mensch die Pflicht hat, die Schöpfung zu achten und zu bewahren. Die Erde wird es immer geben, uns nicht, wenn wir wie gehabt weitermachen, wir vernichten uns selbst.
 
 
Ein Begriff, dem sie ebenfalls nachgegangen sind, ist der des Paradieses. Die Gärten der Babylonier, der Garten Eden etc. Leben in Harmonie mit der Natur. Welche Bedeutung ordnen Sie dem Paradies zu?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Das Paradies ist ein Konzept, das mit der Natur zu tun hat – der Garten Eden. Der Mensch lebte im Paradies in einem perfekten Zustand von Glück, eins mit allen Lebewesen, ein Ort wo ihm alles geschenkt war, wo er sich um nichts kümmern und vor allem nicht arbeiten muss. Mit dem Sündenfall kommt es zur Vertreibung aus dem Paradies und dem Beginn des Überleben-Müssens. Somit ist in der christlichen Welt Arbeit mit Strafe konnotiert und als Folge warten die Menschen auf das Wochenende und den Urlaub. Eine Form von Paradies. Wir unterschätzen, wie stark die Mythologie und die Ideen aus einer fernen Vergangenheit unser Verhalten bis heute prägen. Es ist spannend zu sehen, wie diese Ideen, auch wenn sie später oft umgekehrt interpretiert werden, einen maßgeblichen Einfluss auf unser Verhalten ausüben.
 
 
Hat die Entscheidung, mit in gewissem Sinne abstrakten Figuren zu arbeiten, auch mit der Absicht zu tun, eine Zeitlosigkeit herzustellen?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Ich versuche immer Filme zu machen, die man später zeitlich nicht zuordnen kann. Wenn man sich heute meinen Spielfilm Milk (1997) ansieht, spricht er vieles an, das auch heute die Welt bewegt. Am meisten muss man dabei auf die Musik achten – die verrät fast immer. In LE FORMICHE DI MIDA habe ich den Versuch gemacht, alle nur erdenklichen Mythologien und Epochen gleichzeitig wirken zu lassen, um ein erzählerisches Kontinuum zu schaffen. Es ändert sich im Laufe der Epochen ja nicht wirklich viel. Wir bilden uns nur immer ein, dass wir in der Gegenwart klüger sind als die Menschen vor uns.
 
 
Wo haben Sie gedreht und Ihre Darsteller:innen ausgewählt?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
In Tarquinia, 90 km nördlich von Rom, da wo die Etrusker ihre schönsten Grabmalereien hinterließen. Die Darsteller:innen habe ich alle aus meiner Umgebung ausgewählt. Der „Don Camillo“ von Tarquinia, der mit einem Gewehr durch den Film läuft und alles erschießen will, was er nicht versteht, ist ein über 80-jähriger Jäger, der einen lokalen Dialekt spricht. Alle sind Freunde aus der Umgebung und aus Rom. Es gibt nur eine einzige professionelle Schauspielerin, weil eine gute Freundin aus Rom, die ich so gerne besetzt hätte, Angst kriegte, vor der Kamera zu stehen. Alle anderen sind Laien. Das Bauern-Ehepaar, meine direkten Nachbarn, die sich für Hegel und Kant begeistern – Italien ist immer wieder unglaublich! –  bringen zum Ausdruck, dass es im byzantinischen Reich dem Kaiser zugestand, Personen, die zu reich und damit zur Gefahr für die Gesellschaft und den Staatsapparat wurden, zu enteignen. Interessant, nicht?
 
 
Es entsteht im Film eine Spannung zwischen den mythologischen Passagen, die durch die flüsternde Off-Stimme eine gewisse Melancholie und den Dialogszenen, die einen unvermutet subversiven und lapidaren Humor transportieren. Wie entstand das?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Ich habe den Film mit Thomas Woschitz geschnitten, der besonders effizient dort eingreift, wo ich dabei bin, völlig abzuheben. So ergab sich ein Rhythmus mit Passagen, in denen komprimiert Wissen vermittelt wird, abgelöst von Bildsequenzen mit Musik, die man emotional genießen kann. Dazu braucht es diese „sparks of fun“, die Gelegenheit bieten, über die Tragik zu lachen, die sich die Menschen selbst bereiten. Im Idealfall machen sich die Figuren über sich selber und die Situation lustig, in der sie stecken. Die Laien, die ich gewählt habe, sind sehr einfache und kluge Menschen. Sie zitieren dann z.B. die große Biologin Lynn Margulis, die einmal gesagt hat: Study nature, not books! Das ist einer der ganz zentralen Sätze in LE FORMICHE DI MIDA – ein Plädoyer, sich mit der Natur direkt auseinanderzusetzen und sie nicht nur über ein Drittmedium wahrzunehmen.
 
 
Vom Donnergrollen der ersten Schwarzblende an ist die Soundebene sehr minutiös gestaltet. Galt dieser Ebene in LE FORMICHE DI MIDA ein besonderes Augenmerk?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Ich habe im Vergleich zu anderen Filmen dieses Mal ziemlich konventionelle Musik verwendet, geschaffen von den Komponist:innen Luca di Volo und Eleonora Tassinari, ein Paar das mitten im Wald nahe Florenz lebt. Was den Sound des Films betrifft, war durch die vielen Voiceovers klar, dass sehr viel in der Postproduktion passieren musste. Es kam zur glücklichen Fügung, dass Silvia Moraes, die Sounddesignerin, die viele Filme von Paolo Sorrentino gemacht hat, bereit war, in dieses Projekt einzusteigen. Mit ihr habe ich sehr intensiv daran gearbeitet, dass der Film auch auf dieser Ebene etwas Besonderes wird. 
 
