Oskar träumt sich seine eigene Welt herbei. Er muss es tun, denn seine Wirklichkeit ist untragbar: sein Vater ist abgeschoben
und verschollen, seine Schwester Lilli wurde von ihm getrennt, seine Mutter ist wegen eines Suizidversuchs im Spital. In Ein bisschen bleiben wir noch findet Arash T. Riahi einen Erzählton zwischen kindlicher Verspieltheit und der Härte eines Flüchtlingsschicksals, das nur
noch eine Flucht nach Innen offen lässt.
Sie haben 2008 Ihren ersten Spielfilm Ein Augenblick Freiheit gedreht, seither Dokumentarfilme realisiert und zahlreiche Arbeiten für Kino und Fernsehen produziert. Was hat Sie als Autor
und Regisseur wieder ins fiktionale Erzählen zurückgelockt?
ARASH T. RIAHI: Nach der Fertigstellung von Ein Augenblick Freiheit haben wir die Golden Girls Filmproduktion 2008 auf eine neue rechtliche Basis gestellt, mit dem Ziel, unabhängig und mit
einer gewissen Freiheit Filme produzieren zu können. Wir haben vorwiegend Dokumentarfilme produziert, seit Karin C. Berger
in die Firma eingestiegen ist, vermehrt auch Spielfilme, ich habe aber nie aufgehört, Regisseur zu sein. Nach Ein Augenblick Freiheit sind drei Kinodokumentarfilme entstanden, zwei davon gemeinsam mit meinem Bruder Arman. Parallel dazu haben wir in den letzten
zehn Jahren mehrere Spielfilme produziert, deren Entstehen ich vom Drehbuch weg aus nächster Näher mitbegleitet habe. Wenn
man wie ich als kreativer Produzent arbeitet, bedeutet das, dass ich 20 bis 30 Versionen eines Drehbuchs lese, mit den Regisseur*innen
durch Dick und Dünn gehe und durch meine eigene Regieerfahrung auch einen anderen Blick auf das Projekt habe. Ich liebe das
kreative Produzieren aber mein Herz liegt dennoch eine Spur mehr bei der Regie und das hilft natürlich auch sehr beim Produzieren
von Filmen mit einer eigenständigen Handschrift anderer Regisseur*innen.
Die Geschichte von EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH, die auf dem Roman Oskar und Lilli von Monika Helfer beruht, begleitet mich schon seit sechs, sieben Jahren. Ich mochte den Roman sehr und mir wurde ein bereits
bestehendes Drehbuch angeboten, die Rechte des Romans lagen bei der WEGA Filmproduktion, die auch meinen ersten Spielfilm
produziert hatte. Das erklärt auch, warum ich diesen Film nicht selber produziert habe. Wir hatten bereits gute gemeinsame
Erfahrungen gemacht und es sprach nichts dagegen. Mich hat also nichts zum fiktionalen Erzählen zurückgeführt, genau genommen
war ich nie weg davon, ich hatte nur durch meine Produktionstätigkeit nicht genug Zeit, mich darauf zu konzentrieren. Seit
langem plane ich eine Trilogie über Flucht, wobei ich in jedem Teil einen anderen stilistischen Zugang wähle. EIN BISSCHEN
BLEIBEN WIR NOCH ist nun der zweite Teil. Für den dritten mit dem Titel Eine Herzensgeschichte gibt es schon ein Treatment. In Ein Augenblick Freiheit geht es um die bürokratischen Hürden, die es zu überwinden gilt; in EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH um die kindliche Gedankenwelt
und um die Strategien, wie man durch sein eigenes Verhalten seine Realität verändern kann, um sie überhaupt ertragen zu können
und im dritten Teil ist der Zugang ein intellektuell, reflexiver und wird es um die Verarbeitung von Flucht durch Kunst als
kathartisches Element gehen. Es wird ein Film im Film werden.
Welche Aspekte des Romans Oskar und Lilli haben dem Film seine Grundstruktur verliehen. Inwieweit musste der Film in die aktuelle
Situation in Österreich transferiert werden?
