«Die Implosion von Systemen oder soziologischen Phänomenen interessiert mich nach wie vor. In diesem Sinne ist Weiße Lilien
Folgeprojekt von Die totale Therapie, aber von der Tonart und formal auf einer ganz anderen Ebene. Weiße Lilien ist auch aus
einer Unzufriedenheit heraus entstanden. Wenn, dann ist WEISSE LILIEN eine Antithese zur Totalen Therapie.» Christian Frosch
über die Dreharbeiten zu seinem neuen Spielfilm, der beim Toronto Film Festival 2007 uraufgeführt wird.
War der Wohnkomplex von Alt Erlaa schon seit langem eine Idee und Inspirationsquelle für das Drehbuch von Weiße Lilien?
CHRISTIAN FROSCH: Ich hatte zuerst Alt Erlaa im Kopf. Es war mir aber fast zu naheliegend. Dann dachte ich über rein digitale Lösung nach.
Dann sah ich mir etliche Großbauten in Europa an um dann zu erkennen, dass der Wohnpark Alt Erlaa in Verbindung mit digitaler
Nachbearbeitung ideal ist. Ich brauchte für den Film einen Ort mit der Aura einer in sich geschlossenen Stadt, der beinahe
wie ein Stadtstaat wirkt. Der Wohnpark hat sowohl Infrastruktur und Größe, die eine solche Behauptung plausibel erscheinen
lässt. Interessant fand ich, dass es auch ein Bau ist in dem klassische Ideen der Moderne, die der Wohnmaschine, mitgedacht
sind. Also Lebenskonzepte.
Der Architekt Auerbach, nennt seine Stadt eine "soziale Plastik". Architektur operiert immer mit einem Bild des Menschen mit
Vorstellung von Lebensentwürfen. Sie erfüllt und kreiert Bedürfnisse. Der Hang von vielen Architekten zum Totalitären ist
sicher nicht zufällig.
Was steckt hinter dem Wort "Wohnmaschine"?
CHRISTIAN FROSCH: Der Begriff kommt ursprünglich von Corbusier und meint massenhaftes Wohnen nach standardisierten Wohneinheiten in einem Hochhaus.
Aber es steckt auch die Idee des "neuen Menschen" drinnen. Der "neue Mensch", der neue Bedürfnisse hat, der mit dem Alten
bricht. Es ist ein Ort, an dem das Leben des modernen Massenmenschen rational abgewickelt wird. Im Bau von Harry Glück in
Alt Erlaa ist das natürlich sehr stark abgemindert, weil es in den siebziger Jahren entstanden ist, aber es schwingt noch
mit. Viele dieser Bauten sind in der Zwischenzeit völlig heruntergekommen, in Paris oder New York wurden viele abgerissen
oder sind so verslummt, dass sie zu Problemfeldern geworden sind. Das kann man von Alt Erlaa nicht behaupten. Es gibt Umfragen,
wonach die Wohnzufriedenheit überdurchschnittlich hoch ist, aber gleichzeitig auch die Selbstmordrate - ein schöner Widerspruch.
Weiße Lilien enthält Elemente von Science Fiction, vom Psychothriller, vom Horrorfilm. Was fasziniert Sie am Genre?
CHRISTIAN FROSCH: Ich glaube mich interessiert am Genre generell, dass es Zuschauererwartungen gibt, die man erfüllen, verweigern oder in eine
andere Richtung lenken kann. Ich finde es interessant, mit einer äußeren Form zu spielen. Science Fiction ist es nur am Rande,
eher eine "social fiction", da es die Technologie, die im Film gezeigt wird, tatsächlich schon gibt. Es hat in dem Sinn mit
Science Fiction zu tun, als dass es um eine Projektion der Gegenwart in die nahe Zukunft geht, eine Zuspitzung gegenwärtiger
Verhältnisse. Diese werden auf die Spitze getrieben und zu Ende gedacht.
