INTERVIEW

Es bliebt wenig Zeit für anderes als Schule, Essen, Sport.

Sie hat fünf Buchstaben, die österreichische Traumfabrik in den Tiroler Bergen. Jedes Jahr versuchen wintersportbegeisterte Jugendliche die Aufnahme ins Schigymnasium Stams, um ihr Talent und ihre Technik fit für die Weltspitze zu machen. Bernhard Braunstein beobachtet in STAMS Jugendliche zwischen 14 und 18, die sich hochmotiviert dem Streben zu den Allerbesten zu gehören, aber auch einem gnadenlosen Leistungsprinzip verschreiben.


Der Titel Ihres neuen Films STAMS stellt einen Ort in den Raum, der unter Insidern für sich spricht. Für alle, die dem Winter-Spitzensport nicht so zugetan sind – Was steht hinter diesem Namen?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Stams ist die Kaderschmiede des österreichischen Schisports. Es ist eine Internatsschule in den Tiroler Bergen, wo Schüler:innen ab 14 Jahren aufgenommen werden, wenn sie die sehr anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestanden haben. Selbst wenn man aus dem Ort Stams kommt, ist man verpflichtet, im Internat zu wohnen, um die unglaublich dicht getakteten Tagesabläufe erfüllen zu können. Man kann sich dort in den Disziplinen Biathlon, Nordische Kombination, Snowboard, Schilauf und Schisprung spezialisieren. Im Film wollte ich nicht das gesamte Spektrum abdecken. Ich habe mich auf die beiden größten Sparten konzentriert – den Alpinen Schilauf und den Schisprung.

 
Was hat Ihr persönliches Interesse für diese Schule erweckt?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Ich war als Kind ein leidenschaftlicher Schifahrer. Es war so, dass ich im Sommer schon auf den Winter gewartet habe, um endlich wieder Schi fahren gehen zu können. Und wir haben in der Familie immer die Schirennen im Fernsehen verfolgt und mitgefiebert. Es gab da eine echte Faszination und immer noch ein reges Interesse für diesen Sport. Ich fand es sehr reizvoll, dorthin zu schauen, wo junge Menschen versuchen, den Traum von einer erfolgreichen Schisportkarriere zu leben.

 
Lässt sich eine „Kaderschmiede“ überhaupt gerne über die Schulter blicken, wenn man kommuniziert, dass man gerne einen Film machen würde?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Man ist uns seitens des Schigymnasiums Stams mit erstaunlicher Offenheit und mit der Bereitschaft entgegengekommen, uns tiefe Einblicke zu gewähren. Natürlich gab es eine intensive Vorbereitungsphase. Ich war sehr oft ohne Kamera dort, habe immer wieder im Internat übernachtet, es wurde viel geredet, viel erklärt. Ich habe von Beginn an klargestellt, dass ich keinen Werbefilm machen würde, sondern so unvoreingenommen wie möglich den Alltag der Athlet:innen beobachten möchte. Ich wollte auch keinesfalls einen klassischen Sportfilm machen – nach dem Motto „Ich begleite eine erfolgversprechende Läuferin, bis sie ein wichtiges Rennen gewinnt.“ Mir war wichtig, in die Breite zu gehen und viele Jugendliche zu portraitieren. Die individuelle Leistung bei Wettkämpfen spielte dabei keine Rolle, auch nicht die bekannte, große Erfolgsgeschichte der Schule. Ich wollte beobachten, wie der Alltag der Jugendlichen aussieht, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, welche Freuden sie erleben. Es ging mir um die Licht- und Schattenseiten dieser speziellen Schullaufbahn.

 
Wie eindeutig der Fokus auf den jungen Leuten liegt, macht die Kamera von Beginn an deutlich: Ob bei der Schulmesse zu Beginn, bei Vorträgen, Videoanalysen oder im Unterricht, Sie halten den thematischen/sprachlichen Fokus meist im Off, während Ihr Blick auf den Gesichtern bleibt. Welche Idee steht hinter diesem starken Fokus auf den Gesichtern und Individualitäten?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Der Ansatz, mit Zeit und Ruhe sehr genau auf Gesichter, Mimik und Körpersprache zu schauen, steht für die Absicht, Innenleben sichtbar zu machen. Im Idealfall erkennt man im Gesicht und in der Körpersprache, wie es dem Menschen im Moment, in dem er oder sie gefilmt wird, geht. Daher machen wir das auch in sehr vielen verschiedenen Situationen. Ich finde, es macht einen großen Unterschied, ob mir jemand erzählt, wie es ihm oder ihr in einer bestimmten Situation ergangen ist, oder ob ich es unmittelbar beobachten kann und somit direkt erlebe. Daher auch der Verzicht auf Interviews und der Versuch, die Inhalte aus der reinen Beobachtung heraus zu vermitteln. Ich bin überzeugt, dass die Wirkung des Films dadurch intensiver ist.

