Nordrand, 1999 im Wettbewerb um Venedigs Goldenen Löwen, gilt als Meilenstein. Es markierte den Beginn einer von da an wachsenden
internationalen Wahrnehmung des sich immer breiter auffächernden österreichischen Filmschaffens, vor allem aber den Startschuss
für Barbara Alberts Karriere als Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin und Lehrende. Nach zehnjähriger Tätigkeit an der Filmuniversität
Babelsberg, wo sie zuletzt Vizepräsidentin für Lehre war, und 32 Jahre, nachdem sie selbst ihr Studentin für Regie und Drehbuch
an der Wiener Filmakademie aufgenommen hat, kehrt sie dahin zurück, um in der Nachfolge von Michael Haneke die Professur für
Regie anzutreten.
Können Sie sich noch erinnern, welche Erwartungen Sie ans Studium an der Filmakademie hatten, nachdem Sie aufgenommen worden
sind?
BARBARA ALBERT: Ich war im Jahr vor meiner Aufnahme außerordentliche Hörerin und war als Helferlein an den Wochenenden bei den Drehs der Studierenden
dabei, ich erinnere mich noch an einen Dreh mit Sabine Derflinger. Ich habe als Assistentin bei diesen kurzen, aber intensiven
Wochenend-Drehs viel gelernt. Aufgrund dieser Erfahrung habe ich es gewagt, mich für Drehbuch und Regie zu bewerben. Die Aufnahmeprüfung
war verrückt, ich habe in der Woche vor der Abgabe meiner Arbeiten insgesamt sieben Stunden geschlafen. Es war alles immer
sehr Last Minute bei mir. Beim nächsten Schritt, der praktischen Kameraübung, habe ich sogar ein Auto aufgehalten und den
Fahrer gebeten, mich zur Filmakademie zu fahren, um in letzter Sekunde rechtzeitig zur Abgabe dort zu sein. Das eine Jahr
Vorlauf war wichtig, damit ich überhaupt einen Begriff davon hatte, was Filmemachen bedeutet. Dass ich die Aufnahmeprüfung
geschafft habe, war überwältigend genug, sodass ich dann ehrlich gesagt keine Erwartungen hatte, sondern mal froh war, drinnen
zu sein und endlich Film denken und schreiben, über Film reden durfte, Figuren entwickeln, kleine Übungen drehen, einfach
meine Sachen machen durfte.
Wie hat sich in den neunziger Jahren ein Studium Regie und Drehbuch gestaltet?
BARBARA ALBERT: Es gab damals wie heute das dreisemestrige Grundstudium, wo alle Studierenden alles machen dürfen, was toll ist und was es
in diesem Ausmaß an anderen Filmhochschulen nicht gibt. Es gibt in Wien eine überschaubare Anzahl von Studierenden, sodass
das logistisch möglich ist. Nach der Grundausbildung hatten wir Drehbuchklassen mit Walter Wippersberg, wo wir uns sehr viel
innerhalb der Klasse über unsere Drehbücher ausgetauscht haben. Das waren schöne Sessions. Regie habe ich in einer Zeit studiert,
in der viele Professoren interimistisch tätig waren. In meinem zweiten Jahr gab es eine studentische Revolution, wir haben
gestreikt. Wir wollten keine unbefristeten Professuren, sondern nur Gastprofessoren. Es wurde damals, ausgehend von ein paar
wenigen Studierenden, eine Demokratisierung vorangetrieben, auch wenn letztlich nicht alle Forderungen erfüllt wurden. Vom
Unterricht her war für mich z. B. Birgit Flos spannend. Sie hat filmhistorisch und in der Filmanalyse tolle Sachen gemacht.
Es gab damals noch keine Medienwissenschaft, keine Bibliothek. Das Studium war sehr praktisch ausgerichtet. Als ich angefangen
habe, gab es die Axel Corti-, später Michael Haneke- bzw. Wolfgang Glück-Klasse, ich war in der Lukas Stepanik-/Peter Patzak-Klasse.