War es ein Projekt, das Sie über sehr lange Zeit entwickelt haben?
CHRISTIAN FROSCH: Eigentlich darf man gar nicht erzählen, wie lange es gegoren hat. Die erste Fassung gab es vor acht Jahren, damals mit einer
anderen Produktionsfirma, die aber dann in Konkurs ging. Dann hatte ich eine Phase, wo ich das eher nicht verfolgen wollte,
schließlich hat es mich aber doch nicht locker gelassen. Es war ein Projekt, das sich immer wieder aktualisiert hat. Durch
09/11, die um sich greifende xenophobe Paranoia usw. Ich hatte das Gefühl diesen Film machen zu müssen, um es ganz pathetisch zu sagen.
Stand von Beginn an diese Doppelfigur der Hannah/Anna im Vordergrund?
CHRISTIAN FROSCH: Nein, das entwickelte sich interessanterweise relativ spät. Yoon handelt von einer schizophrenen Figur. Da der Film aber
keine Psychostudie ist, sondern eigentlich die Innenwelt visualisiert, hatte ich immer ein Problem- wie ich am Ende diese
Aufspaltung adäquat umsetze. Mit dem Wechsel, dass sie wirklich eine andere Person wird, ist der Film unkalkulierbar geworden.
Und es ist zu dem ein sehr klassischer Topos, der aber zu einem völlig unklassischen Ergebnis führt.
Paranoia, Manipulation in der Therapie, Irrationales sind Themen, die in Weiße Lilien auftauchen. Kann man einen inhaltlichen
Bogen von Die totale Therapie zu Weiße Lilien spannen?
CHRISTIAN FROSCH: Ich glaube, der Unterschied zu Die Totale Therapie ist, dass es dort einen reinen Blick von außen gibt, einen Laborblick, der schaut, wie sich eine Gruppe entwickelt. Bei WEISSE
LILIEN sind Außen und Innen nicht mehr unterscheidbar. Die Implosion von Systemen oder soziologischen Phänomenen interessiert
mich allerdings nach wie vor. In diesem Sinne ist es ein Folgeprojekt, aber von der Tonart und formal auf einer ganz anderen
Ebene. Weiße Lilien ist auch aus einer Unzufriedenheit aus Die totale Therapie entstanden. Wenn, dann ist WEISSE LILIEN eine Antithese zur Totalen Therapie.
Diese völlig neue formale Sprache hat sicherlich auch dem Kamera-mann Busso von Müller zu tun? Wie war die Zusammenarbeit
mit ihm?
CHRISTIAN FROSCH: Busso hat sich ganz auf das Projekt eingelassen. Wir haben Monate vorher zunächst nur über das Buch selbst und noch gar nicht
über die Auflösung gesprochen. Er hatte das Buch genauso wie ich im Kopf, bevor wir angefangen haben, über ästhetische Fragen
zu sprechen. Es war eine sehr intensive Zusammenarbeit, er ist ein Perfektionist, ein Berserker, der einen sehr hohen Anspruch
stellt, um jede Einstellung. Wenn man so eine fiktive Welt behauptet, braucht man eine Abstraktion. Cinemascope hat einen
Blick auf die Dinge, der nicht dem normalen Sehen entspricht. Busso hat unglaubliche Möglichkeiten, mit Schärfe und mit Raum
umzugehen, eingebracht. Es war ein sehr eigenes Arbeiten, das ich sehr lieben gelernt habe. Ich halte ihn für einen ziemlich
genialen Kameramann.
Beim Setbesuch entstand einerseits ein Eindruck, dass von der Kameravorbereitung extrem minutiös vorgegangen wurde, gleichzeitig
gewann man ein Gefühl, dass Sie ihren Schauspielern sehr viel Freiraum lassen. Mehr als zwei, drei Takes gab es selten?