ARASH T. RIAHI: Der Roman stammt aus den neunziger Jahren und ist in keiner Weise politisch. Das bestehende Drehbuch von Monika Helfer habe
ich parallel zu meiner Produktionsarbeit weiterentwickelt. Ich wollte das Herzstück des Romans aufgreifen, wo zwei Kinder
von ihrer psychisch kranken Mutter getrennt und in unterschiedlichen Pflegefamilien aufgenommen werden, den Kontext aber politisch
gestalten. Die wunderbare Monika Helfer, war sehr kooperativ und hat mir die Freiheit gewährt, mit ihrem Material zu jonglieren,
Elemente hinzuzufügen oder umzustellen. Sie war mit dem Ergebnis sehr glücklich. Im Mittelpunkt von EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR
NOCH steht eine tschetschenische Flüchtlingsfamilie, die schon seit sechs Jahren in Österreich lebt, die Kinder können perfekt
Deutsch, ihre eigene Sprache haben sie beinahe vergessen. So wie es bei mir und meinen Geschwistern war, als wir aus dem Iran
nach Österreich kamen, Oskar ist etwa so alt wie ich damals war. Ich interessierte mich für die Frage, was mit den Familien
passiert, die abgeschoben werden. Eine Studie belegt, dass 60-70% der Kinder, die, nachdem sie bereits gut in ihrem Aufnahmeland
integriert waren, abgeschoben werden, psychisch krank oder drogensüchtig werden und auf der Straße landen, ihre Familien fallen
auch oft auseinander. Es gab auch einige echte Fälle, wie der Fall der aus dem Kosovo stammenden Familie Zogaj, die mich inspiriert
haben. Ich wollte dem nachspüren, wie die Kinder die Realität um sich wahrnehmen und versuchen, durch ihr Verhalten, das der
Menschen in ihrem Umfeld zu verändern. Die Romanvorlage barg da sehr viel Poesie, die ich aufgreifen konnte.
Oskar und Lilli haben eine beinahe unerträgliche Realität zu ertragen: Plötzliche Trennung vom Vater, der wahrscheinlich nicht
mehr lebt, von der Mutter, die in ihrer Verzweiflung einen Selbstmordversuch begeht. Dann werden die beiden noch in unterschiedlichen
Pflegefamilien untergebracht. Geht es Ihnen um den Umgang mit dem Unerträglichen und der möglichen Zuflucht in den Traum,
die Phantasie, das Spiel, das Ritual? Um den Zusammenprall von Realität und Phantasie?
ARASH T. RIAHI: Ich wollte weder einen phantastischen Film noch Traumwelten schaffen aber ich wollte einen Film, der immer wieder Momente
hat in denen Dinge passieren, die durch ihre fast märchenhafte Stimmung vielleicht nur in der Vorstellung vom Oskar passieren.
Die Zuschauer*innen sollten sich ab einem Zeitpunkt im Film nicht mehr ganz sicher sein. Aber alles was im Film vorkommt ist
theoretisch möglich, das habe ich recherchiert: z.B. um € 820,- in einem Luxushotel eine Nacht verbringen, jemanden aus einer
geschlossenen Anstalt entführen und natürlich auch die Realität um uns herum ganz anders als wir es gewohnt sind zu interpretieren.
Es besteht vielleicht auch eine Verbindung zu dem, wie es meine Eltern uns vorgelebt haben, mit der manchmal schier unerträglichen
Realität umzugehen. Meine Mutter hat, wenn etwas sehr Trauriges passiert war, künstlich zu lachen begonnen und hat ihr Umfeld
angesichts der Absurdität der Situation damit angesteckt. Das Lachen hat bewirkt, dass man den Schmerz überdeckt und überwindet.
Oskar hat sehr viel von dieser Strategie in sich und ich habe auch viel von meiner Sicht auf die Welt in seine Figur eingebaut.
Die Protagonist*innen von EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH sind zwei Kinder. Damit führen Sie etwas weiter, was Sie in Ein Augenblick Freiheit bereits in einer Episode realisiert haben und das Ihnen sehr liegt: Die Arbeit mit Kindern am Set, aber auch das Hineinversetzen
in ihre Gedankenwelten. In diesem Film bedeutete das ein Hineinfinden in die Welt eines Mädchens und eines Jungen, einer Jugendlichen
und eines Kindes. Wie haben Sie diese Herausforderung gelöst?