Ganz ehrlich: Es hat mich nicht sehr geprägt, die Professoren habe ich kaum gesehen, vielleicht zweimal im Semester, meistens
bei den Abnahmen, eine Ausnahme war zu Beginn meines Studiums Lukas Stepanik. In der Regiegruppe waren wir Antonin Svoboda,
Valentin Hitz, Chris Krikellis, Jessica Hausner und ich. Es gab einen regen Austausch, wir haben uns geholfen und uns ausgetauscht,
das war sehr befruchtend. Ich glaube nach wie vor, dass eine Filmakademie ein Raum ist, wo man aneinander und miteinander
lernt. Das ist das Wichtigste. Darüber hinaus kann man punktuell Anstöße geben, inspirieren, Gäste holen, Filme zeigen, vielleicht
auch provozieren. Ich sage als Lehrende auch gerne meine Meinung, nicht weil sie richtig ist, sondern um in einen Austausch
zu kommen.
Sie haben in einer Keynote zu Semesterbeginn den Studierenden empfohlen, ihre Motivation, Filme zu machen, schriftlich festzuhalten
und für später in ein Kuvert zu stecken. Haben Sie das auch getan?
BARBARA ALBERT: Nein, habe ich nicht. Aber ich weiß noch sehr genau, was es war, warum ich Filme machen wollte. Einfach und simpel, vielleicht
auch naiv im besten Sinne. Ich wollte Filme machen, weil ich mit meinen Filmen einen Kommentar zur Welt geben und auch im
politischen Sinn etwas anstoßen wollte. Entsprechend war ich nach einigen Jahren auch desillusioniert, als ich merkte, dass
ich das mit meinen Filmen allein nicht kann. Es hat sich extrem viel verändert, das Kino hat nicht mehr denselben Einfluss
wie früher. Jetzt sind es eher die sozialen Medien oder die Streamer. Es ist schade, weil Kino für mich nach wie vor das stärkste
Erlebnis ist, das mich bewegt und fast körperlich trifft. Ich wollte auf soziale Realitäten reagieren, mir die soziale Realität
unserer Welt anschauen. Wie bei Nordrand in eine Welt reinschauen, die nicht jeder kennt. Kommunikation mit dem Publikum ist für mich immer wichtig gewesen. Dennoch,
es ist die Vielzahl der Filme, die den Blick auf die Welt beeinflussen, ohnehin nie ein einzelner. Daran halte ich mich fest
und verstehe meine Arbeit als einen Teil aller Bilder und Töne, die sich auf die Welt, die wir erleben, beziehen.
Welcher Filmakademie sind Sie jetzt bei Ihrer Rückkehr begegnet?
BARBARA ALBERT: Zuerst mal ist es eine riesige Freude, hier zu sein. Ein „banaler“ Unterschied besteht darin, dass ich in der Metternichgasse
studiert habe und nun meine Tätigkeit im neuen Haus antrete. Ich gehe nicht wohin zurück, sondern mache einen Neuanfang. Das
ist mir wichtig. Im Vergleich zu Babelsberg, woher ich komme, ist Wien eine überschaubare Fakultät. Die Kommunikation mit
anderen Fachbereichen funktioniert schneller. Babelsberg hat 17 Studiengänge oder mehr. Deswegen ist die Filmakademie als
ein Institut der Wiener mdw mit dem FutureArtLab und dem Studio wie eine Insel, wo man vielleicht sogar aufpassen muss, dass
der schöne Ort nicht zum Elfenbeinturm wird und sich der Kontakt zur Außenwelt, über die wir erzählen wollen, nicht verliert.
Es ist ein schöner, geschützter Raum, in dem man probieren, sich austauschen und Menschen treffen kann. Gerade nach Corona
ist es wichtig, dass Menschen da sind, mit denen man sich austauschen kann. Covid hat an den Unis Spuren hinterlassen. Ich
nehme eine Mischung aus Vorsicht und Freude wahr, dass man wieder zusammen ist. Seit 2017/18 haben sich die Welt und die Gesellschaft
ganz stark verändert, nicht zuletzt wegen #MeToo, gibt es einen ganz anderen Blick auch auf unsere Branche. Alle Fragen, die
wir in der Gesellschaft haben, sind natürlich auch hier an der Filmakademie akut. Das finde ich das Spannende und Bereichernde
am Arbeiten mit Studierenden, mit Leuten, die fast zwei Generationen jünger sind als ich. Ich lerne viel. Wenn Katharina Mückstein
einen Film wie Feminism WTF macht, dann bin dankbar, dass meine Wahrnehmung zu Intersektionalem Feminismus oder im Umgang
mit Non-Binary etc, geschärft wird. Da sind Unmengen an Themen in der Luft. Ich merke, dass ein großer Nachholbedarf, auch
an der Filmakademie herrscht. Eine Mischung aus Covid-Nachwehen und dass gewisse Themen zu lange nicht aufgegriffen wurden.