CHRISTIAN FROSCH: Ich führe sehr genaue Vorgespräche über die Rolle, probe wenn möglich mit den Schauspielern. Und wir proben auch noch viel
beim Drehen. Mein Ziel ist es ja, dass der erste Take funktioniert, weil er vom Spielen her meistens der beste ist. Man muss
immer so lange proben, bis man das Gefühl hat, jetzt ist der richtige Punkt erreicht, sonst filmt man eigentlich Proben mit.
Ich habe, glaube ich, inzwischen ein recht gutes Gespür, wann es soweit ist. Die Schauspieler waren zu dem unheimlich gut
vorbereitet. Sie hatten eine genaue Vorstellung, wie sie im Film ihre Figur anlegen, ich musste nur mehr das Feintuning machen.
Brigitte Hobmeier, die Hauptdarstellerin, hatte einen Coach, mit dem sie drei Monate vorher den Film vorbereitet hat. Sie
wusste ganz genau, welche Emotion sie sich wo vorstellt. Es bestand Einigkeit mit Darstellern und Team, was der Film ist.
Es wäre aber auch anders gar nicht möglich gewesen, wenn man so einen Film in 29 Tagen abdrehen soll, dann kann man nicht
sehr viel ausprobieren. Natürlich wäre es angenehmer 50 Drehtage zu haben um freier arbeiten zu können.
Sie arbeiten in Weiße Lilien sehr viel mit Leuten, die vor allem am Theater sind.
CHRISTIAN FROSCH: Brigitte Hobmeier und Johanna Wokalek waren Wunschkandidatinnen. Wie bei allen Schauspielerinnen, die fix an Häuser gebunden
sind, drehen sie natürlich weniger oft. Brigitte ist wirklich ein Phänomen, so, wie sie in Nuancen und mit Blicken fein arbeitet.
Ich finde auch, dass sich die Spielweise am Theater in den letzten Jahren auch dem Film angeglichen. Nicht umsonst werden
so viele Drehbücher auf die Bühne gebracht. Ich glaube, das Kino siegt auf allen Ebenen - in der Bildenden Kunst, im Theater,
im Tanz - nur im Kino büßt es ein. Es sind viele Theaterschauspieler bei Weiße Lilien, sie haben aber alle schon mit Film gearbeitet. Und ich arbeite gerne mit ihnen, weil sie meist disziplinierter sind. Es
ist bei diesen langen Wartezeiten so wichtig, dass sie dann, wenn es darauf ankommt, genau am Punkt sind. Gerade bei einem
Film, wo die Kamera so genau ist, und auf den Punkt genau gespielt wird, wo ein Parcours, eine Choreografie vorhanden waren.
Es ist das Gegenteil von einem Dogma-Film, es kam hier auf Zentimeter an, ob sie in die Unschärfe gelangen oder nicht, was
wiederum ein sehr interessantes, konzentriertes Spiel erzeugt. ich bin mit meiner Besetzung absolut glücklich. Es ist glaube
ich sehr ungewöhnliches Ensemble.
Wie war das Drehen selbst in der echten "Wohnmaschine" in Alt Erlaa?
CHRISTIAN FROSCH: Es war zunächst sehr schwierig, Drehgenehmigungen zu bekommen, weil in Bürokratien nie jemand Verantwortung übernehmen will.
Man weiß ja nicht, wie viel Unruhe so ein Dreh stiftet. Aber als die Genehmigungen durch waren, waren die Leute sehr kooperativ
und interessiert. Wir hatten sehr viele Statisten von dort, und es war erstaunlich.
Hat das authentische Ambiente auf die Arbeit zurückgewirkt?
CHRISTIAN FROSCH: Ja, ich fühle mich inzwischen ein bisschen zu Hause dort, auch wenn ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Wohnanlage habe.
