Die Institution der Arbeiterkammer ist eine österreichische Besonderheit. Finanziert aus den Beiträgen der Erwerbstätigen
vertritt diese unabhängige Einrichtung seit 100 Jahren deren Rechte und Interessen. Constantin Wulff hat seinen neuen Dokumentarfilm FÜR
DIE VIELEN – DIE ARBEITERKAMMER WIEN dem Wiener Stammhaus gewidmet. Mit seiner beobachtenden Kamera streift er durch das mehrstöckige
Gebäude von der zentralen Ebene der individuellen Beratungen über Think Tanks in arbeitspolitischen Fragen bis in die Managementetage
und erfasst mit der präzisen Inspektion eines einzigen Hauses und seiner Klient:innen nicht nur das vielschichtige Spektrum
der aktuellen Gesellschaft, sondern auch die sozioökonomischen Konfliktzonen moderner Arbeitsprozesse.
Die Themen Ihrer Dokumentarfilme wie zuvor In die Welt und Wie die anderen waren immer verbunden mit öffentlichen Institutionen.
Der Titel Ihres neuen Films über die Wiener Arbeiterkammer FÜR DIE VIELEN – DIE ARBEITERKAMMER WIEN bringt es besonders genau
auf den Punkt. Was hat Sie denn zur Arbeiterkammer geführt?
CONSTANTIN WULFF: Ich wollte wieder eine Institution in Österreich porträtieren und hatte schon verschiedene angesprochen, als mich meine Frau
auf die Arbeiterkammer in Wien aufmerksam gemacht hat. Ihr Hinweis fiel in eine Zeit, in der mir die Arbeiterkammer stärker
aufgefallen ist als zuvor, denn bis dahin wusste ich wenig über diese Organisation. In dieser Zeit, 2018, stellte eine Koalition
aus ÖVP und FPÖ unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache in Österreich die Regierung. Ich habe diese Zeit gesellschaftspolitisch
als sehr bedrückend empfunden, insbesondere weil diese sehr rechte und populistische Politik damals so dominant war und ihr
beispielweise von den Oppositionsparteien nichts Substanzielles entgegengesetzt wurde. Aus meiner Sicht kam in dieser Zeit
die einzig wahrnehmbare Opposition aus der Zivilgesellschaft und sachpolitisch sehr stark von den Gewerkschaften und eben
der Arbeiterkammer. Deshalb wollte ich mir die Arbeiterkammer einmal näher anschauen. Dies fand ich doppelt reizvoll, denn
für mein Verständnis von Dokumentarfilm ist es ganz zentral, Dinge zu entdecken, die ich noch nicht kenne. Nachdem ich von
der Leitung der Wiener Arbeiterkammer für das Filmprojekt grünes Licht bekommen habe, habe ich mich 2018 und 2019 der Recherche,
dem Konzeptschreiben und der Finanzierung gewidmet und schließlich im Spätherbst 2019 zu drehen begonnen.
Wie gewinnt man so eine Institution für ein dokumentarisches Filmprojekt?
CONSTANTIN WULFF: Ob man die Erlaubnis in einer Institution zu drehen bekommt, hängt sehr stark davon ab, ob es einzelne Menschen in Leitungspositionen
gibt, die vom Filmprojekt überzeugt sind. Das war auch bei meinen Filmen In die Welt über die Wiener Semmelweisklinik und
Wie die anderen über die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln so. Im Fall der Wiener Arbeiterkammer gab es ein sehr aufgeschlossenes
Management-Team, das mich von Beginn an unterstützt hat. Was aber für mich noch entscheidender ist, stellt sich dann erst
in der Recherche heraus: Ob das Vertrauen in den Film auch vom Großteil der Angestellten der Institution getragen wird. Ohne
die Unterstützung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kann ich meine Form des dokumentarischen Arbeitens nicht umsetzen.
Für mich ist es essentiell, ob ich mich in der Institution frei bewegen kann und ob ich über die vielen Dinge, die passieren,
rechtzeitig informiert werde. Ich bin viele Monate ohne Kamera und Tonband vor Ort. In dieser Zeit lerne ich die Institution
kennen, aber vor allem lernen die Menschen, die dort arbeiten, mich kennen. In den vielen Gesprächen, die ich führe, mache
ich meine Arbeitsweise und Position deutlich. Es wird dann beiden Seiten klar, dass ich einen Film realisieren werde, der
auf dem Prinzip der Unabhängigkeit basiert, dass ich aber der Institution dass ich aber der Institution, die ich porträtiere,
nicht radikal skeptisch gegenüberstehe.
