Franz Murer war bis vor kurzem in Österreichs kollektiver Geschichtswahrnehmung kein Begriff. Als Haupttäter im Ghetto von
Vilnius wurde der SS-Offizier aus russischer Gefangenschaft 1955 an Österreich ausgeliefert. Der Prozess wurde ihm erst acht
Jahre später gemacht, sein Freispruch von Politik wie Medien abgenickt. Anstatt einzelne Täter zur Rechenschaft zu ziehen,
hat Österreichs Nachkriegsgesellschaft ihre Nazivergangenheit ins Schweigen einer kollektiven Schuld gehüllt. Christian Froschs
Aufarbeitung Franz Murer Anatomie eines Prozesses ist ein später, umso wichtigerer Weckruf.
Der Fall Murer genießt in der österreichischen Öffentlichkeit keine allzu große Bekanntheit, wie sehen kurz gefasst die Eckdaten
aus?
CHRISTIAN FROSCH: Die gerichtliche Vorgeschichte ist ziemlich kompliziert. Franz Murer wurde 1955 aus der Haft in Litauen entlassen. Er war
dort wegen Mordes an sowjetischen Bürgen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Abgesessen hat er nur fünf Jahre. Diese Freilassung
im Zuge des Staatsvertrags wurde aber nur unter der Bedingung gestattet, dass der Prozess gegen ihn in Österreich wieder aufgenommen
würde. Die österreichische Justiz hat dann aber unter einer sehr obskuren Begründung kein Verfahren gegen ihn eingeleitet.
Murer hat nach seiner Rückkehr nicht einmal seinen Namen geändert und führte ein öffentliches Leben, da er aufgrund seiner
politischen Positionierung darauf setzen konnte, dass man ihn schützen würde. Nur durch einen Zufall hat Simon Wiesenthal
entdeckt, dass Franz Murer unbehelligt in der Steiermark lebte. Erst durch internationalen Druck musste ein Verfahren gegen
ihn aufgenommen werden. Er war dann an die zwei Jahre in Untersuchungshaft. Die Hauptverhandlung fand über zehn Tage hinweg
im Sommer 1963 in Graz statt.
Der Film MURER ANATOMIE EINES PROZESSES feiert seine Uraufführung in Österreich im Frühling 2018, als wäre er passend
zur politischen Situation bestellt gewesen. Die umfassende Recherche und Vorarbeit, die so ein Film einfordert, hat sich bestimmt
über mehrere Jahre gestreckt. Was hat Sie damals bereits im politisch-gesellschaftlichen Klima in Österreich die Brisanz dieses
Falles vermuten lassen?
CHRISTIAN FROSCH: Ich bin zufällig bei einer Reise nach Vilnius auf dieses Thema aufmerksam geworden, als ich im dortigen jüdischen Museum
auf eine Tafel gestoßen bin, die Franz Murer, als Haupttäter im Ghetto bezeichnet. Zur Erinnerung: Wilna war das geistige
Zentrum der jüdischen Kultur in Osteuropa. Sie wurde von den Nazis mit Unterstützung der litauischen Bevölkerung komplett
zerstört. Von den 80.00 Juden in Wilna überlebten nur ein paar hundert. Als historisch interessierter Mensch war ich erstaunt,
den Namen des Mannes noch nie gehört zu haben, der als hauptverantwortlich für die Shoah in Wilna gilt. Ich begann zunächst
aus rein persönlichem Interesse zu recherchieren. Es war ein Eintauchen in das dunkelste Kapitel der österreichischen Nachkriegsjustiz.
Der Murer-Prozess ist einerseits exemplarisch, und doch besonders, weil sich Politik und Medien dabei besonders übel verhalten
haben. Ein dokumentarisches Aufarbeiten des Themas bot sich mangels lebender Zeugen und Bildmaterial nicht an, und so begann
ich mich langsam und mit viel Skepsis mit der Idee des Gerichtsfilms anzufreunden.
Wie teilte sich die Einarbeitung in den Fall zwischen historischer Recherche und Studium der Gerichtsprotokolle auf?