#MeToo ist in der Filmbranche ein Riesenthema, da kann man als Filmakademie nicht daran vorbei. Ich spüre Bedürfnisse der
Studierenden, man kann nicht alles sofort in Angriff nehmen. Ich komme von außen, habe meine Vorstellungen und versuche jetzt,
mich zu orientieren und möglichst viel zu machen. Das Machen ist im Moment ein Kennenlernen. Studierende und ihre Arbeiten.
Letzte Woche war die Werkschau. Das war toll. Ich habe möglichst viele Einzelgespräche über Filme, Abschlussfilme, Drehbücher
usw. Ich versuche, das System kennenzulernen, die Kolleginnen und Kollegen. Das alles ist am Anfang unglaublich viel Arbeit.
Erst wenn ich alles genauer kenne, wird klarer, wo im System man ansetzen kann, um etwas zu verändern. Wie kann man einen
neuen Master aufbauen oder reformieren? Ich war in den letzten Jahren in Potsdam auch Vizepräsidentin für Lehre und habe mich
mit Master- und Bachelor-Reformen beschäftigt. Diese Phase, wenn man wo neu ist, dauert meistens ein Jahr. Dann hoffe ich,
dass wir im Lehrenden-Studierenden-Team neue Dinge etablieren können.
Sie haben zu einer Zeit studiert, wo sich der tiefgreifende Wandel von analog zu digital vollzogen hat. Auf welche Umbrüche
müssen Studierende jetzt vorbereitet werden?
BARBARA ALBERT: Ich glaube, der große gesellschaftliche Umbruch ist schon passiert, wir stecken mittendrin und er reflektiert sich in der
Arbeit der Studierenden. Es kommt zu einem Hinterfragen der Hierarchien in der Gesellschaft, Partizipation, auch von gesellschaftlichen
Gruppen, die bisher Randgruppen waren und die jetzt an Bedeutung gewinnen usw. Da bewegt sich gerade sehr viel. Das trifft
aber auch Menschen, die Hierarchien in der Filmarbeit gewohnt sind. Als Regie führende Person habe ich meist eine Ansage gemacht.
Ich glaube, dass es so sein muss, dass die Regie Entscheidungen trifft. Die Frage ist, wie das geschieht. Das ist in Wien
nicht so anders als in Babelsberg. Da spüre ich aus der Studierendenschaft das Bedürfnis, anders zu arbeiten als früher, mit
einem viel stärkeren Akzent auf Teamarbeit. Bestimmte Entscheidungen werden dennoch von Produktion und Regie getroffen. Es
braucht vorab eine Abmachung, wer die Entscheidungen fällt. Ich arbeite als Regisseurin auch manchmal an Projekten, bei denen
ich gemäß Vertrag nicht das letzte Wort habe. Die Fragen nach der letzten Entscheidung sind sehr oft Machtfragen und da hat
sich die Gesellschaft in unseren modernen Demokratien sehr verändert, Hierarchien werden gerade viel flacher. Andererseits
erleben wir, dass wir weltweit leider nur noch sehr wenige Länder haben, die so demokratisch sind. Wir haben es mit einem
Kontrastprogramm zu tun, wo wir in unseren Bubbles um immer mehr Demokratie ringen und andererseits sich Diktaturen massiv
ausbreiten und die Gewalt gegen Menschen zunimmt. Auch hier besteht eine riesige Herausforderung. Unsere Studierenden sind
zum Teil Geflüchtete, Menschen, die Familie in Israel oder im Iran oder in der Ukraine haben. Da wird auch die Frage virulent,
wer welche Geschichten erzählt. Wer soll welche Geschichten, wer darf welche Geschichten erzählen? Das ist ein Riesenthema.
Als Regisseurin vertrete ich den Standpunkt, dass ich nicht von meinem Leben erzählen, sondern mich auch in andere Welten
hineinbegeben, diese gut recherchieren und dann mit meinem Können und Wissen umsetzen möchte. Die Frage nach der Erzähl-Hoheit
ist ein großes Thema geworden. Ich halte das alles für extrem spannend, diskutiere gern darüber und suche gerne nach Lösungen
im Einzelfall. Ein gemeinsames Ringen auf Augenhöhe zwischen Studierenden und mir, ist das Interessanteste an dieser Arbeit.
Ich möchte niemandem etwas beibringen, im Sinne von Anleitungen.
