INTERVIEW

«Im Kapitalismus wird alles zur Ware: Die Lebenszeit, der Körper, das Selbst.»

Fei ist ein Junge vom Land. Irgendwann hat es ihn in die Stadt gezogen, oder die finanzielle Not ihn dazu gedrängt. Das gute Geld, das er da am Strich verdient, nimmt seine Familie gern, doch sein Platz im Dorf und in der Familie ist ihm mit diesem Schritt abhanden gekommen. In seinem Spielfilmdebüt Moneyboys erzählt C.B. Yi nicht nur von der Verlorenheit eines jungen Mannes, sondern einer ganzen Generation, die zwischen dem wirtschaftlichen und moralischen Druck der Gesellschaft nur in einer Sackgasse landen kann.


Ich würde gerne mit einer biografischen Frage beginnen. Sie leben als Filmemacher in Österreich. Haben Sie zuvor auch in China gelebt?  Wie sehr sind Sie mit beiden Kulturen sozialisiert?

C. B. YI:
Häufig werden Filmemacher*innen mit Migrationserfahrung als Erstes zu ihrem kulturellen Background gefragt. Das kann allerdings unfreiwillig dazu führen, dass man sie nichtmehr durch die Eigenart ihrer Werke, sondern zu aller erst durch die Brille ihrer Herkunft liest. Als Regisseur möchte ich Themen jenseits kultureller Fragen und meiner Herkunft besetzen. Ich arbeite grundsätzlich in verschiedenen Genres und mit verschiedenen Settings. Vor kurzem habe ich ein Drehbuch mit einem historischen Thema über das Frankreich der Siebzigerjahre beendet und schreibe nebenbei an einem Science Fiction Buch mit dem Titel Zero.
Meine Kindheit habe ich in einem Dorf am Meer verbracht, meine Jugend in einer österreichischen Kleinstadt und während meiner Studienzeit habe ich Wien und Peking kennengelernt, bevor ich ein Studium an der Filmakademie Wien begonnen habe. Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit, auf die ich gerne mit Nostalgie zurückblicke. In den frühen Filmen des taiwanesischen Regiemeisters Hou Hsiao Hsien finde ich heute noch Orte und Spuren dieser Zeit. Selbst in manchen Filmen des japanischen Altmeisters, Yasujirô Ozu, finde ich herzliche Momente und die Güte der Menschen wieder, die ich in meiner Kindheit erleben konnte. Um diese Zeit lief im Kino unseres Dorfs die klassische Sissi-Trilogie mit Romy Schneider, die in China ein großer Erfolg war. Da war mein Vater schon ein Jahr in Österreich. Das war so ein merkwürdiger Zufall: Mein Vater war nach Österreich gegangen und Romy Schneider war an seiner Stelle in unser Dorf gekommen. Ich war fasziniert von den prunkvollen Sälen, den glitzernden Kostümen und Romy Schneiders blauen Augen. Ich habe mein ganzes Taschengeld ausgegeben damals, um immer wieder die Sissi im Kino zu sehen. Romys engelhaftes Lächeln im dunkeln Kinosaal war tröstend. Erst als 13-Jähriger kam ich zu meinen Eltern nach Österreich. In der ersten Woche erklärte mir mein Vater ernst, dass wir uns in einem fremden Land rasch anpassen müssen, um nicht negativ aufzufallen. Ich war ein eigenbrötlerischer Teenager. Ich schwänzte oft den Unterricht, um mir die verbotenen Horrorfilme aus der Videothek anzusehen, habe mehrmals die Schule abgebrochen und verschiedene Jobs ausprobiert. Als Migrant hat man oft das Gefühl, dass man nur mit einem Fuß in der Kultur und den Lebensformen steht, die einen umgeben. Diese Zwiespältigkeit versetzt einen in eine Beobachterposition am Rand: Man lernt zu beobachten, sich anzupassen, das Geschehen zu reflektieren und sich einzuschmiegen. Ich wünschte sehr, ich könnte sagen, es ist wie das Element Wasser im Taoismus: Es hat keine feste Form, sondern bahnt sich seinen Weg frei um alle Hindernisse herum.



Stand es immer fest, dass Ihr Spielfilmdebüt in China spielen würde?