CHRISTIAN FROSCH: Zunächst wird man bei so einem Thema vom Wust an Material beinahe erdrückt. Erst als ich entschied, mich nur auf die Hauptverhandlung
zu konzentrieren, wurde es halbwegs überschaubar. Die Gerichtsprotokolle der Hauptverhandlung bildeten den Kern des Films.
Zunächst hatte ich die Idee, über den gesamten Film hinweg nur im Gerichtssaal zu bleiben, da hätte man aber die politische
Verstrickung, die ja das Herzstück ausmacht und den Film in die Nähe eines Politthrillers rückt, nicht verstanden. Ich habe
mich auch durch Unmengen an Dokumentation der Voruntersuchungen, die auf Mikrofilm existieren, gearbeitet, die Protokolle
der Hauptverhandlung, die ja nur zehn Tage gedauert hat, waren dem gegenüber relativ überschaubar. Für einen Nicht-Juristen
war es gar nicht so einfach, das System des Geschworenenprozesses, wie er in Österreich abläuft, zu verstehen. Erstaunt hat
mich, dass es von der Verhandlung weder Tonbandaufnahmen noch wortwörtliche Protokolle gibt, sondern nur stichwortartige
Aufzeichnungen. Dafür war ich als Drehbuchautor nicht undankbar, da es mir für den Wortlaut der Zeugen eine gewisse Freiheit
geschaffen hat. Aber gleichzeitig auch ein Zwang zu rekonstruieren, was und wie ein Zeuge etwas wirklich gesagt haben könnte.
Gerichtsprotokolle sind mitunter durch ihre Wortwahl und Auslassungen sehr manipulativ, trotz allem Objektivitätsanspruch.
In vielen Ländern setzt man deshalb auf wortwörtliche Aufzeichnung. Im Schreibprozess hatte ich nicht nur meinen hochgeschätzten
Dramaturgen Olaf Winkler zur Seite, sondern auch die Juristin Gabriele Pöschl, die sich wissenschaftlich mit dem Murer-Fall
beschäftigt hatte. Weiters unterstützten mich einige Fachhistoriker, um die Komplexität des Falles wie auch die der
Vorkommnisse im Ghetto von Wilna zu verstehen.
Der Filmtitel verweist auf den Begriff der Anatomie. Wann ist Ihnen die Idee des Sezierens in den Sinn gekommen?
CHRISTIAN FROSCH: Ich wollte es vermeiden, dass der Film von einer Hauptfigur getragen wird. Mir war es ein Anliegen, den Zuschauer in die
Rolle eines Prozesszeugen zu versetzen, d.h. ich wollte eine Multiperspektivität anbieten und habe mich deshalb für diesen
weit verzweigten Ensemble-Ansatz entschieden. Spannend ist ja der Moment, wo man das Puzzle versteht und einen Erkenntnisschub
bekommt.
Diese Entscheidung muss auch den Casting-Prozess zu einer der Kernaufgaben in der Vorbereitung gemacht haben. Jedes Gesicht
scheint mit großer Sorgfalt ausgesucht und auch entsprechend Gewicht zu haben.
CHRISTIAN FROSCH: Das Casting war in der Tat eine enorme Herausforderung. Eva Roth hat hier hervorragende Arbeit geleistet. Es gibt ja mehr
als dreißig Sprechrollen, von denen jede ihre Wichtigkeit hat. Dazu kamen Anforderungen wie Yiddisch, Hebräisch und Englisch
sprechen zu können. Ich bin sehr glücklich mit der Leistung der Schauspieler. Dreißig Schauspieler gleichzeitig am Set zu
haben hat mich anfangs etwas beunruhigt, es hätte auch schwierig sein können. Auch wenn man zusätzlich 150 Statisten im Raum
hat, die Katrin Biro übrigens hervorragend geleitet hat. Das Schöne war, dass alle mit einem hohen Maß an Identifizierung
mit dem Thema an diesem Film mitgewirkt haben. Es war eine besondere Stimmung bei den Dreharbeiten und ich habe es sehr geschätzt,
dass renommierte Schauspieler auch bereit waren, in kleinen Rollen mit wenig Dialog mitzumachen und so jeder einzelnen Figur
Gewicht verleihen.