 
Dazu braucht es eine sehr sensible Kamera ...

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Ja, der Kameramann Serafin Spitzer hat eine hervorragende Arbeit geleistet. Es braucht auch großes gegenseitiges Vertrauen, ein sensibles und gut eingespieltes Team und ein Gespür für den richtigen Abstand. Es gibt Situationen, die großes Fingerspitzengefühl verlangen, wie nahe man an jemanden herangehen kann, ohne aufdringlich zu sein. Und es braucht vor allem sehr viel Zeit. Je mehr Zeit man mit den Menschen verbringt, umso mehr vergessen sie die Kamera.

 
In den ersten Bildern von STAMS sieht man Sportler:innen, vermummt in warme Mäntel, mit Sturzhelmen und Ausrüstung versehen, jeder konzentriert, jeder für sich. Die Schule bietet einen sehr ambivalenten Rahmen, nämlich den, in einem Miteinander zu einem Jeder-für-sich und letztlich auch zu einem Gegeneinander heranzubilden? War dies eine der Fragestellungen, mit der sie sich in diesem Projekt beschäftigt haben.

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Das Spannungsfeld Individuum/Gemeinschaft, die Tatsache, dass man in einer Gruppe, einer Schicksalsgemeinschaft lebt und gleichzeitig in Konkurrenz zueinander steht, hat mich als Thema sehr interessiert. Ich habe in meinen Beobachtungen bemerkt, dass es relativ viel Solidarität und gar nicht so viel Konkurrenz gibt, wie man es an so einer Schule erwarten würde. Am Ende geht es ja darum, wer zum Beispiel den Platz im Kader bekommt. Die Person, die ein kleines bisschen besser, schneller und vielleicht auch beliebter ist, wird auf dem Karriereweg weiter nach vorne kommen. Es wird hauptsächlich in der Gruppe trainiert, aber letztendlich muss dann jeder und jede Einzelne, individuelle Höchstleistungen erbringen. Man könnte annehmen, dass dadurch starke Konkurrenz entsteht. Während der langen Drehzeit habe ich das aber nie besonders stark erlebt. Einsamkeit und Heimweh ist oft ein Thema. Besonders die Jüngeren leiden darunter, dass sie manchmal ihre Familien für mehrere Wochen nicht sehen können. Da auch am Samstag unterrichtet wird, zahlt sich für viele eine weite Heimreise nicht aus. Wenn sie verletzt sind und sportlich nicht mehr „funktionieren“, sind sie sehr stark auf sich selbst zurückgeworfen und diese Erfahrung kann sehr bitter sein. Mir wurde erzählt, dass sich manche in diesen schwierigen Phasen der Regeneration einsam und allein gelassen fühlen.
 

Ob von der Schulleitung, vom Priester beim Schulgottesdienst, von den Lehrenden – die Verantwortung für den zukünftigen Erfolg wird an die Schüler:innen übertragen. Es scheint eine Prämisse zu geben: die heißt Druck. Entspricht das Ihrer Wahrnehmung?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Ja, das ist offensichtlich, der Druck ist omnipräsent und kann im wahrsten Sinn des Wortes erdrückend sein. Der Film erzählt auch, dass sehr viel Verantwortung auf die Jugendlichen abgegeben wird. Sie müssen lernen, mit dieser großen Verantwortung umzugehen. Wenn ich Absolvent:innen befragt habe, worin rückblickend das Interessante und Gute an der Schule bestanden habe, dann wird genau dieser Aspekt, der eigentlich viele auch überfordert, am häufigsten als positiv genannt. Viele kehren hervor, dass sie an der Schule gelernt haben, sich selbst zu organisieren und zu strukturieren.