Geht es Ihnen in der Lehre auch darum, auf die weniger hellen Seiten des Berufs vorzubereiten: Projekte, die endlos lange
nicht finanziert sind oder es nie werden. (Un)Vereinbarkeiten mit privaten, familiären Lebensfragen. Stehen auch Begleitumstände,
die nicht künstlerischer Natur sind, als Teil des Berufsbildes im Mittelpunkt?
BARBARA ALBERT: Ich betone im Unterricht, wie wichtig es ist, sich selbst als Regisseur:in kennenzulernen. Was kann ich besonders gut? Was
kann ich weniger gut? Halte ich es aus, dass ich drei Monate an einem großen Filmset jeden Tag fünf Minuten drehe oder will
ich lieber im kleinen Team Langzeitbeobachtungen machen? Wo bleibe ich gerne dran? Wo komme ich an mein Limit? Und natürlich
auch: Wie will ich leben? Stichwort Umbruch aus der letzten Frage. Wir erleben gesellschaftlich, aber auch in der Branche
einen Umbruch. Ich muss wissen, wenn ich einen Arthouse-Film mache, sehen meinen Film wahrscheinlich sehr, sehr viel weniger
Zuschauer:innen, als wenn ich eine Serie mache. Ich bin in einer Zeit filmisch groß geworden, wo es verehrte Regie-Stars gab,
die über die roten Teppiche der ganzen Welt gelaufen sind. Die gibt's kaum mehr. Es hat sich im Positiven verändert, dass
es nicht mehr so ein Konzept von Meisterschaft gibt, wo der Meister alles machen darf und die anderen sich beugen müssen.
Das hat aber auch die Kehrseite, dass niemand mehr so richtig weiß, was die Regie eigentlich macht. Dafür möchte ich ganz
stark ein Bewusstsein schaffen, auch den anderen Gewerken und Fachbereichen gegenüber. Die gestalterische Bedeutung der Regie,
darum müssen wir kämpfen, dass das Bewusstsein bleibt, dass die Regie ein sehr wichtiger Beruf beim Filmemachen bleibt, den
man nicht einsparen kann. Es ist die Instanz, die alle Kräfte zusammenbringt, mit allen kommuniziert, den Überblick hat, um
ihre Vision ringt und für sie kämpft. Für mich steht das nicht in Frage, aber es ist wichtig geworden, das zu vermitteln.
Und ich finde es auch wichtig, auf die berufliche Realität vorzubereiten: Wo gibt es für mich Möglichkeiten als Arthouse-Regisseur:in?
Welche Produzent:innen gibt es in Österreich? Wie kann ich sichtbar werden? Es gibt auch Leute, die nicht bis zum Master gehen,
sondern die sich sagen, mit einem kurzen Bachelor habe ich eine gute Grundausbildung und gehe lieber gleich in die Praxis.
Das kommt in Deutschland häufig vor, weil von Streamern und vom Fernsehen so viel Inhalt gebraucht wird, dass Studierende
nach dem ersten 30-Minuten-Film, der aufgefallen ist, von Serien, oft auch Vorabendserien, geschluckt werden. Natürlich auch
um Geld zu verdienen. Wir leben in einer Zeit, wo wir alle viel mehr Geld zum Leben brauchen als zur Zeit meiner Anfänge.
Ein bis zwei Jobs im Jahr haben damals ausgereicht. Heute müssen die Studierenden, wir alle, viel mehr arbeiten, um Geld zu
verdienen. Diese Doppelbelastung der Studierenden ist auch ein großer Unterschied zu früher.
Gerne würde ich aus Anlass des Kinostarts von Die Mittagsfrau auch zu Ihrer eigenen Tätigkeit als Regisseurin kommen. Sie haben Ihre ersten vier langen Filme als klassische Autorenfilmerin
mit der eigenen Produktionsfirma realisiert, mit Licht und Die Mittagsfrau sind zwei Kinofilme entstanden, die erstens nicht mit der eigenen Produktion entstanden sind und wo Sie nicht ihr eigenes
Drehbuch umgesetzt haben. Hat sich da auch ein Wandel in Ihrem Zugang zur Regie vollzogen?