 
Fortschritt und Individualismus sind zwei Schlagworte, die sich der Midas im Film auf seine Fahnen schreibt. Liegen darin Ihrer Meinung nach die entscheidenden Konzepte, weshalb es in der menschlichen Zivilisation so aus dem Ruder gelaufen ist?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Was den Menschen zum Menschen macht, ist die Kultur, die er hervorbringt. Wenn er Schönes schafft, ist er der Natur gleichwertig. Sie fahren im Frühling durch die Toskana, die in Farben explodierenden Natur ist atemberaubend und die Gebäude, die man vorfindet, sind Teil von ihr. Das kann man auch in Japan erleben, wenn man z.B. einen Berg erklimmt. Kurz vor dem Gipfel gewahrt man eine sechsstöckige shintoistische Holzpagode, die sich an den Felsen schmiegt. Das Gebäude komplementiert die Natur, es gehört da hin. Die Natur ist unendlich schön und variantenreich. Und das sollte auch die Aufgabe des Menschen sein: Diversität zu fördern, denn nur diese lässt uns überleben und Schönes in die Welt zu setzen. Dies ist kein Plädoyer im Sinne von Früher war alles schön und heute ist alles hässlich. Es ist lächerlich zu sagen, die Generation der Babyboomer sei an der Vernichtung der Erde schuld. Hätte es vor 500 Jahren Flugzeuge gegeben, hätte man sie auch benutzt. Die Zerstörung läuft seit vielen Generationen. Somit ist im Film die Kolonialgeschichte über die Immigranten genauso angeschnitten wie die der Epikureer, die, ohne es wissenschaftlich beweisen zu können, das Atom als Ursprung aller Materie definierten. Ihre Atomtheorie sollte den Menschen die Angst vor dem Tod nehmen, denn danach fügen sich die Atome schlicht und einfach neu zusammen. In der griechischen Antike vollzieht sich eine erste Abwendung von den Göttern, das Individuum als eigenständiges Universum wird geboren und auch hier passierte eine Abwendung von der Natur. Vor der Landwirtschaft waren wir Nomaden ohne Besitz. Besitz ist ein Problem, er steht für das Verleugnen der eigenen Vergänglichkeit. Seit ich so lange in Japan gelebt habe, beschäftigt mich das Konzept des Individualismus. Woher kommt diese Idee, die in Japan ganz anders verhandelt wird? Wie hat sich die westliche Ich-Gesellschaft entwickelt? Wem dient dieses Konstrukt in letzter Konsequenz? Das sind so große Themen, dass ein, zwei Sätze nur wie Plattitüden klingen können. In LE FORMICHE DI MIDA ist so viel an Gedanken komprimiert und abgehandelt, dass man dann und wann nach Luft schnappen muss, um zu fragen, was konkret gemeint sei. Ich rate bei meinen Filmen immer, sich einfach fallen zu lassen, ohne viel nachzudenken, denn meine Filme sind wie Teiche. Stille Wasser sind tief. Die bezaubernde Landschaft um den dunklen Teich spiegelt sich. Es genügt, nur dieser Schönheit aus Bildern und Ton zu erliegen, ohne krampfhaft zu rätseln, was gemeint sein könnte. Wenn es den:die Betrachter:in anregt, kann er:sie gerne in den Teich eintauchen. Ich mache schlicht ein Angebot. Ich habe in meiner künstlerischen Arbeit immer zweierlei versucht: Bildende Kunst auf die Leinwand zu bringen, indem ich meine Überlegungen in ein anderes Medium übersetze – d.h. dessen Form zu genügen, sie aber auch bewusst zu brechen. Dem Medium Film werfe ich vor, dass es sich seit den sechziger, siebziger Jahren kaum weiterentwickelt hat. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Filmemacher:innen gibt, die Rezeptionsgewohnheiten brechen. Es gibt einige, die es versuchen, die aber – mich inkludiert – scheitern, weil die erlernten Wahrnehmungsgewohnheiten so stark in uns Platz gegriffen haben. Ich verspüre eine große Lust daran, meine eigenen Gewohnheiten zu brechen, um auch dem Publikum zu ermöglichen, etwas anders zu sehen und zu denken.
 
 
Im Schlussbild fällt die Metapher vom Strand ohne Meer, ist dies eher als pessimistischer Ausblick oder als reiner Denkanstoß zu verstehen?
 
EDGAR HONETSCHLÄGER:
Das ist Poesie der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector. Die Entdeckung ihrer Schriften hat mich überwältigt. Sie arbeitet mit unfassbaren Metaphern. Ein Strand ohne Meer ist für mich Poesie und auf keinen Fall ein Verweis auf eine dunkle Zukunft. Es geht darum, Bilder im Kopf zu evozieren. Ich wollte kein dunkles Szenario entwerfen. Für mich gilt das Prinzip Hoffnung.


Interview: Karin Schiefer
Jänner 2023