Die Arbeiterkammer Wien ist ein Gebäude, das nach dem 2. Weltkrieg erbaut wurde – architektonisch betrachtet – ein massiver
Block. Wie steht man als Filmemacher davor und beginnt, sich im wahrsten Sinn des Wortes, ein Bild von dem zu machen, was
hinter der Fassade ist?
CONSTANTIN WULFF: Das ist eine Frage, die natürlich ganz Grundsätzliches aufwirft: Was kann ein Bild zeigen? Was sind die Bedingungen für ein
Bild? Für die filmische Darstellung von Institutionen habe ich die Methode des Direct Cinema gewählt: die teilnehmende Beobachtung
ohne gestellte Szenen, ohne Interviews, ohne erklärenden Off-Kommentar. Diese Methode hat zur Folge, dass man sich sehr viel
Zeit nehmen muss, sowohl in der Recherche als auch beim eigentlichen Dreh, um über das bloße Abbilden hinauszukommen. Diese
Form des Dokumentarfilms, die eben kein vorformuliertes Drehbuch bebildert, ist immer eine Entdeckungsreise und in diesem
Sinne habe ich mich auch durchs Haus bewegt – mit einem möglichst offenen Blick. Begonnen habe ich mit dem Bereich, den viele
Außenstehende als Erstes mit der Arbeiterkammer assoziieren: die Beratungen. Die ersten Kontakte im Haus und die Beratungen
vor Ort finden im Erdgeschoß statt. Von dort aus habe ich mich dann durch die vielen Büros in den übrigen Stockwerken gearbeitet.
Es ist wirklich unglaublich spannend zu sehen, wie groß das Spektrum der Tätigkeiten in diesem Gebäude ist: das reicht von
der Vertretung eines einzelnen um den Lohn betrogenen Arbeitnehmers über das Ausformulieren von Arbeitszeitgesetzen und verfassungsrechtlichen
Fragen bis zu den umfangreichen Aktivitäten realpolitischer Interessensvertretung.
Ein wichtiger Fokus des Films ist auf die Beratungstätigkeit der Arbeiterkammer gerichtet. Im Mittelpunkt steht das Individuum
in einem sehr breiten Fächer von Herkunft und Bildung. Hat es Sie auch überrascht und vielleicht erschüttert, wie massiv und
existenzbedrohend viele Problemlagen waren?
CONSTANTIN WULFF: Es wenden sich tagtäglich sehr viele Menschen mit ihren Anliegen an die Arbeiterkammer. Die Hilfestellung in äußersten Notlagen
ist alltägliches Geschäft, das sieht man sehr schnell. Die Einzelschicksale sind natürlich in ihrer individuellen Geschichte
oft sehr berührend, aber aus Sicht der Arbeiterkammer und für den Film ist es wie ein unaufhörlicher Strom. Von der Vielfalt
der Problemstellungen war ich tatsächlich oft überrascht. Mir wurde selbst bewusst, wie sehr ich mich in meinem Alltag in
einem sehr eng umrissenen Umfeld bewege. In der Wiener Arbeiterkammer wird einem schön vor Augen geführt, wie vielfältig sich
unsere derzeitige Gesellschaft darstellt. Das wollte ich mit dem Film unbedingt einfangen. Wie man sich vorstellen kann, haben
wir, gerade was die Beratungssituationen betrifft, sehr viel gedreht, wovon nur ein Bruchteil im Film zu sehen ist.
Ein zentrales Thema scheint in diesen Situationen dabei Sprache, in vielerlei Hinsicht, zu sein. Nicht nur werden Menschen
mit nicht deutscher Muttersprache in ihrer Sprache betreut, es gibt ein eindrucksvolles Beratungsgespräch in Gebärdensprache
zu sehen und es gilt, eine verständliche Sprache zwischen den Jurist:innen und den betroffenen Arbeitnehmer:innen zu finden.
Es scheint eine permanente Übersetzungsübung.