Gerichtssaal-Drehs sind Kammerspiele, die auch die Kamera vor Herausforderungen stellen. Wie haben Sie mit Frank Amann die
bildliche Auflösung erarbeitet? Besonders das Spiel der Schärfen und Unschärfen?
CHRISTIAN FROSCH: Die Schwierigkeit, vor die man durch einen Gerichtssaal gestellt wird, ist die extreme Statik. Wir dachten sehr viel darüber
nach, wie man da eine Dynamik einbringen kann und haben uns für eine sehr riskante Lösung entschieden, nämlich, total mobil
in extrem langen Takes mit einer extrem langen Brennweite zu arbeiten. Es gab Takes, die bis zu 40 Minuten dauerten, wo nie
jemand wusste, wann er drinnen war, obwohl er letztlich groß im Bild ist. Es gab keinerlei Tricks. Diese Methode brachte genau
mein Anliegen auf den Punkt, dass in einem Prozess in jedem Moment das Zuhören, Zuschauen, Reagieren ebenso wichtig ist, wie
der, der gerade spricht. Das war sowohl für die Schauspieler als auch für die Kamera eine enorme Herausforderung. Am schwierigsten
hatte es der Schärfenzieher, der ästhetische Entscheidungen treffen musste. Bei 40 Minuten kann man die Schärfe nicht auf
jeden Moment exakt festlegen, also bedurfte es einer ständigen Kommunikation zwischen ihm, Kamera und mir. Es war es uns auch
wichtig, für die Einstellungen Perspektiven zu finden, die man normalerweise nicht wählen würde. So entsteht das Gefühl, man
ist mitten drin im Geschehen.
Einen Prozess aufzurollen, der tatsächlich stattgefunden hat, heißt ja auch, sich auf einem Grat zwischen Dokumentarischem
und Fiktion zu bewegen.
CHRISTIAN FROSCH: Unsere Kameraarbeit hatte in der Tat etwas Dokumentarisches, obwohl natürlich alles konzipiert war. Ein Prozess hat eine
Dramaturgie und ist in gewisser Weise ein Theaterstück: eine Tat wird rekonstruiert, jeder erzählt seine Perspektive und am
Ende soll etwas wie Wahrheit herauskommen. Ein Gericht hat immer auch etwas Fiktives und es spielt auch jeder eine Rolle und
hat eine definierte Funktion. Es war mir daher auch am Prozessbeginn wichtig zu zeigen, wie alle ihr Kostüm anlegen, so, als
würde sich ein Orchester vor Konzertbeginn einstimmen. Die Theateridee war sehr präsent. Ein Spielfilm ist immer eine Verdichtung,
ich habe mich immer für die Wahrscheinlichkeit entschieden.
Dramaturgisch interessant ist der Kunstgriff, viel an der Dynamik zwischen den beiden Anwälten aufzuhängen und auch noch eine
sehr überraschende Wende einzubringen.
CHRISTIAN FROSCH: Ich wollte nicht nur diesen Prozess, sondern auch etwas über Gericht per se erzählen. Ein Jurist hat mich darauf aufmerksam
gemacht, dass es ein Prozess war, für den man keine wirklich brauchbaren Entlastungszeugen aufbringen konnte. Alle Zeugen
sagen gegen den Mandanten aus. Der Verteidiger hatte also drei Möglichkeiten zu gewinnen, die Widersprüche in den Aussagen
heraus zu arbeiten, zu moralisieren und als Anwalt eine Show abzuziehen. Er erfüllt seine Rolle als Verteidiger, hinterfragen
kann man nur den Umstand, dass er die Rolle angenommen hat. Sein Schlussplädoyer so unglaublich es klingen mag, ist praktisch
wortwörtlich. Ich habe Vieles im Film nicht so drastisch gezeigt, wie es aus den Protokollen hervorging ich denke
da an Hitlergruß oder Verlachen der Zeugen weil es heutzutage unglaubwürdig wirken würde. Es war ein unheimlich großer
Schritt der Opfer zum Prozess anzureisen und auszusagen, viele der Überlebenden hatten sich geweigert, darüber zu reden. Und
dann wurden sie in Graz als Lügner beschimpft. Durch dieses Leugnen ihrer Leidenserfahrung und den Freispruch des Massenmörders
hat eine Re-Traumatisierung dieser Menschen stattgefunden.