C. B. YI:
Dass ich die Geschichte in China verortet habe, hat vor allem persönliche Gründe. Auf dem chinesischen Land großgeworden zu sein, ist mit so vielen Erfahrungen verbunden, die durch mein Leben in Europa nicht so präsent sind, aber die ich in mir trage wie eine Muttersprache, die man lange nicht mehr gesprochen hat. Mich mit der Welt meiner Heimat zu beschäftigen, hat mir in meiner Arbeit ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit gegeben, weil ich eine besondere Verbindung zu den Menschen, ihren Eigenarten und Konflikten spüre. Wahrscheinlich ist es auch wichtig, sich einmal in seiner künstlerischen Karriere mit seiner Herkunft auseinandergesetzt zu haben. Mein nächstes Projekt Pureland entwickelt die Themen von Migration und Selbstaufopferung weiter, aber in einem ganz anderen Kontext und anderen sozialen Verhältnissen – dem Migrant*innen-Milieu in Paris. Anders als die Hauptfigur in Moneyboys haben die Sexarbeiter*innen in Pureland die Initiative übernommen, für sich einzustehen und eine eigene Gemeinschaft zu bilden, um einander zu beschützen.


Wie gängig und weit verbreitet ist dieses Phänomen, dass junge Männer vom Land in die Städte gehen, sich prostituieren und damit ihre Familien in den Dörfern unterstützen? Wie sieht die legale Situation in China gegenüber Homosexualität und Prostitution aus?

C. B. YI:
Moneyboys spielt zwar mit einer sehr speziellen Situation, der Migration eines jungen Manns aus dem ländlichen China, aber es ist für mich eine universelle Geschichte über zwischenmenschliche Beziehungen, die an vielen Orten auf der Welt so passieren könnte.  Einige Menschen opfern sich auf für eine Idee, für das Vaterland, die Familie oder Freunde, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Die verehrt man – vielleicht zu oft – als Helden. Fei ist jemand, der sich aufopfert für seine Familie und Freunde, aber er wird vom Gesetz und von der Moral der Familie verachtet, weil er sich prostituiert. Sexarbeit ist in China wie in vielen Ländern verboten. Feis Selbstaufopferung wird nicht anerkannt, weil er aus der Ordnung der Gesellschaft und seiner Familie herausfällt. Er sucht Anerkennung und Liebe von denjenigen, die ihn ausschließen. Das ist kein Problem der chinesischen Gesellschaft im Besonderen. Diese Konflikte spielen sich in allen Gesellschaften, auch in Europa, ab. Homosexualität wird allgemein oft instrumentalisiert, um Feindbilder zu schaffen, die von den wirklichen Problemen der Gesellschaft ablenken.


Es ist Ihr erster Spielfilm. Haben Sie mit professionellen Schauspielern oder mit einem gemischten Cast gearbeitet?

C. B. YI:
Für die Hauptrolle habe ich sowohl Laiendarsteller als auch professionelle Schauspieler gecastet. Für mich stand dabei fest: Wenn Fei nicht von einem Laiendarsteller gespielt wird, dann muss es ein sehr talentierter, erfahrener Profi-Schauspieler sein, der auch Rollen jenseits seines Erfahrungsraums und seines Milieus überzeugend verkörpern kann. Der taiwanesische Schauspielstar Kai Ko, der mir bereits bekannt gewesen war, war einer meiner Favoriten für die Rolle von Fei. Kai Ko ist ein Schauspieler mit großer Begabung. Er gehört zu der Sorte Schauspieler, die eine halbe Minute vor dem Dreh noch mit den anderen Teammitgliedern Scherze machen, und sofort in ihre Rolle eintauchen können, wenn „Action“ gerufen wird. Seine ersten Takes waren stets die Besten. Und auch wenn wir wegen anderer Probleme noch zehn weitere Takes brauchten, blieb er immer geduldig und spielte auf den Punkt.
JC Lin, Yufan Bai und Chloe Maayan sind ebenso talentiert und konnten ohne viel Intervention meinerseits eigenständig arbeiten. Chloe, die davor für ihre Hauptrolle in Three Husbands mehrere Preise erhalten hatte, spielt in Moneyboys tatsächlich drei verschiedenen Rollen – ich bin schon gespannt, wie das Publikum darauf reagieren wird. Dank der eigenständigen Arbeit der Hauptschauspieler konnte ich mehr Zeit und Aufmerksamkeit am Set auf die Arbeit mit den Nebendarstellern verwenden, von denen ich die meisten zum ersten Mal erst am Drehtag getroffen habe. In Moneyboys habe ich hauptsächlich mit Profischauspielern gearbeitet. Aber ich habe in der Vergangenheit bereits mit Laienschauspieler*innen und gemischten Casts gearbeitet und würde mich sehr freuen, wenn ich in der Zukunft einmal die Gelegenheit hätte, ein neues Schauspieltalent zu entdecken. Beim Cast achte ich immer besonders auf die Stimme. Die Stimme finde ich oft sogar wichtiger als das Gesicht. Durch sie entsteht oft eine unmittelbare Beziehung – vielleicht weil wir ja schon im Mutterbauch gehört haben, bevor wir sehen und Gesichter erkennen konnten.