BARBARA ALBERT: Ich habe Licht gemacht, dann Funeral for a Dog, eine Serie für Sky, wo ich eher Auftragsregisseurin war und dann Die Mittagsfrau. Alles Projekte, wo ich das Gefühl hatte, ich bin jetzt wirklich "nur" Regisseurin. Ich habe jetzt wieder sehr stark das Bedürfnis,
einen eigenen Stoff umzusetzen. Aber es war dazwischen eine wichtige Phase, wo ich als Regisseurin Dinge ausprobiert und gelernt
und viel mit unterschiedlichsten Ensembles und großen Schauspieler:innen gearbeitet habe, von denen ich viel gelernt habe.
Das waren an die sechs, sieben Jahre, wo ich stark erlebt habe "ich bin jetzt Regisseurin,“ ich löse auf, sitze mit der Kameraperson
zusammen, suche Bilder, inszeniere Schauspiele:rinnen nach einer Vorlage, an der schon andere auf verschiedenen Ebenen gearbeitet
haben. Es war eine Art Befreiung, zu erleben, dass ich sehr gerne Regisseurin bin, den Beruf gerne ausübe. Es war eine wichtige
Erfahrung, die Regisseurin von der Drehbuchautorin in mir abzugrenzen. Vielleicht auch von der Produzentin, weil als solche
war ich weiterhin aktiv und in Projekte wie Quo vadis, Aida oder Me/We stark involviert. Ich habe auch gemerkt, wo ich als Regisseurin zu produzentenfreundlich bin. Ich habe die Regisseurin in
mir herausgeschält und mich als solche weiterentwickelt. Vielleicht habe ich mich auch für ein nächstes eigenes Projekt neu
gefunden.
Eine Ihrer großen Stärken als Regisseurin ist die Arbeit mit den Schauspieler:innen. Sie sind zur Zeit in der Jury für die
kommenden European Shooting Stars. Mit Mala Emde haben Sie eine herausragende junge Schauspielerin als Hauptdarstellerin in
Die Mittagsfrau. Welchen Stellenwert messen Sie der Schauspielarbeit zu?
BARBARA ALBERT: Ich merke in meinen ersten Wochen im Unterricht an der Filmakademie, dass ich sehr oft auf Schauspielmomente verweise, wenn
ich Beispiele nenne. Ich stelle fest, dass ich eine große Faszination besonders für Schauspielerinnen hege. Die Faszination
für das Gesicht ist für mich sehr wesentlich. Schauspielarbeit macht einen sehr wesentlichen Teil des Regieführens und der
Arbeit am Set aus. Es macht auch – und das musste ich trainieren – die Freude an dieser Arbeit aus. Nicht die Angst vorm Scheitern
sollte dominieren, sondern das gestaltende Element dieses Berufs – jeden Tag am Set. Zu lernen, wie ich es hinkriege, das
gemeinsame Tun als Freude zu erleben und diese auf die Schauspieler:innen zu übertragen, steht für mich im Zentrum. Da glaube
ich total ans Spiegeln, dass ich als Regisseurin im besten Fall stark mit den Schauspieler:innen verbunden bin. Manchmal funktioniert
die Verbindung am Set beinahe telepathisch und hat gleichzeitig etwas stark Körperliches. Im weitesten Sinne hat Filmemachen
– wie das Filmesehen im Kino – etwas Erotisches, Sinnliches. Dieses Arbeiten mit Figuren, mit Körpern im Raum. Du bist ganz
nah an Körpern und Gesichtern, an Menschen dran. Ich erlebe eine intensive Nähe zur Figur, dank der Schauspieler:innen, die
sich in gewisser Weise der Kamera ausliefern. Sich so zu zeigen und zu öffnen, ist eine Kunst, die meiner Erfahrung nach nur
über Vertrauen entstehen kann. Dieses Vertrauen herzustellen macht mir Freude. Das ist besonders stark und intensiv beim Drehen.
Mala Emde hat in der Figurenfindung extrem präzise gearbeitet, auch Max von der Gröben. Und Thomas Prenn wiederum hat auf
seine eigene, sprühende Art, die Figur gefunden. Mala Emde hat ihre Figur stark gespürt und teilweise danach Szenen gemeinsam
mit mir adaptiert. Die Arbeit an einer Figur ist extrem individuell. Mit jede:r Schauspieler:in ist es anders, umgekehrt ist
es auch für die Schauspieler:innen mit jeder Regie anders. Deshalb ist es wichtig, dass man in der Ausbildung möglichst viel
aktiv machen und üben kann. Regieführen ist Arbeit mit Menschen, man hat sehr viel Verantwortung. Ich habe gerne diese Verantwortung
beim Dreh, die ich natürlich mit der Produktion teile. Die Arbeit mit den Schauspieler:innen war bei Die Mittagsfrau extrem beglückend. Das wichtigste Dreieck am Set ist für mich Kamera, Schauspiel, Regie. Und das muss harmonisch ineinandergreifen.