Mit wie viel Empörung geht man aus der intensiven Auseinandersetzung mit so einem Fall?
CHRISTIAN FROSCH: Ich glaube, Empörung und Wut sind der Anfang. Je mehr man begreift, umso mehr gewinnen das Wissen-Wollen und Verstehen-Wollen
die Oberhand. Man muss dann achtgeben, dass man wieder zum Ursprungsgefühl zurückkommt, weil man vor lauter Verständnis und
Sicht auf die Komplexität den ersten emotionalen Impuls verliert. Wenn man sich über Jahre mit einem Holocaust-Thema beschäftigt
das haben mir auch Historiker bestätigt dann bekommt das irgendwann etwas von Normalität. Entsetzen
und Grauen kommen nur in Details immer wieder durch. So eine Arbeit verändert einen auch. Ich sehe heute Dinge in der Gesellschaft
schärfer und anders als ich es vor fünf Jahren getan habe. Ich reagiere heute allergischer auf Kollektivierungen. Die Täter
haben Namen und sie haben etwas getan. In Österreich war man sehr schnell damit, von einer vagen kollektiven Schuld zu sprechen,
weil die Tätergruppe sehr groß und überall war und auch überall weitergemacht hat. Weil sie so erschreckend groß war, wurde
sie nicht benannt. Man muss aber beim Namen nennen, wer beteiligt war. Es braucht eine Genauigkeit, die in Österreich immer
gescheut wurde, und keine kollektive psychoanalytische Couch. Erst die Genauigkeit ist es, die weh tut. Da gab es eine fatale
Fehlentwicklung. Man muss Täter, Zuschauer und Opfer strikt trennen. Sie sind an derselben Geschichte beteiligt und
doch haben ihre Erfahrungen nichts miteinander zu tun. Ein Gedanke, den ich von Raul Hilberg für meine Arbeit adaptiert habe.
Diese genaue Beobachtung eines gerichtlichen Prozesses führt auch gesellschaftliche Prozesse vor Augen. Wie sehr ist
dieser Murer-Prozess rückblickend nicht nur Symbol für den Umgang der österreichischen Gesellschaft mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit, sondern auch eine Weichenstellung für aktuelle politische Phänomene?
CHRISTIAN FROSCH: Mir ist klar geworden, dass ein Ereignis noch keine Geschichte schafft, sondern erst die Erzählung davon. Nur was erzählt
wird, existiert weiter. Ein Geschehen, das nicht erzählt wird, ist, als ob es nie stattgefunden hätte. Wer erzählt und welche
Geschichten erzählt werden, ist enorm wichtig. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen privatem Erzählen in den Familien und
den Geschichtsbüchern. Ich glaube, die Nachkriegszeit der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre sind hierzulande ein
blinder Fleck und ich denke, dass in dieser Zeit die Weichen dafür gestellt wurden, womit wir es heute in politischer Hinsicht
zu tun haben. Das Narrativ Holocaust setze sich erst mit dem Eichmann-Prozess allgemein durch. In Deutschland haben die Auschwitz-Prozesse
den Blick verändert. Interessanterweise lief alles über Gerichtsprozesse. Diese drei Prozesse bilden für mich die Weichenstellung,
und sie fanden wohl nicht zufällig innerhalb von zwei Jahren statt. Man kann die Affäre Waldheim nur verstehen, wenn man sich
den Murer-Prozess anschaut, der symbolhaft für den österreichischen Umgang mit seiner Geschichte steht. Man braucht sich nur
anzusehen, wie wenig Schuldbewusstsein geherrscht hat. Ich hätte mir vor fünf Jahren nicht gedacht, dass wir in so kurzer
Zeit wieder eine Diskussion über Liederbücher führen müssen, die zur Fortsetzung der Shoah aufrufen. In der Regel ist man
als Filmemacher sehr froh, wenn sein Film von besonderer Aktualität ist. Diese Form der Aktualität habe ich mir wirklich nicht
gewünscht.
Interview: Karin Schiefer
Februar 2018