ARASH T. RIAHI: Ich habe mich zuerst sehr viel mit kindlichen Phantasien, Vorstellungen und Ängste und deren Überwindung beschäftigt. Dann
habe ich begonnen mir Ideen zur Visualisierung dieser Vorstellungen auszudenken. Vor dem Hintergrund der Frage „Wie können
unterschiedliche Menschen dieselbe Realität anders wahrnehmen und verändern?“, kam mir die Idee, dass die Kinder immer wieder
aus verschiedenen Alltagsgegenständen Dinge mit Gesichtern basteln könnten. Es schien mir eine passende, poetische Idee, mit
greifbar vorhandenen Dingen, ein Lächeln zu erzeugen. Oskar und Lilli schicken sich diese Gesichter übers Handy, um sich gegenseitig
aufzuheitern. Wenn man nichts mehr hat, dann bleibt oft nur noch der Humor, um die harsche Realität auszuhalten. Oskar spricht
z.B. davon, nach Argentinien ausgewiesen zu werden, weil er der Meinung ist, sie würden dort als Ausländer nicht auffallen
und außerdem wäre das Wetter so warm, dass das Leintuch der bettnässenden Schwester Lilli morgens bereits trocken wäre und
sie sich nicht mehr schämen müsste. Oskar weiß natürlich, dass das wohl alles nur in seiner Phantasie so gut klingt, aber
trotzdem kämpft er dafür, ernst genommen zu werden, denn theoretisch könnte er Recht haben. Ich mag es, wenn ich meiner Phantasie
freien Lauf lassen und mir absurde Assoziationsketten überlegen kann. Ich versuche immer, das Kind in mir am Leben zu erhalten.
Vielleicht gelingt es mir dadurch auch, gut mit Kindern zu kommunizieren und meinen Humor und meine eigene Denkweise ihrer
Vorstellung anzupassen.
Wie haben Sie Ihre beiden HauptdarstellerInnen gefunden und auf ihre Rolle vorbereitet?
ARASH T. RIAHI: In meinem letzten Spielfilm Ein Augenblick Freiheit waren die Kinder Nebenfiguren. Der Vorteil war, dass ich die Kinder im Schnitt reduzieren konnte, wenn sie nicht gut gespielt
haben. Bei EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH hatte ich es mit zwei Kindern zu tun, die praktisch in jeder Szene vorkommen. Dazu
kam, dass wir für den kleinen Sohn von Oskars Pflegeeltern auch ein Kleinkind, brauchten. Meine Schwester hat Zwillinge, die
zum Zeitpunkt des Drehs im perfekten Alter waren, einer von ihnen war sehr neugierig und abenteuerlustig. Ich habe im Laufe
der Jahre ein gutes Gefühl für Kinder entwickelt, nicht zuletzt dank unseres Dokumentarfilmes Kinders, wo wir uns über mehrere Jahre hinweg mit Kindern beschäftigt haben. Das Wichtigste ist, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet,
auf vieles eingeht und mit ihnen blödelt, aber auch eine Respektsperson für sie bleibt und klar macht, dass es Momente der
totalen Konzentration gibt. Ich wollte auch keine unlauteren Tricks anwenden, um die Kinder zum Beispiel zum Weinen zu bringen.
Es sollte alles aus dem Inneren der Kinder durch unsere Zusammenarbeit entstehen. Vor allem bin ich Martina Poel für die Betreuung
der Kinder und den langen Atem beim Casting sehr dankbar, denn bei jeder Förderabsage musste die Auswahl wieder verworfen
werden, da die Kinder bis zum Dreh zu alt gewesen wären. Außerdem hatte ich mit Christine Hartenthaler einen weiteren wunderbaren
Kindercoach an meiner Seite.
Wenn man mal Kinder gefunden hat, die expressiv und verspielt sind, die Rolle auch verstehen, dann geht es darum, mit ihnen
alles Mögliche auszuprobieren. Meine Arbeitsmethode ist zum Leidwesen der erwachsenen Schauspieler*innen die, dass ich immer
wieder während des Takes hineinrede, wenn etwas nicht hundertprozentig passt und die Kinder bitte, gleich eine andere Variante
des Textes auszuprobieren ohne, dass ich den Take abbreche. Für die Erwachsenen bedeutete das, dass sie immer wieder im Dialog
zurückspringen mussten was nicht immer einfach ist. Es war aber der einzige Weg, aus den Kindern das Optimum herauszuholen,
ohne dass sie die Motivation und den Ehrgeiz verloren, es richtig zu machen. Bei den Szenen mit dem Baby musste der erste
oder zweite Take klappen, sonst wurde der kleine Simon unruhig. Wir haben immer mit zwei Kameras gedreht, damit wir auf alle
Fälle genug Material hatten. Einfacher war es da bei den Szenen, wo er weinen musste. Dafür genügte es, ihn in den Kindersitz
zu setzen!