Moneyboys beginnt als Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern, nach und nach entfaltet sie sich von der individuellen Ebene zur kollektiven über die familiäre zur gesellschaftlichen Ebene im Stadt- und Landgefälle und stellt am Ende grundlegende existentielle Fragen. Sie haben auch das Drehbuch verfasst. Wie hat sich nach und nach der Schreibprozess entwickelt?

C. B. YI: Tatsächlich hat sich das Projekt vom Allgemeinen zum Besonderen entwickelt. Während eines Auslandsstudiums in Peking war ich mit einigen Schauspielstudenten befreundet. Viele von ihnen waren mittellos. Um ihren Traum, Schauspieler zu werden, zu verwirklichen, waren sie gezwungen, Sugar Mummies und Sugar Daddies zu finden, die ihnen ihr Studium finanzierten. Einer meiner Freunde arbeitete heimlich als Sexarbeiter, um die Krankenhauskosten seiner Mutter zu bezahlen. Seine Aufopferung hat mich beeindruckt. Ich fand heraus, dass viele Sexarbeiter*innen ihren Körper heimlich zum Wohle ihrer Familien verkaufen – ein Opfer, das sie vor ihren Nächsten geheim halten müssen.
Das hat mich auf die Frage gestoßen: Wofür lebt ein Mensch eigentlich? In China ist es der Konfuzianismus mit dem Wort "Pietät", das bedeutet Vater und Mutter, die Ahnen ehren und schließlich den „Mutter-Staat“ ehren. Kaum anders als das Wort "Tradition" in Österreich. Auch wenn heute vielleicht nicht mehr viele Leute behaupten würden, sie lebten für die Tradition der Familie oder des Staats, halten wir oft bestimmten Ideen die Treue, die uns darin hindern, glücklich zu werden. Während meiner Recherchereise 2009 für mein erstes Drehbuch Enten – eine Geschichte über das Machtverhältnis zwischen drei Callboys und deren reichen, chinesischen Kundinnen – habe ich Kontakt mit einem Soziologen aufgenommen, der in einer Studie für die WHO über 2000 männliche Sexarbeiter nach ihren Werdegängen befragt hat. Am Anfang habe ich ein dokumentarisches Drehbuch über fünf Sexarbeiter geschrieben, wie sie zu ihrem Beruf gekommen sind und wie sie mit dem sozialen Druck ihrer Familien umgehen, mit denen sie sich trotz allem verbunden fühlen. Durch Gespräche mit meinem Professor Michael Haneke wurde mir klar, was für eine große Verantwortung es ist, echte Sexarbeiter*innen vor die Kamera zu bringen. In einem Film gezeigt zu werden, kann Auswirkungen auf das Leben der Protagonist*innen haben, die keiner von uns vollständig überblicken konnte. Als Regisseur trägt man die Verantwortung, diejenigen zu schützen, die ihre Geschichte mit dir teilen. Also habe ich die verschiedenen Lebensberichte in einen Spielfilm übertragen. Das gab mir auch die künstlerische Freiheit, die verschiedenen Lebenserfahrungen auf die wesentlichen Probleme zu verdichten, ohne die Einzigartigkeit der jeweiligen Erfahrung zu verletzen.