CONSTANTIN WULFF: Ja, das ist richtig beobachtet. Eine Erhebung der Wiener Arbeiterkammer hat ergeben, dass die Menschen, die aktuell Beratungen
in Anspruch nehmen, zweihundert verschiedene Herkunftsnationen haben. Das muss man sich einmal vorstellen! Natürlich kann
die Wiener Arbeiterkammer einige Sprachen abdecken – Türkisch, BKS, Ungarisch, Englisch – aber das ist nur ein kleiner Teil
der Sprachen, die in Wien gesprochen werden. Und die gesprochene Sprache ist ja nur ein Aspekt des Übersetzens: Was die Vielschichtigkeit
dieses Vorgangs bedeutet, wird einem in der Szene mit dem gehörlosen Ratsuchenden und der Gebärdendolmetscherin vor Augen
geführt. Was ich dabei beeindruckend fand, war, dass die Gebärdensprache durchaus in der Lage ist, fachspezifisches Vokabular,
das ich selbst kaum verstanden habe, auf den Punkt genau zu übersetzen. Grundsätzlich gibt es in der Arbeiterkammer ein hohes
Verständnis dafür, Sprachbarrieren zu minimieren. Das ist mal mehr und mal weniger erfolgreich. Im Alltag ist das kein leichter
Job, denn es ist klar, dass die Jurist:innen sich zwar bemühen, die Sachlage möglichst nachvollziehbar darzustellen, aber
Gesetzestexte sind für Laien oft nicht leicht zu verstehen.
Einen zweiten Fokus sehe ich rund ums Management der Institution: Wie funktioniert die Arbeiterkammer als Arbeitgeber. Wie
portraitiert man leitende Figuren mit dem filmischen Ansatz des teilnehmenden Beobachtens?
CONSTANTIN WULFF: Die filmische Methode des Direct Cinema hat wie erwähnt ganz klare Regeln, die auf ein möglichst nachvollziehbares Erleben
des Gezeigten abzielen. Das mache ich vor dem Drehen allen Beteiligten klar. Aus meiner Sicht lässt dies das Geschehen nicht
nur unmittelbarer wirken, es gelingt mittels der filmischen Beobachtung, dass Situationen, Handlungen und Figuren in ihrer
Komplexität erhalten bleiben. Die Interpretation der einzelnen Szenen bleibt für das Publikum deshalb tendenziell offen. Mein
Ziel ist es, dass sich das Publikum ein eigenes Bild machen und sich selbst erfahren kann, indem die eigenen Vorurteile, Sehnsüchte,
Projektionen analysierbar bleiben. In der Wiener Arbeiterkammer arbeiten rund siebenhundert Leute. Das ist rein organisatorisch
natürlich ein großer Betrieb. Ich hatte den Eindruck, dass es einen hohen Anspruch an sich selbst gibt, möglichst vorbildlich
als Arbeitgeber zu agieren und deshalb sehr viel Energie und Mittel in die innerbetrieblichen Strukturen investiert werden.
Nach dem Motto: Wenn man schon für Verbesserungen in der Arbeitswelt kämpft, dann muss das auch im eigenen Haus gelebt werden.
Diesen Anspruch habe ich sehr stark wahrgenommen. Ob man ihm in der Praxis auch gerecht wird, das zu beantworten würde ich
als Anmaßung empfinden.
Wie wichtig war es Ihnen zu zeigen, wie die im Haus praktizierte Expertise auch hinaus in die Gesellschaft wirken kann?
CONSTANTIN WULFF: Von Anfang des Projekts an war mir klar, dass die Beratungsgespräche in der Arbeiterkammer dramaturgisch das Fundament des
Films bilden werden, auf dem sich dann die Expertise, die dieses Haus ausmacht, entfaltet. Die Arbeiterkammer ist ein außergewöhnlicher
Think Tank. Aber auch eine Organisation, die im System des österreichischen Sozialstaats eine wichtige gesellschaftspolitische
Rolle spielt. Diese politische Dimension der Arbeiterkammer war natürlich am schwierigsten dokumentarisch darstellbar, da
sich dieser Bereich hinter verschlossenen Türen abspielt, wofür eine Dreherlaubnis zu bekommen praktisch unmöglich ist. Ich
habe daher versucht, diesen Bereich indirekt zur Sprache kommen zu lassen, etwa über die Szene im Parlament oder manche Besprechungen
und Pressekonferenzen. Vor allem in der zweiten Hälfte habe ich versucht, dies deutlich zu machen.