Ein großer Teil der Handlung spielt in Wohnungen, ein sehr präsentes Motiv sind Bilder von Wohnanlagen und Wohnsiedlungen.
Wie zentral ist das Thema des Daheimseins, des Zuhauses, des Geschützt-Seins?
ARASH T. RIAHI: Den Wunsch nach einem Dach über dem Kopf haben wir auch versucht, visuell zu verarbeiten. Da gerade bei Oskar dieser Wunsch
so stark ausgeprägt war, haben wir Räume gesucht oder so umgebaut, das sie auch von innen heraus den Eindruck von einem Dach
über dem Kopf erwecken. Sein Klassenzimmer befindet sich im letzten Stock unter dem Dach, in seinem Kinderzimmer haben wir
einen Giebel über seinem Bett eingebaut, der wie ein halbes Dach über dem Kopf aussieht. Das Thema des Zuhauses ist natürlich
auch sehr mit dem Flüchtlingsthema verbunden. Freilich kann man sagen: „schon wieder ein Film zur Flüchtlingsproblematik“
aber das könnte man bei jedem anderen Genre auch sagen: „schon wieder ein Film über das Dritte Reich...schon wieder ein Krimi...schon
wieder eine Liebesgeschichte...“. Migration und Klimawandel sind einfach die großen Themen unserer Zeit. Auch wenn ich (obwohl
ich selbst ein Flüchtlingskind bin) dieses Thema manchmal schon mehr als satt habe, ist es mir dennoch ein Anliegen, darüber
immer wieder Geschichten zu erzählen, weil sie helfen ein Bewusstsein zu schaffen, auch darüber wie unterschiedlich man mit
dem Thema umgehen kann. Deshalb habe ich den Film auch stilistisch anders angelegt als meinen letzten Spielfilm und kein klassisches
Flüchtlingsdrama gemacht. Ich finde es ist an der Zeit, Flüchtlingsgeschichten zu erzählen, die nicht nur Opfergeschichten
sind und die auch nicht nur das Elend zeigen, sondern auch die freudigen Momente, die speziell Kinder auch immer wieder erleben.
Das weiß ich auch aus eigener Erfahrung. Ich wollte diesmal auch Protagonist*innen in einer Situation beschreiben, in der
man die anstehenden Probleme mit Bürokratie nicht mehr lösen kann. Wie will man denn einer Familie, die seit mehr als sechs
Jahren in Österreich lebt und plötzlich abgeschoben werden soll, erklären, dass sie von Gesetzes wegen plötzlich kein Recht
haben, hier zu leben? Ein System teilt einem Kind, das mit zwei Jahren nach Österreich gekommen ist und sich eingelebt hat,
mit, dass es zurück in ein zerrüttetes Land muss, an das es sich nicht einmal erinnert. Für diese komplexe Frage, auf die
es keine administrative, sondern nur eine humanistische Antwort gibt, habe ich mich interessiert. Ein erfindungsreiches Kind
wie Oskar kann, wenn er hier gut umsorgt aufwächst, als Erwachsener einen wunderbaren Beitrag zu einer fröhlichen und diversen
Gesellschaft leisten. Wenn man ihn eben lässt.
Einige wenige Sequenzen sind farblich erkennbare Traum- oder Erinnerungssequenzen; das Ende des Films könnte Realität, aber
auch Phantasie sein. Wie wollten Sie mit diesen verschiedenen Sphären umgehen und sie merklich oder auch unmerklich ineinander
verfließen lassen?
ARASH T. RIAHI: Es gibt im Film eine Sequenz, wo man den Song von Zarah Leander Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen im Hintergrund hört. Bis zum Ende des zweiten Drittels des Films zeige ich Oskar und Lilli in ihren jeweiligen Welten – Lillis
Blick auf die Welt ist eher kühl und pessimistisch, während Oskar ein maßloser Optimist ist, der nicht aufgibt und negative
Dinge überhaupt nicht akzeptieren will. Im letzten Drittel wollte ich einen Punkt, ab dem die Geschichte in eine magisch-poetische
Ebene gleitet, in der alles was passiert, theoretisch möglich wäre, aber auch gleichzeitig tagträumerische Elemente in sich
birgt, die logisch nicht ganz erklärbar sind. Alles, was man im letzten Drittel sieht, ist theoretisch möglich aber vielleicht
nicht sehr wahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es eine über den Film aufgeteilte Traumsequenz, in der man die Familie in einer
vom Krieg zerstörten Szenerie sieht. Ausgehend von dem, was ich in einer UNHCR Studie über das Schicksal der ausgewiesenen
Kinder erfahren habe, habe ich mir darüber Gedanken gemacht, wie ich vermitteln kann, was die Kinder im Falle einer Abschiebung
erwartet. Die Idee von Flashbacks oder Szenen von der Flucht nach Österreich habe ich verworfen. Es schien mir konsequenter,
eine Traumsequenz zu entwerfen, die alle Ängste dieser Kinder mit der zu erwartenden Realität dort vereint. Ängste, dass sie
von der Gesellschaft dort nicht mehr akzeptiert werden, keine Zukunftsperspektiven haben, die Sprache nicht mehr verstehen
können. Es ist ein Traum, in dem Zukunft, Vergangenheit und das Jetzt zugleich vorhanden sind.