Der Film enthält einen Zeitsprung ziemlich zu Beginn des Films. Sie erlauben sich einen kleinen formalen Kniff, nämlich bei diesem zeitlichen Schnitt nocheinmal den Filmtitel einzufügen, als würde der Film noch einmal beginnen. Der Neubeginn (oder die Möglichkeit dazu) ist eine Art Leitmotiv in Feis Lebensgeschichte. Wenn er in die Stadt kommt, wenn er nach dem Vorfall mit Xiaolai, seinem Freund, in eine andere Stadt zieht, wenn er ins Dorf zurückkehrt, wenn er an Long seine eigene Geschichte wiedererlebt? Welche Gedanken setzt das Motiv des Neubeginns in Gang?

C. B. YI:
Der „Prolog“ oder das erste Kapitel vor dem Titel beschreibt Feis „Initiation“ in das Sexworker-Business. Der Moment, in dem Fei vor der Polizei flüchtet, ist ein point of no return – bis dahin hätte er vielleicht noch abbrechen können – jetzt ist er ein Stricher, ein Geächteter. Von da an ist Fei den Problemen ausgesetzt, unter denen viele Sexarbeiter*innen leiden. Ihr Gedanke der späte Titel markiere ein Motiv des Neuanfangs gefällt mir sehr gut. Aber ich würde vielleicht bei Feis Leben weniger von Neuanfängen als von einem Wandel sprechen. Es ist kein Anfang ex nihilo, sondern es entstehen immer wieder neue Situationen, zu denen sich Fei neu positionieren muss. Das ist eher eine Bewegung die sich aus dem Wechselspiel der Kräfte ergibt. Man lebt weiter, man bewegt sich weiter.


Schlüsselszenen spielen oft rund um einen Tisch. Warum?

C. B. YI:
Das Essen ist eine notwendige Tätigkeit, und spielt in allen Kulturen eine zeremonielle Rolle, aber das gemeinsame Essen ist besonders essentiell für die chinesische Kultur. Durch den Wohlstand der jüngeren Vergangenheit Chinas wurde das Essen wieder kultiviert und zelebriert. Am Essenstisch tauscht man sich aus, trifft wichtige Entscheidungen, nimmt Abschied. Ein runder Tisch gibt oft eine Ebenbürtigkeit und Gemeinsamkeit unter den Gästen vor. Hinter diesem Bild der Gleichheit kommen die Hierarchien, die Konflikte und Differenzen oft umso deutlicher zum Vorschein.


Wie sehr knüpft die ästhetische Entscheidung, in Plansequenzen zu drehen, an diesen Gedanken und die Idee, wie sehr die Dinge ihren Lauf nehmen, ohne dass man darauf Einfluss hat, an.