Wie sieht bei der Methode der teilnehmenden Beobachtung Ihre Kommunikation am Drehort aus, insbesondere mit den Kameramännern
Johannes Hammel und Michael Schindegger? Wie führen Sie Regie in Situationen, die Sie möglichst nicht beeinflussen wollen?
CONSTANTIN WULFF: Die Methode des Beobachtens ist grundsätzlich immer ein offenes Unternehmen. Für mich gibt es nichts Schlimmeres als „scripted
reality“ oder das Konzept des dokumentarischen „Themenfilms“, wo der Film lediglich zeigt, was er vorher schon gewusst hat.
Für mich ist Dokumentarfilm das genaue Gegenteil davon, nämlich eine Konfrontation mit der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit,
die immer überraschend und herausfordernd ist. Das ist jedenfalls das, was das Team und ich beim Drehen erlebt haben und was
das Publikum dann im Film miterleben kann. Ich habe Glück gehabt und für dieses Direct Cinema-Drehen ganz hervorragende Spezialisten
gefunden: Mit Johannes Hammel und Michael Schindegger an der Kamera sowie Andreas Hamza und Claus Benischke-Lang als Tonmännern.
Die Kommunikation am Drehort ist eine Mischung aus Vorgaben und Improvisation: wenn möglich arbeiten Kamera und Ton in großer
Eigenständigkeit und lassen sich auf die Situation ein; wenn es notwendig ist, folgen sie strikt meinen Anweisungen.
Ein dritter Fokus berührt die Aktivitäten rund um die Wirkung und Wahrnehmung der Arbeiterkammer nach außen: Pressekonferenzen,
Veranstaltungen, Imagekampagne. Gerade die Präsentation des Imagefilms für die Arbeiterkammer könnte Ihre filmische Arbeit
nicht besser konterkarieren. Wie hat sich Ihr Blick mit dem Blick der PR-Abteilung getroffen?
CONSTANTIN WULFF: Die Aktivitäten rund um das 100-Jahr-Jubiläum der Arbeiterkammer waren aus meiner Sicht ein Glücksfall für den Film. Denn
wenn eine Institution ein Jubiläum feiert, muss sie sich selber erklären und ein Bild von sich entwerfen. Dieser Prozess der
Selbsterklärung, der mit vielen konkreten Arbeitsschritten verbunden ist, ist für das Direct Cinema ideal, denn es kommen
sehr viele grundsätzliche Dinge zur Sprache. Beispielweise habe ich früh mitbekommen, dass für die Werbe-Kampagne auch ein
Werbespot geplant war und habe über Wochen die gesamte Entstehung dieses Spots dokumentiert. Im Film ist davon nur ganz wenig
übriggeblieben, mit der Sichtung durch das Management-Team im Grunde nur der Endpunkt. Aber das liegt in der Natur der Direct
Cinema-Methode, dass man ganze Prozesse dokumentiert, von denen am Ende das meiste nicht in den Film kommt, weil eine einzige
Szene alles erklärt.
Wie viel war im Februar/März 2020 bereits gedreht, als die Pandemie begann? Wie sehr hat diese unerwartete Situation Ihr Drehkonzept
durchkreuzt, Dinge unmöglich gemacht und gleichzeitig eine neue Dimension eröffnet?
CONSTANTIN WULFF: Das Hereinbrechen der Pandemie hat den Film stark beeinflusst und verändert. Wir haben im Spätherbst 2019 zu drehen begonnen
und waren mitten in den Dreharbeiten, als wir mit Covid konfrontiert wurden. Mitte März mussten wir auf die Pausetaste drücken,
weil wir zunächst nicht wussten, wie es aufgrund der Pandemie und den notwendigen Maßnahmen weitergehen wird. Vieles musste
in dieser Phase unwiederbringlich abgesagt werden. Aber da das allmähliche Hereinbrechen der Pandemie schon Teil des Films
geworden war, war klar, dass der Film der Wirklichkeit weiterhin folgen musste. Das ist ja der Kern des Direct Cinema. Dadurch
hat sich das Konzept natürlich verändert: Aus dem geplanten Institutionen-Portrait mit einigen Wochen Drehzeit ist dann eine
etwas längere Beobachtung geworden. Rückblickend gesehen bin ich nach wie vor ambivalent, denn mit einem Schlag hat sich der
Alltag in der Arbeiterkammer verändert und vieles, was ich drehen wollte, fand einfach nicht mehr statt. Zum anderen war es
natürlich auch spannend zu sehen, wie sich die Institution in der Krise verhält und wie in der Arbeiterkammer sichtbar wurde,
wie die Gesellschaft durch die Gesundheitskrise verändert wird.