Enzo Brandners Bilder zeigen die Welt manchmal aus Augenhöhe der Kinder, manchmal betrachtet er sie von oben, manchmal steht
die Welt Kopf. Was war Ihnen in der Bildgestaltung ein wichtiges Anliegen?
ARASH T. RIAHI: Ich schätze an Enzo Brandner, dass er ein Abenteurer ist und das Kind in sich nie verloren hat. Er kommt voller Energie ans
Set, spielt auch mit den Kindern und ist am Ende des Drehtags immer noch voller Energie. Er gibt alles. Außerdem ist seine
Arbeit mit der Handkamera großartig und er hat einen Sinn für poetische und seltsame Sachen. Die Herausforderung war die,
dass sehr viel in Innenräumen gespielt hat. Da war die Frage, wie es in dieser Drehsituation zu schaffen ist, eine poetische
Sprache zu finden, magische Elemente hineinzubringen und die visuelle Entsprechung der verkehrten Realitäten, der Welten,
die man auch anders betrachten kann, zu finden. Es gibt Sequenzen, wo sich die Kamera um die eigene Achse dreht und wir durch
diese Perspektivenverschiebung etwas plötzlich mit anderen Augen sehen. Zum Beispiel in einem Moment, indem die beiden von
ihrer Mutter getrennt werden und die Welt für sie buchstäblich auf dem Kopf steht, glaubt man zunächst, dass die Kinder auf
der Flucht vor der Polizei das Stiegenhaus hinunterlaufen, da sich die Kamera aber dreht, merkt man kurz darauf, dass sie
eigentlich die Stiegen hinauflaufen. In einem anderen Moment schreibt Oskar im Badezimmer seiner Mutter einen Brief und währenddessen
dreht sich die Kamera um 360% und die Badezimmer-Armatur wird durch den anderen Betrachtungswinkel zu einem Ding mit Gesicht.
Aus Ihrem ersten Spielfilm geht die Freiheit und ihr fragiles Fundament als eines der wesentlichen Motive hervor, das auch
in EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH bestimmend ist. Das Handeln von Oskar, Lilli und ihrer Mutter verweist auch auf eine dokumentarische
Arbeit von Ihnen – Everyday Rebellion und das Thema des gewaltlosen Widerstands. Sehen Sie darin die beiden thematischen Pfeiler Ihres Erzählens/Ihrer künstlerischen
Arbeit?
ARASH T. RIAHI: Ja, ich denke, das kann man so sagen. Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben ist ein wichtiger Punkt. Und die gewaltlose
Form, die Welt zu verändern, ist gewiss ein Thema, das mich immer begleiten wird. Wenn ich aber an die Ermordung des iranischen
Generals Suleimani vor wenigen Tagen denke, steht man natürlich auch vor den verfänglichen Fragen, die auch die fragilen Grenzen
des Konzepts des gewaltlosen Widerstandes zeigen – Ist das was passiert ist gut oder schlecht? Ist die Ermordung eines Massenmörders
legitim und vielleicht der einzige Weg, ihn los zu werden? Oder gibt es einen alternativen, friedlichen Weg derartige Menschen
für ihre Taten zu bestrafen?