 
Frappierend ist, dass die Sportkleidung der Jugendlichen schon mit Logos von Sponsoren versehen ist. Es wird klar ausgesprochen, man ist in Stams, um sich vom Nachwuchssportler zum Profisportler zu entwickeln. Wie früh werden die jungen Sportler:innen Teil einer Maschinerie, die letztendlich über ihre sportliche Performance in erster Linie die Geschäftsinteressen der Sportindustrie transportiert?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Die Logos sind in der Tat sehr präsent und es ist auffallend, wie früh diese jungen Körper zu Werbeflächen werden. Das Geschäft mit dem Schisport ist ein Riesen-Business. Es geht um kommerzielle Interessen einer großen Industrie und das hat Dimensionen angenommen, die sowohl für den Menschen als auch für den Sport ungesund sind. Ich habe aber auch verstanden, dass über das Schulgeld hinaus, sehr hohe Kosten anfallen: Material-, Reise- und Unterkunftskosten sind enorm, da sie ständig zu Rennen fahren. Das muss man sich erst mal leisten können. Daher rührt auch das Bestreben, möglichst früh Sponsoren zu finden, um die Kosten abfangen zu können. Dies funktioniert natürlich nur, wenn im Gegenzug eine gewisse Leistung erbracht wird, also die Leistungs- und Druckmaschinerie ist sofort in Gang. Ich habe auch erlebt, wie belastend das Gefühl für die Schüler:innen ist, den Eltern gegenüber, die so viel in sie investieren, in der Pflicht zu stehen. Zurückgeben können sie es oft nur mit sportlichen Erfolgen.

 
Ein häufiger Anblick sind Jugendliche, die mit Krücken humpeln, die Schienen tragen, Tapebänder um die Gelenke haben. Das Thema Verletzung und Umgang mit der Verletzung scheint sehr präsent. Wie haben Sie den Umgang mit der Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Körper wahrgenommen?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Für mich war es schockierend zu erleben, wie schwer und mit welcher Häufigkeit sich diese jungen Menschen verletzen. So ist die Verletzungsproblematik ein sehr wesentliches Thema meiner Erzählung geworden. Verletzung gehört dazu und wird auch nicht verschwiegen. Im Gegenteil: In der Willkommensrede des Direktors für die neu Aufgenommenen wird direkt auf die Notwendigkeit einer guten Krankenversicherung verwiesen, da man sich nun im Hochleistungssport und auch in einem Hochrisikosport befinde. Diese Selbstverständlichkeit, mit der der Umstand Verletzung hingenommen wird, hat mich sehr irritiert.

 
Man gewinnt den Eindruck, dass Sie einen Fokus auf die jungen Sportlerinnen und im Besonderen auf den jungen Sport des Damen-Schispringens setzen. War es eine bewusste Entscheidung, den Sportlerinnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Es war keine bewusste Entscheidung. Ich habe sehr viel Zeit an der Schule verbracht, sehr viele Menschen kennen und schätzen gelernt. Manche Menschen vermitteln intuitiv das Gefühl, dass man mit ihnen gut drehen könnte, weil sie ausdrucksstark sind, weil sie etwas zu erzählen haben, weil sie natürlich und authentisch vor der Kamera agieren. Das sind die wesentlichen Kriterien bei der Auswahl, immer unter der Voraussetzung, dass grundsätzlich die Bereitschaft gegeben ist, Teil des Films zu werden. Ein weiterer Aspekt, der zum Tragen kam, war der, dass mich die Komplexität und Eleganz des Schispringens sehr fasziniert, im Besonderen das Damenschispringen, das eine junge Sportart ist, die mit sehr erfolgreichen Sportlerinnen aus Österreich gerade stark im Kommen ist.

 
Auf der Seite der Ausbildenden scheint alles in männlicher Hand zu sein?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Das Training der jungen Athlet:innen ist ein klar männlich dominiertes Feld und es ist in der Tat ein Problem, dass die Mädchen hauptsächlich von Männern trainiert werden. Der Film zeigt eine Szene, wo der Sprunganzug vermessen und dann enger genäht wird, weil die Maße ganz strengen Reglements unterliegen. Dass der Anzug für den Wettkampf adaptiert werden muss, ist ein ganz normaler Vorgang, dass dies bei einem jungen Mädchen von einem Mann durchgeführt wird, ist aus meiner Sicht allerdings problematisch. Hier wäre es sehr wichtig, dass es mehr Trainerinnen gibt und mehr Sensibilisierung, wie ich mich als Trainer:in in so einer heiklen Situation verhalte.