C. B. YI:
Eine Szene mit vielen verschiedenen Einstellungen und Schnitten, das ist oft, wie wenn man bei einem Gespräch immer wieder woanders hinguckt, um die Intimität zu vermeiden, die entsteht, wenn man sich lange in die Augen schaut. Die Plansequenzen zwingen den Zuschauer in eine Beobachterposition: Die Figuren im Film sind seinem Blick ausgesetzt. Dieses Getrenntsein kann eine intensivere, intimere Begegnung mit den Figuren ermöglichen. Die Dynamik schneller Schnitte lenkt uns vielleicht schneller davon ab, dass wir in einem Kinosaal sitzen, aber man wird nur oberflächlich in die Handlung hineingenommen, ohne sich wirklich einfühlen zu können. Ich finde es spannend, innerhalb einer Plansequenz die Personen so zu arrangieren und sich gegeneinander bewegen zu lassen, dass innerhalb des Verlaufs einer Szene verschiedene Ansichten und Kadrierungsgrößen zustande kommen. So kann eine visuelle Dynamik und Bildvariation erzeugt werden, ohne dass die emotionale Kontinuität der Szene unterbrochen wird. Die Plansequenzen, haben sicher etwas mit der Frage der Handlungsmacht oder agency zu tun, wie Sie andeuten. Da möchte ich die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf ein Individuum und seine Entscheidungen lenken, sondern auf ein Netz von wechselnden Positionen und Beziehungen, in denen sich die Menschen befinden. In einer Plansequenz können kleine Verschiebungen der Distanz zwischen den Personen ganz andere Stimmungen erzeugen: eine subtile Macht ausüben, erotische Anziehung, Scham oder Angst auslösen. Die Entscheidungen, die wir im Leben treffen, ergeben sich aus diesen Feldern von Macht und Affekt, Anziehung und Abstoßung: Aus einer unerwarteten Nähe, einem plötzlichen Schweigen, oder dem Gefühl der Kälte, das sich zwischen Personen ausbreitet, die einander nichts mehr zu sagen haben.
Aber diese Schicksalsergebenheit, die Sie ansprechen, dass die Dinge ihren Lauf nehmen, ohne dass man Einfluss darauf hat – das ist eher die Idee, an die Fei glaubt, und die ihn nicht sehen lässt, welche Möglichkeiten sich ihm bieten, glücklich zu sein. Dieser Fatalismus ist nicht unbedingt die Botschaft des Films. Vielleicht sogar genau das Gegenteil. Ein Appell in diese Richtung liegt für mich besonders in der letzten Szene des Films. Fei gehört zu den Menschen, die alle Probleme auf sich nehmen aus Schuldgefühl gegenüber den Normen der Gesellschaft, die sie nicht erfüllen können. Er ist tagtäglich mit der Angst konfrontiert, entlarvt zu werden. So wie er die Macht der Ereignisse duldet, die immer wieder seinen Halt in der Welt bedrohen, so duldet er auch die Kamera, die ihm aufdringlich wie die Polizei in die einsamen, privaten Momente verfolgt, oder unbeweglich wie ein fremder, stiller Gast am Tisch sitzt, und beobachtet.
Mich beschäftigt dieses Gefühl des Ausgesetzt-Seins – gegenüber dem Leben, gegenüber dem Blick der Anderen – oder dem Blick der Kamera. Wir leben oft für die Augen der anderen – unserer Familie, unserer Geliebten oder unserer Feinde. Wenn jemand weint, auch wenn er allein ist, denkt er oft heimlich daran, wie es wohl für eine bestimmte Person wäre, ihn jetzt so weinen zu sehen. Darum finde ich auch das Schweigen in vielen Szenen wichtig. Wirkliche Verbindung zwischen Menschen passiert selten, wenn man die ganze Zeit spricht. Das entsteht erst, wenn man auf einmal aufhört zu quasseln, und sein Gegenüber spürt. Ruhe. Und dann weiß man auf einmal: Das war‘s. Das ist das letzte Mal, dass wir uns sehen. Oder: Das ist der Beginn einer großen Liebe. 
Viele Zuschauer*innen haben vielleicht vergessen, wie einem die Geduld des Zuschauens auch ein tieferes Erleben, und vielleicht sogar eine innere Ruhe zurückgeben kann. Aber ich will durch eine fesselnde Geschichte auch die Zuschauer*innen erreichen, die es vielleicht nichtmehr gewohnt sind, länger bei einem Geschehen zu verweilen. Gleichzeitig setze ich gerne einzelne überraschende Szenenwechsel in eine ganz andere Atmosphäre, die die Zuschauer so nicht erwarten würden.


Was hat es in der Praxis bedeutet, in Plansequenzen zu drehen: Wie haben Sie besonders die langen Szenen bei Tisch im Dorf, bei der Hochzeit, Lulu und ihr Mann nehmen Abschied mit den Schauspieler*innen erarbeitet. Wie haben Sie sich mit dem Kameramann Jean-Louis Vialard vorbereitet?