Was auffällt, ist die Heuchelei in der Inszenierung nach seinem Tod, wenn man bedenkt, dass vor kurzem bei Protesten im Iran
1500 Menschen getötet worden sind. Angehörige dieser Menschen müssen oft sogar für die Freigabe des Leichnams eines Familienmitglieds
bezahlen! Das Grauen geht so unfassbar weit mit dem Ziel, die Menschen zu erniedrigen und zu brechen, dass sie aufgeben. Wie
kann man so einem System entgegnen? Totalitäre Systeme, aber auf einer subtileren Ebene auch manche Mechanismen in den Demokratien
schaffen es, den Menschen die Unschuld zu nehmen. Hat man jemanden einmal verletzt, dann ist der Weg nicht weit, es wieder
zu tun. Und so dreht sich eine Spirale immer weiter. Wenn ein System es schafft, dass die Menschen eine Schwelle überschreiten
und ihnen dafür zum Beispiel durch Religion die Absolution erteilt wird, dann werden moralische Prinzipien ausgehebelt. Anders
lassen sich die Verbrechen, die im Namen verschiedener Religionen oder Ideologien gemacht werden nicht erklären. Und um jetzt
wieder zu EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH zurückzukehren: Auch da geht es um den Verlust der Unschuld bei den Kindern. Während
Lilli kurz davor ist, dadurch die Hoffnung zu verlieren, hält Oskar mit aller Kraft dagegen. Er ist sich der Kehrseite der
Medaille bewusst und die gefällt ihm nicht. Das ist vielleicht eine verklärte Sicht eines Kindes, aber gleichzeitig auch ein
Überlebensmechanismus. Jeder von uns kennt das. Das Verlieren der Unschuld bei den Kindern verweist auf das Verlieren der
Unschuld in der Gesellschaft auf Seiten der einheimischen Bevölkerung, die mit Vorurteilen und Klischees so lange bombardiert
wird, bis diese Vorurteile auch ein Teil ihres Narrativs geworden sind, obwohl diese Menschen ursprünglich gar nicht fremdenfeindlich
veranlagt sind. Ihre Ängste werden so lange geschürt, bis selbst gut meinende Menschen skeptisch werden und ihre ursprünglich
menschenfreundliche Haltung nicht mehr konsequent durchziehen.
EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH erzählt von der bedrohten Freiheit und der (selbst-) auferlegten Unfreiheit in unserem „freien“
Leben. Ist der Film auch ein Appell zur Wahrnehmung unserer Freiheit und sie anders zu nutzen?
ARASH T. RIAHI: Wir Menschen, die wir in europäischen Demokratien leben, sind verwöhnt und uns oft nicht wirklich bewusst, was wir haben.
Wir leben am besten Platz der Menschheitsgeschichte, in einem Europa, das die Menschenrechte achtet und deren Staaten als
Demokratien regiert werden. In Wahrheit leben wir im Paradies. Deshalb ist es für Menschen wie mich, der ich mit meinen Eltern
vor einem Terrorregime geflohen bin, völlig unverständlich, wie in Europa so viele populistische und rechte Parteien so stark
werden konnten und wie aus einer derartig wohlhabenden, offenen Gesellschaft immer mehr eine Neidgesellschaft entsteht. Ein
Grund dafür ist vielleicht zu viel Rücksichtnahme auf Political Correctness und die Gleichbehandlung aller Freiheiten. Ich
finde, zum Beispiel, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Gleichbehandlung von Frauen und Minderheiten über dem
Recht der freien Religionsausbildung steht. Es kann nicht sein, dass man im Dienste der politischen Korrektheit rückständige
Verhaltensweisen als unverrückbare „kulturelle Gegebenheiten oder Traditionen“ akzeptiert. Jede Kultur und jeder Brauch, der
auch nur im Geringsten die Menschenrechte mit Füßen tritt, muss seine oft jahrhundertalte Tradition entweder an unsere Zeit
anpassen oder sie muss bekämpft werden. In dem Punkt vertrete ich vielleicht einen radikalen Standpunkt, aber oft rühren die
Probleme in Demokratien daher, dass Probleme zu lange verschwiegen worden sind, weil man niemanden verletzen wollte und gehofft
hat, dass sich vieles von selbst lösen wird. Der Film ist vielleicht auch ein Plädoyer für mehr Zwanglosigkeit, mit all den
Normen und Dogmen unseres Alltags umzugehen und sich auf dieser Ebene dann und wann eine kleine Freiheit zu gönnen. Im Film
kann der kleine Oskar nicht verstehen warum er nicht Vegetarier sein kann, der auch Fleisch isst! Denn wer als Vegetarier
manchmal auch ein Stück Bio-Fleisch isst, wird für ihn damit noch lange nicht den Klimawandel zu verantworten haben!
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2020