Es gab Momente, wo die Kamera gleichsam getanzt hat wie die Figuren.
Ein Thema, das sich praktisch durch alle Ihrer Filme zieht, vor allem von Nordrand zu Die Mittagsfrau einen Bogen spannt,
ist die Freundschaft und Solidarität unter Frauen. Wie wichtig ist Ihnen diese Thematik?
BARBARA ALBERT: Zu Beginn meiner Laufbahn war ich lang die einzige Quotenfrau in verschiedenen Gremien oder bei Festivals. Ein bis zwei Frauen
waren üblich, und das hat sich wirklich verändert. Stichwort Solidarität zwischen Frauen, da ist mir wichtig zu erwähnen,
dass wir, eine kleine Gruppe von Frauen im Film, vor 13 Jahren FC Gloria gegründet haben, wir wollten ein Frauennetzwerk schaffen,
in dem sich Frauen gegenseitig unterstützen, Lobbyarbeit leisten und das Feld nicht den Männern überlassen, die sich mit viel
größerer Selbstverständlichkeit gegenseitig unterstützen und in Positionen heben. Frauenfreundschaft? In meiner Zeit an der
Filmakademie gab es jenseits des Geschlechts einfach ein Miteinander. Es war damals nicht so, dass ausgerechnet die Frauen
mehr miteinander gearbeitet hätten. Die coop99 filmproduktion haben wir Frauen und Männer gemeinsam gegründet. Es gab aber
eine lustige Runde von Studentinnen, in der wir sehr viel diskutiert haben und uns regelmäßig getroffen haben, aber manchmal
unterschiedlicher Meinung waren. Da waren z.B. Christine A. Maier, Ruth Mader, Valeska Grisebach und Kathrin Resetarits dabei.
Nach mir sind mehr Frauen gekommen, vor mir gab es auch einige, sie haben aber dann nach dem Studium zu oft nicht als Regisseurinnen
weitergearbeitet. Frauenfreundschaften ist kein Thema, das ich mit Absicht in den Vordergrund stelle, auch nicht aus meiner
eigenen Geschichte heraus, ich halte es nur gesellschaftlich für sehr wichtig, dass Frauen solidarisch sind.
In Die Mittagsfrau gibt es viele Sequenzen, aber es zieht sich durch Ihr ganzes Schaffen, dass Momente, wo Tanz im Bild ist, eine besondere
Intensität in der Inszenierung entstehen lassen. In Ihrer Keynote zu Beginn des Studienjahres zitieren Sie Zadie Smith, die
das Schreiben mit dem Tanzen vergleicht, aber auch Martha Graham. Was hat es mit dem Tanz und Ihrem Blick auf die Welt auf
sich?
BARBARA ALBERT: Ich hab‘ mich sehr gefreut, auf dieses Zitat bei Zadie Smith zu stoßen. Tanz bedeutet für mich Körper im Raum und Film ist
für mich auch ganz stark Körper im Raum, aber auch der Versuch, aus dem Raum, aus dem Frame auszubrechen. Ich finde es toll,
wenn Ursula Strauss in Böse Zellen tanzt und vergeblich versucht, aus dem Frame rauszukommen, weil sie in ihrem Leben gefangen
ist. Ich mag auch an Bildern von Marc Chagall wie er Körper im Raum platziert. Was ist Leben? Leben ist Bewegung und das heißt
Bewegung von Körpern im Raum. Was ich an der Energie des Tanzes so mag, ist, dass sie irgendwo hingeleitet wird, dass sie
intellektuell nichts will und keinen Dialogsatz braucht. Es ist einfach nur Bild und Bewegung. Der Ausdruck geht nur über
den Körper. Ich finde es manchmal auch sehr befreiend, dass man nicht die Sprache als wichtigstes Element einsetzt, sondern
den Körper. Kino ist für mich in erster Linie Körper. Mehr als Talking Heads und Sprache. Dazu kommt auch die Freiheit. Bewegung.
Laufen ist ähnlich wie Tanzen für mich. Das Ausbrechen-Wollen und die Suche nach Freiheit. Ein sehr starkes, emotionales Motiv
für mich: der Wunsch des Menschen nach Freiheit.
Interview: Karin Schiefer
November 2023