Für den Schnittprozess, sagten Sie, musste sehr viel Material entstehen, um eine gute Grundlage zu haben. Wie erreichen Sie
dieses hohe Maß an Verknappung? Wie sehr ging es darum, ein Gleichgewicht zwischen Menschen herzustellen, die zur Arbeiterkammer
kommen, um Hilfe zu suchen und denen die Hilfe leisten?
CONSTANTIN WULFF: Im Schnittprozess selbst versuche ich den Eindruck, den ich zu Beginn der Begegnung mit der Institution hatte, nicht zu vergessen.
Das ist für mich eine Art Basis, von der aus ich das gedrehte Material beurteile. Dieses unmittelbare Erleben abzugleichen
mit den späteren Erfahrungen und Erkenntnissen, das ist meine Leitlinie im Schneideraum. Gemeinsam mit dem Editor Dieter Pichler
haben wir über einen Zeitraum von rund einem Jahr geschnitten. Wir haben dabei sehr lange daran gearbeitet, die Korrespondenzen
und Beziehungen zwischen den Arbeitsfeldern in der Arbeiterkammer deutlich zu machen. Dies schien uns die zentrale Aufgabe,
die uns das gedrehte Material gestellt hat. Der Schnittprozess hat sich durch die Pandemie verlängert, weil zum einen die
Dreharbeiten länger gedauert haben, aber auch das Schneiden selbst zeitintensiver wurde. Dieter Pichler, das möchte ich an
dieser Stelle festhalten, halte ich übrigens für den besten Editor in Österreich für diese Form des Dokumentarfilms. Er besitzt
eine unglaubliche Fähigkeit das gedrehte Material zu analysieren und dann die richtigen Fragen zu stellen. Neben vielen anderen
Fähigkeiten ist er ein ganz präziser Zuhörer, was das gesprochene Wort betrifft. Dies ist beim Direct Cinema, das oft ein
sehr gesprochenes Kino ist, von großem Vorteil. Im Verdichten von dialogbetonten Szenen ist er unerreicht.
Hat die Arbeit an diesem Film Ihre Wahrnehmung der Gesellschaft verändert?
CONSTANTIN WULFF: Ganz klar: ja. Neben vielen anderen Dingen habe ich zum ersten Mal in dieser Form über die grundsätzliche Bedeutung von Arbeitsrechten
für die Gesellschaft nachgedacht. Ich komme aus einem Umfeld, dem sogenannten Kulturbereich, wo bis zur Pandemie eher wenig
über Arbeitsbedingungen gesprochen wurde, wo im Gegenteil unter dem Deckmantel der Selbstverwirklichung und der kulturellen
Teilhabe ein hohes Maß an Selbstausbeutung gang und gäbe war. Wie gut dieser Perspektivenwechsel, den der Film verursacht
hat, konkret funktioniert, habe ich dann beispielsweise während der Dreharbeiten gesehen, als das Drehteam immer stärker begonnen
hat, die eigene Arbeitssituation zu reflektieren. Obwohl wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten, haben wir zum ersten Mal
über unsere Arbeitsverhältnisse gesprochen und bei allen hat sich der Blick auf die eigene Arbeit ziemlich verändert. Aus
meiner Sicht hat dies so gut funktioniert, weil die Arbeiterkammer eben ein Ort ist, der ganz nah dran ist an den Bedürfnissen
der arbeitenden Menschen und der wie selbstverständlich ein Denken und Handeln befördert, das im Sinne dieser Menschen ist.
Es ist diese Art des Denkens und Handelns, die mich dort am meisten beeindruckt hat.
Interview: Karin Schiefer
Dezember 2021