Ich kann verstehen, was die Leute daran schätzen, andererseits erschlägt es mich nach wie vor. Durch die Überdimensioniertheit
wirkt auf mich alles total künstlich. Es besteht ein extremer Widerspruch zwischen Außen und Innen, diese gigantischen Bauten
einerseits und doch sehr niedrige Plafonds in den Wohnungen, die eher bedrückend wirken. Der Widerspruch zwischen der klaustrophobischen
Enge drinnen und diesem gigantischen Entwurf außen wird im Film deutlich spürbar.
Wie sieht nun der Zeitplan nach Abschluss der Dreharbeiten aus?
CHRISTIAN FROSCH: Michael Palm, mit dem ich schon öfter zusammen gearbeitet habe, wird den Schnitt machen. Die Postproduktion wird zeitaufwändig
sein, es gibt sehr viel Digitales, womit ich relativ wenig Erfahrung habe. Der Bildschnitt sollte im Dezember fertig werden,
der Ton wird sehr aufwändig. Gerade bei diesem Genre ist es im Ton sehr wichtig, auf originelle Lösungen zu kommen, ohne einen
Grummelton- David Lynch-Abklatsch zu machen, der einem natürlich zuerst einfällt.
Stichwort David Lynch, stand Mulholland Drive im Hintergrund Ihrer Geschichte?
CHRISTIAN FROSCH: Eigentlich gar nicht, auch wenn ich schon mehrmals darauf angesprochen worden bin. Ich finde den Anfang dieses Films großartig,
habe aber bei WEISSE LILIEN nie daran gedacht. David Lynch ist immer gefährlich, weil er zu nahe und zu präsent ist. Man kommt ihm nicht
wirklich aus, aber ich habe eher versucht, andere Vorbilder im Kopf zu haben und bin lieber zwanzig Jahre und weiter zurückgegangen.
Wo sind also die Vorbilder?
CHRISTIAN FROSCH: Es gibt das Subgenre des Paranoia-Thrillers, wo ich ein paar Filme von Polanski sehr schätze. Wir haben aber auch ganz andere
Dinge angeschaut, die nicht unmittelbar mit dem Genre in Verbindung zu bringen sind. Z.B. sehr viel Bergmann, auch wenn ich
bis dato kein großer Bergmann-Liebhaber war. Für die Schizo-Geschichte war Persona ein sehr wichtiger Film. Antonioni, Polanski,
Nicholas Roeg, Hitchcock. Wir haben einfach viel angeschaut, und uns Fragen gestellt, wo taucht etwas auf? was haben wir davon
im Gedächtnis behalten? was haben wir reizvoll gefunden? Nicht im Sinne von, das bauen wir jetzt nach, sondern was ist antiquiert?
was kann man möglicherweise verwenden, kombinieren? Mit Busso und Michael ist es so, dass wir sehr von der Kinogeschichte
beeinflusst sind und über eine Art Fundus verfügen, aus dem wir schöpfen. Es ging uns nicht um Trends, was jetzt angesagt
ist, wo wir uns draufsetzen, sondern wir haben eher versucht, das gegenwärtige Kino auszublenden und zu schauen, was gibt
es an Vokabular aus 100 Jahren Kino mit dem sich etwas machen lässt.
Hat der Film eine gewisse Zeitlosigkeit?
CHRISTIAN FROSCH: Das war angestrebt. Stilistisch ist die Ausstattung von den siebziger Jahren geprägt, die permanent mit anderen Epochen gebrochen
werden. Wir fanden diesen Futurismus der Vergangenheit sehr reizvoll, denn gerade die sechziger und siebziger Jahre haben
einen Hang ins Futuristische. Mittlerweile hat das eine Patina und eine Widersprüchlichkeit in sich, weil in eine Zukunft
verwiesen wurde, die so nie eingelöst wurde und die mittlerweile auch historisch ist. Giovanni Scribano hat eine sehr ungewöhnliche
Ausstattung geliefert, nicht gerade mit den zur Zeit hippen Elementen der siebziger Jahren, sondern eher mit den düsteren,
"unschönen."
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2006