 
Es gelingen Ihnen sehr schöne private Momente mit den Jugendlichen. Wie haben Sie das Verhältnis zu ihnen aufgebaut? Wie wichtig war es Ihnen auch, das Private und das Entspannende zu zeigen?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Die Annäherung ergibt sich zum einen über den Faktor Zeit, zum anderen auch darüber, wie man sich als Regisseur und wie sich das ganze Team verhält. Welche Sympathien und auch Antipathien können in diesem Prozess zwischen den Menschen vor und hinter der Kamera entstehen? Wie läuft die Kommunikation? Wie erkläre ich den Menschen, was ich hier mache, was ich von meinem Gegenüber möchte? Das alles spiele ich sehr offen und ehrlich. Ich versuche nie etwas aus den Menschen rauszukitzeln, was sie nicht selbst geben wollen. Ich habe oft gespürt, dass es ein Bedürfnis gab, gewisse Dinge anzusprechen und mir wurde bewusst, dass der Film den Jugendlichen, die oft nicht gehört werden, eine Stimme geben kann. Es gibt die Trainer- und Lehrer:innen, die ihnen die Welt erklären und ihnen sagen, was sie tun sollen. Wer aber fragt die jungen Leute: „Was brauchst du wirklich? Was kann ich dir geben?“ Von ihnen wird in erster Linie gefordert. Ich habe daher versucht, Situationen herzustellen, wo sie über Themen sprechen können, die sie wirklich beschäftigen. Wenn sie Dinge ansprechen können, die für sie Bedeutung haben, dann entsteht eine gewisse Intensität und Nähe und vielleicht auch eine Dankbarkeit, dass endlich jemand da ist, der zuhört und ihnen Zeit gibt. Ich weiß natürlich auch, dass auf diese Weise sehr wertvolle Momente für den Film entstehen. Es besteht beiderseits Dankbarkeit für diesen Austausch, das habe ich auch in der gemeinsamen Besprechung des fertigen Films gespürt. Die Jugendlichen mochten den Film und fühlten sich gesehen, was für mich ein großes Kompliment darstellt.

 
Darf über die Angst vor der Steilheit, vor der hohen Geschwindigkeit, vor dem Risiko gesprochen werden? Oder sind diese Themen tabu?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Wenn man manchen Trainern diese Frage stellt, dann wird er sagen, dass es totale Routine und kein Thema sei. Bei den Athlet:innnen war es mir nicht möglich, das eindeutig herauszufinden. Manche sagen aber schon, dass zum Beispiel oben auf der Schanze auch immer wieder ein mulmiges Gefühl mitspielt. Das ist wahrscheinlich sehr individuell. Die Gefahr, dass jederzeit etwas passieren kann, ist allen bewusst.

 
Man kennt Sportarten wie Schirennlauf oder Schisprung in erster Linie aus Fernsehbildern und ihren vielfältigen und ineinandergreifenden Kameraperspektiven. War es Ihnen wichtig, in wenigen, sehr eindrucksvollen Bildern auch die Steilheit und Geschwindigkeit bewusst zu machen, denen sich die Sportler:innen aussetzen?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Es war mir wichtig, ein reales Gefühl für die hohen Geschwindigkeiten zu vermitteln. Dazu haben sich die statischen Einstellungen angeboten, in denen jemand nur für den Bruchteil einer Sekunde durchs Bild zischt. Klar war auch, dass ich keinesfalls die aus dem Fernsehen bekannten Bilder reproduzieren wollte. Ich wollte einen anderen, einen genauen und subjektiven Blick. Was mich sehr fasziniert, sind das Können und die Fähigkeiten dieser jungen Athlet:innen und das wollte ich auch zeigen: ihre Kraft, die Eleganz ihrer Bewegungen. Das ist etwas sehr Faszinierendes. Auch der harte und anspruchsvolle Weg, den sie dafür gehen müssen. Die Fernsehbilder, die wir von diesen Sportarten kennen, sind eindimensional. Ich habe nach Probe-Screenings immer wieder das Feedback bekommen, dass die Kinobilder aus STAMS die Wahrnehmung der Fernsehbilder, zum Beispiel eines Weltcup-Rennens, verändert haben. Dass sich durch meinen Film der Blick auf das Gewohnte und Bekannte verändern kann, war ein schönes Feedback.