C. B. YI: 
Für Michael Haneke war es immer wichtig, seine Schauspieler zu beschützen. Sie sind oft wie Kinder, denen man Sicherheit und Respekt schenken muss. Es geht viel darum, eine vertrauensvolle Umgebung und Freiräume zu schaffen, damit sie in ihrer Rolle aufgehen können. Meistens habe ich vorher mit den Schauspielern ein langes Gespräch über ihre Rolle. Wenn ich merke, es ist soweit, da ist ein intimes Feeling für die Rolle da, gebe ich ihnen die „Erlaubnis“, ab jetzt dieser Charakter zu sein. Ein bisschen wie eine Initiation. Ab da ist klar: Sie können nichts falsch machen, weil sie jetzt ihre Rolle sind. Beim Dreh muss ich dann nicht mehr viel Anleitungen geben: Ich konzentriere mich vor allem auf die kleinen Details, Gesten, Blicke, im Verhältnis zum Kamerabild und kontrolliere, ob sich die Intensität des gelebten Moments vor der Kamera auch auf dem Filmbild wiederfindet.
Wenn die Location steht, besprechen wir einmal die Kamerabewegungen. Während des Drehs wird dann nur noch wenig geändert. Vor Ort entwickle ich meistens sehr schnell eine Vorstellung von der Kadrierung mit Jean-Louis. Manchmal auch direkt mit dem Steadicam-Mann, da wir 18 von 35 Drehtagen mit Steadicam gearbeitet haben. Beim Setting, den Positionen und den Bewegungsabläufen ist es ähnlich. Sobald die Location klar ist und ich die Gespräche mit den Nebendarstellern geführt habe, weiß ich spontan genau, wer welche Position haben muss und wo die Kamera sein soll, etc. Diese Sachen plane ich also nicht lange im Vorhinein, sondern entscheide sie erst direkt vor Ort. Jean-Louis und sein Team sind immer gut vorbreitet und konnten rasch darauf reagieren. Für diese Art des spontanen und situativen Arbeitens ist es wichtig, ein familiäres Team zu haben, d.h. regelmäßig mit denselben Leuten zusammenzuarbeiten, die einander kennen, verstehen, respektieren und vertrauen. Wenn man mit Gleichgesinnten zusammenarbeitet, gelingt die Bildfindung vor Ort effizienter und fruchtbarer: Ein Vorschlag da, ein Hinweis dort, und man findet schnell Einstellungen, die man dann im Laufe des Drehs nicht mehr viel verändern muss. Als Regisseur geht es nicht sowieso nicht sehr darum, alles zu können, der Cleverste zu sein, sondern für alles die richtigen Leute um sich zu scharen. Deswegen habe ich vor Kurzem mit meinem französischen Compagnon Antoine Sorange eine eigene Produktionsfirma gegründet unter dem Namen „Chengefilm“, um mit Gleichgesinnten gemeinsam gute Filme effizient zu produzieren.  


Moneyboys wirft auch die grundsätzliche Frage auf, was es im kapitalistischen System bedeutet, seinen Körper bzw. sich zu verkaufen. Jeder ist auf seine Weise ein Moneyboy und für Fei und seine Altersgenoss*innen scheint keine Entscheidung die richtige Entscheidung zu sein.

C. B. Yi:
Diese Frage wird sogar explizit angesprochen. Wenn jemand in einer Lederfabrik schuftet, um seine Familie zu ernähren, wird er nicht genauso gezwungen, seinen Körper zu verkaufen? Im Kapitalismus wird alles zur Ware: Die Lebenszeit, der Körper, das Selbst. Wir wissen das, möchten es aber lieber nicht wissen. Das ist sicher ein Grund, warum Sexarbeit immer noch verachtet wird. Wer seinen Körper verkauft, verliert oft in den Augen der Familie und der Gesellschaft seine Würde. Der junge Stricher Long weigert sich, sich selbst zu verachten, nur weil er in einer Gesellschaft lebt, die kein anderes Leben ermöglicht, als eines, das sich verkauft. Wieso sollte er sich darum sorgen, eine Idee von Würde zu verlieren, die für ihn in dieser Gesellschaft nicht möglich ist? Ich will damit nicht sagen, dass jede Art von Lohnarbeit gleich sei: Es ist etwas ganz anderes in einem Büro zu arbeiten, in einer Lederfabrik oder auf dem Strich. Bestimmte Gruppen wie Sexarbeiter*innen sind in besonderem Maß körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt. Dazu trägt sicher auch das Bild bei, dass bei der Sexarbeit nicht nur die Arbeitszeit, sondern der Körper selbst als Konsumgut verkauft wird – als eine Sache, die besessen, verbraucht und ersetzt werden kann.


Interview: Karin Schiefer
Juli 2021




«Mich beschäftigt dieses Gefühl des Ausgesetzt-Seins – gegenüber dem Leben, gegenüber dem Blick der Anderen – oder dem Blick der Kamera. Wir leben oft für die Augen der anderen – unserer Familie, unserer Geliebten oder unserer Feinde.»