 
Eines der Mädchen sagt, „Ohne Schisport wäre ich nicht ich.“  Einer der Burschen erinnert sich an das freie Schifahren seiner Kindheit, das nun zu 100% vom gezielten Schifahren abgelöst worden ist und das er vermisst. Alle Kinder kommen aus Begeisterung zum Schisport an diese Schule. Was passiert mit dieser Leidenschaft?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Das ist eine ganz zentrale Frage. Bei allen beginnt es so, dass eine unglaubliche Lust am Schisport besteht. Man erlebt als Kind viele Glücksmomente zum Beispiel durch das gemeinsame Schifahren in den Familien. Und dann steht da die Schule in Stams als attraktive Perspektive im Raum, wo ich meine Leidenschaft weiter betreiben kann und gleichzeitig einen Schulabschluss erhalte. Dann kommt, glaube ich, bei vielen eine sehr starke Ernüchterung. Viel von der Leidenschaft wird über die streng getakteten Routinen und den Druck kaputt gemacht. Komme ich in den Kader? Wie schnell kann ich auf die Piste zurück, wenn ich verletzt bin? Schaffe ich trotz all dieser Anforderungen die Schule? Diese Fragen dominieren. Es gibt sehr wenig Zeit für anderes als Schule, Essen, Sport. Bei manchen entsteht das Gefühl, in einem Tunnel zu sein. Ein Schüler erzählte von einem Wettkampf in Frankreich, wo sie am Meer vorbeifuhren und dass er zum ersten Mal erlebt hat, dass der Trainer sagte: „Machen wir kurz Pause und setzen wir uns ans Meer“. Er hat mir mit leuchtenden Augen erzählt, dass sie zwei Stunden am Meer mit Nichtstun verbracht hatten und dass es ihn für zwei Wochen emotional aufgeladen hat. Solche Momente erleben sie viel zu selten. Es wird ein Gefühl vermittelt, dass jede Minute zählt und genutzt werden muss. Das ist problematisch, weil sie ohnehin ihr ganzes Leben auf den Schisport hin ausgerichtet und dafür auch unheimlich große Opfer gebracht haben: sehr wenig Freizeit, sehr reduzierter Freundeskreis, wenig Familienleben, alleiniger Fokus auf Sport, Training und Schule. Dieses Opfer zu bringen hat etwas sehr Mutiges, wenn sich die Träume allerdings nicht erfüllen, dann kann es einen jungen Menschen in seinen Grundfesten erschüttern.
 

Hat Ihnen die Arbeit an STAMS auch überraschende Erkenntnisse gebracht?

BERNHARD BRAUNSTEIN:
Mich hat die starke Körperlichkeit angesteckt. Ich betreibe seit den Dreharbeiten deutlich mehr Sport, was mir sehr guttut. Die Kameradschaft und Solidarität hat mich auch überrascht, auch die Sensibilität, Klugheit und Fähigkeit zur Selbstreflexion vieler Athlet:innen. Das Klischee der engstirnigen Hochleistungssportler:innen kann der Film bestimmt widerlegen. Man muss auch sagen, dass es nicht so ist, dass der große Traum nie funktioniert. Es gibt auch die Lichtblicke, die Freude über den Erfolg, über das Erleben der eigenen Kraft. Eine Technik zu beherrschen, die es ermöglicht, sich eine steile Schanze hinunterzustürzen, um dann 120/140 Meter zu fliegen, das ist etwas Tolles. Es birgt auch Glück, Erfüllung und ein Gefühl der Erhabenheit, etwas so Anspruchsvolles und Gefährliches zu beherrschen. Seine eigenen Grenzen auf diesem hohen Niveau ausloten zu können, hat etwas sehr Positives. Die zwei Hauptkritikpunkte, die der Film formuliert, sind: Was ist da los mit den vielen Verletzungen? Muss das wirklich sein? Und der zweite Punkt ist der Umgang mancher Trainer mit den Jugendlichen. Wie spricht man mit ihnen? Das brachiale Antreiben, das Betonen des eisernen Willens, das ständige Fordern in eine Richtung, ohne in Betracht zu ziehen, was man den Jugendlichen über den Sport hinaus auf ihrem Weg mitgeben könnte. Es wird um den Preis eines potenziellen Erfolges sehr viel verbrannte Erde in Kauf genommen. STAMS wirft eine sehr allgemeine Frage nach dem Prinzip Leistung und den vielfältigen Konsequenzen auf. Eine Frage, die mich auch abseits des Leistungssports sehr interessiert.

 
Interview: Karin Schiefer
Dezember 2022


«Eine Technik zu beherrschen, die es ermöglicht, sich eine steile Schanze hinunterzustürzen, um dann 120/140 Meter zu fliegen, das ist etwas Tolles. Es birgt auch Glück, Erfüllung und ein Gefühl der Erhabenheit, etwas so Anspruchsvolles und Gefährliches zu beherrschen. Seine eigenen Grenzen auf diesem hohen Niveau ausloten zu können, hat etwas sehr Positives.»